Interview mit Dr. Wolf
„WIR WOLLEN UNS NICHT MEHR AUSPRESSEN LASSEN WIE EINE ZITRONE“
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Präsenzerlebnisse können nur durch den Körper vermittelt werden, es ist nie das Gehirn.
Und wie funktioniert dann die Präsenztherapie?
Einerseits mache ich den Patienten auf Präsenzmomente aufmerksam, die er hatte, bevor er depressiv wurde. Momente, in denen er sich verbunden fühlte, in denen die Zeit verflog. Oder Flow-Elemente im Sport. Er erinnert sich an diese Momente und stellt fest, dass er sie seit 20 Jahren nicht mehr hatte. Und dann stellen wir mit verschiedenen Techniken diese Präsenzerlebnisse wieder her. Damit er sie mal wieder erlebt, sie konserviert. Und damit er lernt, kommende Präsenzerlebnisse zuzulassen.
Andererseits entstehen auch bei meiner Arbeit als Therapeut mit dem Patienten, in dieser Beziehung, Präsenzmomente. Das kann man ansprechen. Nicht interpretieren, aber sagen „Jetzt ist so ein Moment, haben Sie das gemerkt?“
Wichtig ist, dass es mit der erweiterten Sporttherapie ergänzt wird.
Wie sieht eine Sportstunde aus, die nicht leistungs- sondern präsenzbetont ist?
Präsenz entsteht viel leichter in der Sporttherapie, weil es da um den Körper geht. Präsenzerlebnisse können nur durch den Körper vermittelt werden, es ist nie das Gehirn. In der klassischen Sporttherapie messe ich nur die physiologischen Daten des Patienten, rate ihm, seinen Puls zwischen 130 und 140 zu halten und nach 20 Minuten eine Pause zu machen. Das machen wir auch, aber der Präsenzeffekt bedeutet, ich bringe ihm bei, das zu spüren. Er soll nicht, wie Chris Froome, ständig auf seinen Tacho gucken, sondern in sich hineinspüren. Er soll lernen, dass dieser Bereich, in dem er sich physiologisch richtig verhält, sich gut anfühlt. Und wenn er eine Pause macht, dann irgendwo im Wald. Er findet einen Punkt, an dem er sich hinsetzt, entspannt und merkt, dass er ganz eins ist mit dem Außen. Ein naturtherapeutischer Aspekt.
Sie bieten auch Körpertherapie an, wo liegt der Unterschied zur Sporttherapie?
Die Körpertherapie geht ganz nah an die Psychologie. Der Patient erinnert sich beispielsweise an Kindheitserlebnisse und spürt unter Übungen seine Gefühle im Körper – also Aggression, Trauer, solche Dinge. Mit körpertherapeutischen Techniken kann man ihn so behandeln, dass er auch wieder die positiven Aspekte seines Körpers fühlt.
Was nehmen die Patienten aus diesen Sitzungen mit?
Ein Traumatisierter beispielsweise soll seine Aggression nicht gegen sich richten, sondern Grenzen setzen. Wie muss sich der Körper dafür aufstellen, wie fühlt sich das an? Wie gerade und stark und nach vorne präsent muss der Körper sein, um eine Grenze zu setzen?
Und wie kann Ernährungstherapie präsenzbetont sein?
Studien zeigen, dass eine modifizierte mediterrane Ernährung antidepressiv wirkt. Die kombinieren wir mit der Sporttherapie, ganzheitlich. Denn wenn ich meine Ernährung umstelle, fühlt sich mein Körper anders an. Das kann ich verankern. Damit ich nicht andauernd denke „Ich will unbedingt Kuchen“, weil mein Körper danach cravet. Sondern dass ich mehrfach die Erfahrung gemacht habe, dass es mir guttut, Sport zu treiben und einen Salat zu essen.
Ende des Jahres eröffnen Sie zwei weitere Kliniken, Schloss Freudental mit dem Schwerpunkt Suchterkrankungen und Schloss Tremsbüttel mit einer Jugendlichen-Station. Geht man an Patienten mit anderen Erkrankungen im Sinne der Präsenztherapie anders heran? Oder kann man sagen, der Ansatz der Präsenztherapie funktioniert für alle?
Die funktioniert für alle, ja. Weil sie sogar für den Gesunden funktioniert. Sie funktioniert für jeden europäisch geprägten Menschen.
Sind noch weitere Kliniken geplant?
Ja, eine Reihe von Kliniken, die sowohl Privatpatienten, aber auch gesetzlich Versicherte aufnehmen und behandeln. Und wir wollen alle Störungsbereiche abdecken.
Derzeit können Sie nur Privatversicherte aufnehmen.
Meine größte Vision ist, zu zeigen, dass eine Investition in hohe Qualität und Personal in der Erstbehandlung von Patienten zwar am Anfang teurer ist, aber am Ende sehr viel Leid und Geld spart. Und dass das auch für gesetzlich Versicherte zugängig sein sollte. Wir sind mit einigen Kassen in Kontakt, die den Ansatz interessant finden. Meine Hoffnung ist, dass sich das verbreitet.
Wie beweist man, dass ein Therapieansatz sich lohnt?
Wir arbeiten eng mit Universitäten zusammen – mit der Sporthochschule in Köln, dem UKE in Hamburg, mit Berlin, München und so weiter. So zeigen wir, dass wir nicht Chichi machen, sondern dass es Hand und Fuß hat. Und den Paradigmenwechsel haben wir, das kommt sowieso. Wir beschleunigen das vielleicht, fassen es in Begrifflichkeiten. Machen es nutzbarer für uns Menschen. Aber verhindern kann man es nicht mehr.
Die Menschen gingen mit den ersten Kontaktbeschränkungen letztes Jahr wieder mehr in die Natur, pflanzten Dinge an, kochten selbst. Beschreibt das diesen Paradigmenwechsel?
Ganz genau. Ich erinnere mich an früher, als ich noch Student war. Da hatten Geld und Erfolg viel mehr Bedeutung. Das hat sich gewandelt: hin zu mehr Familie, Emotionen, Leben. Wir wollen uns nicht mehr auspressen lassen wie eine Zitrone. Gott sei Dank.
Das Interview führte Gesa Van Hecke.
Einen Bericht über Schloss Gracht finden Sie in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2021 auf Seite 89.
Über Dr. Karsten Wolf
Dr. Karsten Wolf ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit einem Fokus auf psychodynamischer Psychiatrie, Sexualtherapie und Emotionsforschung. Auch auf Kinder- und Jugendpsychiatrie ist er spezialisiert.
Drei Jahre lang war er Oberarzt für Psychatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, dann Klinikdirektor der Klinik Marienheide, nun ist er Ärztlicher Leiter von Schloss Gracht. Er behandelt Patienten mit Depression, Burnout, Angst- und Zwangsstörungen, Trauma-Folgeerkrankungen, dissoziativer oder bipolarer Störung.
Die Dr. Karsten Wolf AG betreibt eine Reihe von Spezialkliniken, Schloss Gracht war die erste davon.
Dr. Wolf ist verheiratet und hat zwei Söhne.
„„Wir wollen uns nicht mehr auspressen lassen wie eine Zitrone“”