Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn
HEDONISMUS
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In vielen Kulturen gibt es eine schon lange gelebte Tradition, die uns eine Vielfalt von Ideen schenkt: Den Hedonismus, also das gezielte Streben nach Glück, Genuss‚ Freude, Vergnügen, Lust, sinnlicher Begierde - vor allem angesichts der Tatsache, dass dieses Leben nur eine endliche Zeitspanne währt. Das haben schon die alten Griechen erkannt. Der wohl wichtigste Vertreter des Hedonismus war der 341 vor Christus auf der Insel Samos geborene Epikuros. Seine Theorie von der Lust als das höchste Gut entwickelte er vermutlich in einer Zeit, in der seine Familie großen Entbehrungen ausgesetzt war – der Hedonismus war also auch damals schon eine Ausgleichreaktion.
Epikur sah in der Lust das Prinzip des „gelingenden Lebens“. Für ihn war Ataraxie, also die völlige Seelenruhe, die höchste Form der Lust, da sie ein Zustand sei, der vollkommen frei von Schmerz und Leid ist. Die Epikureer waren keinesfalls dafür, dass die Lust uneingeschränkt ausgelebt werden sollte. Vielmehr müsse es sich um eine „wirkliche Lust“ handeln und die Folgen des Handelns sollten immer bedacht werden. In unserer Alltagssprache wird der Begriff „Lust“ in erster Linie mit Sinnesfreuden in Verbindung gebracht. Damit kann man alle Arten von positiven oder angenehmen Erfahrungen einschließen, einschließlich der Lust am Sport, dem Anblick eines Sonnenuntergangs oder dem Lesen eines Buchs.
Heutzutage müssen wir vor allen geplanten Aktivitäten als erstes einige grundlegende Prüfungsfragen bestehen: Ist es klimaneutral, ist es politisch korrekt, ist es gendergerecht, vegan, ist es Corona-konform …? Was bereitet einem da noch Genuss? Während der ethische Hedonismus Lust als das höchste Gut bewertet, versteht man unter dem „psychologischen Hedonismus“ die Annahme, dass Lust das vorrangige Ziel des Menschen ist und er danach sein Verhalten ausrichtet. Er besagt, dass alle unsere Handlungen darauf abzielen, Lust zu erhöhen und Schmerzen zu vermeiden. Dies wird oft als eine egoistisches Motivation, nur sein eigenes Glück zu vermehren, verstanden. Hedonistischer Genuss ist eine Kunst.
Es geht darum, wie man kunstvoll genießt, ohne dass Langeweile oder Abstumpfung entstehen. Kürzlich las ich in einem Artikel, wie die Norweger durch das Winterhalbjahr kommen, das ja auf Höhe des Polarkreises nicht nur durch ziemlich viel Kälte, sondern auch durch ziemlich viel Dunkelheit gekennzeichnet ist. Darin stand zum Beispiel: sich auf das Durchgefroren-nach-Hause kommen zu freuen, weil dort ein Tee, ein gemütlicher Sessel, angenehme Beleuchtung beim Lesen zu leiser Musik wartet. Nicht die Abwesenheit von Erdbeeren zu beklagen, sondern die Vorfreude auf den Duft frisch gerösteter Maronen.
In Summe: den grauen Alltag durch kleine Rituale des konkret erreichbaren Genusses und – ganz wichtig – auch der Vorfreude darauf bunt zu gestalten. Der Hedonismus hat viele Gesichter, die es lohnt zu entdecken. Sei es, Musik zu hören, wandern zu gehen, gute Texte zu lesen, Erkenntnisse gewinnen, sich dem ästhetischen Genuss hinzugeben… so hat es mir Genuss bereitet, Ihnen diesen Text zu schreiben, und ich bin sicher, dass auch Sie bereits weitere Ideen haben, wie Sie Ihre eigenen genussvollen Momente gestalten werden.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/2021 auf Seite 12.
Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP. www.zip-kiel.de