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Psychische Störungen

EINEN TIC ANDERS

Unangebrachte Bewegungen, abschreckende Obszönitäten oder unverständliche Laute entladen sich blitzartig und zwanghaft aus den Betroffenen. Die Krankheit führt häufig zu sozialer Ablehnung.

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Bei dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom handelt es sich um eine neuropsychiatrische Störung. Sie beginnt im Kindesalter, verläuft chronisch und kennzeichnet sich durch motorische und vokale Tics.

Dies sind rasche, wiederholte, nicht rhythmische Lautproduktionen oder Bewegungen. Die Muskeln führen ein Eigenleben und es kommt zu unkontrollierter Aktivität. Häufig stoßen Patienten Töne, Schimpfwörter oder wüste Flüche aus.

In der Regel geht dem Anfall ein unangenehmes Vorgefühl voraus. Geplagte erkennen daran, dass ein Tic folgt. Nach dem Ausbruch lässt diese Empfindung wieder nach. Im Grundschulalter auftretende Krankheitsanzeichen sind meist von geringerer Ausprägung und fallen somit kaum auf.

Die Kleinen beginnen zu blinzeln, verziehen die Mundwinkel oder zucken mit den Schultern. Insgesamt kann der Grad der Störung zwischen Betroffenen individuell variieren.

Einteilung der Beschwerden in vier Kategorien 

  • Einfache motorische Tics sind kurze, ruckartige Bewegungen wie Augenblinzeln, Grimassieren, Stirnrunzeln. Sie betreffen nur wenige Muskelgruppen.
  • Einfache vokale Tics machen sich durch Schmatzen, Grunzen, Räuspern, Schniefen oder Zungeschnalzen bemerkbar.
  • Komplexe motorische Tics betreffen verschiedene Muskelgruppen. Dazu gehören Kopropraxie (Ausführung obszöner Gesten), Echopraxie (Imitation der Bewegungen anderer Personen), Palipraxie (Wiederholung eigener Bewegungen), Berührung von anderen Personen oder Gegenständen, Springen, Klatschen oder autoaggressives Verhalten.
  • Zu den komplexen vokalen Tics gehören Koprolalie (Ausstoßen obszöner Worte), Palilalie (Wiederholung der selbst gesprochenen Worte), Echolalie (Wiederholung von gehörten Worten), Sprechen von zusammenhanglosen Sätzen oder allgemein das Ausrufen von sozial inadäquaten Worten.

Das ICD-10 listet das Tourette-Syndrom unter die Ticstörungen als F95.2. Benannt wurde das Leiden nach dem französischen Arzt Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette (1857 bis 1904). Er veröffentlichte die erste Fallserie dieser Erscheinung.

Man vermutet für die Störung eine weltweite Prävalenzrate von etwa einem Prozent. Jungen und Männer scheinen häufiger tangiert zu sein. Bei den meisten Personen bestehen neben den Tics auch weitere psychiatrische Symptome. Kinder leiden oft begleitend an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Erwachsene zeigen oft Zwangssymptome, Depressionen und Schlafstörungen.

Stigmatisierung häufig Peinlich ist es, wenn man plötzlich während des Theaterbesuchs obszöne Worte ausruft oder beim Einkaufsbummel unerwartet andere Spaziergänger beschimpft. Die Tics sind in der Öffentlichkeit besonders problematisch, weil sie auf Andere absonderlich und teilweise sogar provozierend wirken.

Viele Leute haben für solch ein befremdliches Verhalten kein Verständnis. Menschen mit Tourette-Syndrom stoßen daher im Alltag häufig auf Ablehnung. Oft wird von Außenstehenden angenommen, dass es sich bei den Tics um Marotten handelt, die durch Willensstärke unterdrückt werden können. Doch die Verhaltensweisen sind unwillkürlich, treten meist plötzlich auf und finden zudem in einem unangemessenen Kontext statt. Sind die Aussetzer nur schwach ausgeprägt und daher nicht sozial auffällig, so ist der Leidensdruck der Patienten geringer. Manchmal gibt es Phasen über Wochen oder sogar Monate, in denen die Symptome ausbleiben können.

Hilfe für Erkrankte Bis zur Diagnose vergehen häufig Jahre, denn für Ärzte ist es nicht einfach, die Störung zu erkennen, da es keine spezifischen Untersuchungen gibt. Stattdessen ist der Mediziner darauf angewiesen, dass Betroffene ihr Leiden präzise beschreiben. Bei Verdacht ist eine differentialdiagnostische Abklärung zu Krankheiten wie zum Beispiel Zwangshandlungen oder allgemeine Hyperaktivität von großer Bedeutung.

Eine Heilung ist nicht möglich. Auch eine kausale Therapie existiert nicht. Für Geplagte und Angehörige ist die Diagnose schon einmal eine erste Entlastung. Insbesondere bei Kindern hat die Aufklärung durch Bezugspersonen wie Lehrer, Eltern und Erzieher einen hohen Stellenwert, denn durch Hänseleien erleben die Sprösslinge die Tics als noch bedrückender.

Kommt es im Verlauf zu starken Beeinträchtigungen, sollte eine medikamentöse Therapie in Erwägung gezogen werden. Zu den Wirkstoffen erster Wahl zählen Dopaminantagonisten. Haloperidol ist als einzige Substanz in Deutschland zur Behandlung des Syndroms zugelassen, wird allerdings aufgrund der gravierenden Begleiterscheinungen kaum noch verwendet. Daher erfolgt in der Regel eine so genannte Off-Label-Behand-lung mit atypischen Neuroleptika. Gängige Wirkstoffe sind Tiaprid, Risperidon und Aripiprazol. Die schlechte Studienlage lässt derzeit keine eindeutige Empfehlung zu.

Meist ist auch eine Verhaltenstherapie indiziert. Dabei erlernen die Patienten eine alternative Handlung, die beim Aufkommen eines Tics „ersatzweise“ durchgeführt werden soll. In schweren Fällen kann eine tiefe Hirnstimulation Linderung schaffen. Neben diesen Maßnahmen wirken sich auch Entspannungsübungen oder Anti-Stresstraining positiv auf den Prozess aus. Für viele Betroffene ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe sinnvoll.

ZUSATZ-INFORMATIONEN

Mögliche Ursachen
Bildgebende Untersuchungen konnten hirnorganische Auffälligkeiten feststellen, die im Zusammenhang mit der Erkrankung stehen. Zum Beispiel soll das limbische System im Gehirn beteiligt sein. Auch der dopaminerge Apparat nimmt einen entscheidenden Einfluss auf die Ticstörung. Darüber hinaus scheint der Transmitter Serotonin eine Rolle zu spielen.
Bedeutsam ist eine genetische Komponente beim Auftreten des Tourette-Syndroms. Besonders Verwandte ersten Grades haben ein hohes Erkrankungsrisiko. Ferner tragen Umweltfaktoren zu der Entwicklung des Syndroms bei.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 06/13 ab Seite 84.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin (FJS)

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