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Politik

DERZEIT NICHT VERFÜGBAR

Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind mitnichten eine Begleiterscheinung von Corona. allerdings scheint das Virus das Lieferproblem zu verschärfen. Nun wollen sich manche Krankenhausapotheken unabhängiger machen von den globalen Lieferketten.

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Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) bereitet sich wegen drohender Arzneimittel-Engpässe in der Corona-Krise auf die Eigenherstellung wichtiger Arzneimittel für die Behandlung von COVID-19-Patienten vor. Denn mit den vorhandenen Arzneimitteln komme das Krankenhaus im besten Fall drei Monate aus, befürchtet Baehr: „Wenn es eine weitere Welle gibt, werden wir mit unseren Vorräten auch ganz schnell ins Minus laufen.“ Das möchte der Chef-Apotheker aber auf jeden Fall vermeiden.

Bereits beim Lieferengpass-Jour-fixe des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) war am 9. April 2020 eine Taskforce eingerichtet worden, bestehend aus den Organisationen ADKA (Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker), AMK (Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker), BfArM, DKG (Deutsche Krankenhaus Gesellschaft), Pro Generika (Interessenverband der Generica- und Biosimilarunternehmen in Deutschland) und AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften). Sie soll Maßnahmen erarbeiten, um intensivmedizinische Versorgungsprobleme zu vermeiden.

Konkret wollte man sich bei etwa 20 für die intensivmedizinische Versorgung relevanten Wirkstoffen abstimmen und eine belastbare Wirkstoffliste erstellen. Relevante Wirkstoffe sind demnach unter anderem Propofol, Midazolam, Morphin, Meropenem, Norepinephrin und Atemkalk. Dies sind alles Wirkstoffe, die für die Behandlung von COVID-19-Patienten, die beatmet werden müssen, benötigt werden. Sie wirken unter anderem auf den Kreislauf, gegen Schmerzen sowie für die Betäubung und Sedierung der Intensivpatienten. Atemkalk dient in Beatmungsgeräten zur Bindung von Kohlendioxid in der Ausatemluft.

Es hätte schlimmer kommen können Deutschland ist bislang mit einem blauen Auge durch die Coronakrise gegangen. „Wenn das alles stabil bleibt, muss sich kein Mensch Sorgen machen“, sagt Michael Baehr. Doch er fürchtet, dass die jüngsten Lockerungen die Situation verschärfen könnten. Zumindest kann das UKE zur Not wichtige Arzneimittel selbst herstellen: „Wir haben hier Gott sei Dank immer noch Anlagen, mit denen wir auch sterile Arzneimittel herstellen können“, erklärt der Apotheker. Zahlreiche Apotheken hätten sie vor Jahren aus Spargründen abgeschafft, während andere Klinikapotheken, darunter das UKE, mit Blick auf einen möglichen Katastrophenfall um ihren Erhalt gekämpft hätten.

Die Kapazitäten der Arzneimittelherstellung seien derzeit noch begrenzt. Den Umfang müsse die Politik nun schnell und unbürokratisch erhöhen. Die Apotheken brauchen nach Ansicht von Baehr „Lockerungen von rechtlichen Fesseln und Unterstützung in der Beschaffung von Substanzen“. Für den Zeitpunkt nach der Krise hofft Baehr, dass Politik und Kliniken aus den Ereignissen die richtigen Schlüsse ziehen.

Neuer Arzneiversorgungsvertrag zwischen vdek und DAV abgeschlossen

Die Apotheke muss bei Lieferengpässen von Arzneimitteln künftig nur noch einen statt bislang zwei Großhändler anfragen, bevor sie ein vorrätiges Alternativmedikament an den Patienten abgeben darf. Bei Nichtverfügbarkeit eines Präparats darf die Apotheke nach Rücksprache mit dem Arzt auch die Packungsgröße und die -anzahl ändern, um den Versicherten sofort versorgen zu können.

EU geht mit Milliardenpaket Arznei-Engpässe an Zur Sicherung der Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten hat vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie tatsächlich einen hohen Stellenwert im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erreicht. Zur Sicherung der Arzneimittelversorgung strebt die EU keine Renationalisierung der Produktion an, sondern mehr Souveränität durch Diversifikation der Produktionsstandorte. Aus der ersten Pandemiewelle im Frühjahr, bei der es angesichts von Engpässen bei Schutzmaterialien zu Lieferverboten ins Ausland kam, hat man sehr schnell die Lehren gezogen und inzwischen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit deutlich verbessert.

Die Sicherstellung der Versorgung mit innovativen, patentgeschützten Arzneimitteln war in der ersten kritischen Phase der Pandemie zwischen März und Juni nie ein Problem gewesen, sagt der Präsident des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen, Han Steutel. Boehringer Ingelheim beispielsweise investiere „massiv“ in die europäischen Forschungs- und Produktionsstandorte, schwerpunktmäßig auch in Deutschland, betont die Leiterin des Deutschlandgeschäfts, Dr. Sabine Nikolaus. Dies, obwohl die Forschungsförderung in Deutschland bei weitem nicht das Niveau von Frankreich oder Österreich erreiche.

Ein beim BfArM konstituierter Beirat aller versorgungsrelevanten Stakeholder hat die Probleme laut Broich und Steutel inzwischen konkretisiert: Monopole, primär bei generischen Produkten aus asiatischer Produktion oder auch aus Italien – Beispiel Propofol –, gefährden bei Qualitätsmängeln in der Produktion oder unerwartetem Nachfrageanstieg die Versorgung. Dennoch: Nicht jeder der 270 aktuell festgestellten Lieferengpässe führe zu einem Risiko für die Versorgung, so Steutel. 22 Substanzen seien inzwischen vom Beirat als kritisch definiert worden. Primär dafür müsse nun aktuell an der Robustheit der Lieferketten gearbeitet werden. Dagegen erfordere der Aufbau einer Produktion in Europa einen Jahre dauernden Prozess.

Wo kann man sich informieren? Informationen zu Engpässen bei der Versorgung mit Arzneimitteln werden überwiegend über die einschlägigen nationalen Register bereitgestellt oder müssen von der zuständigen nationalen Behörde eingeholt werden. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA stellt eine Liste nationaler Register der EU- und EWR-Mitgliedstaaten mit Informationen über Arzneimittelengpässe in diesen Ländern bereit. Für Informationen über aktuelle Engpässe bei der Arzneimittelversorgung in der EU können Patienten und Angehörige der Gesundheitsberufe folgende Quellen heranziehen: einschlägige nationale Register; EMA-Katalog zur Arzneimittelknappheit; Websites der zuständigen nationalen Behörden.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2021 ab Seite 122.

Werner Hilbig, Apotheker und Journalist

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