Ein Säugling bei einer Routineuntersuchung beim Arzt.
Routinemäßige Exomscreenings könnten die Neonatalmedizin revolutionieren. © AndreyPopov / iStock / Getty Images Plus

Exomscreening | Früherkennung bei Neugeborenen

„DA SIND WIR WIRKLICH EIN ENTWICKLUNGSLAND“

Das Zauberwort für die Früherkennung von Krankheiten bei Neugeborenen heißt Exomscreening. Die USA sind uns in dieser Hinsicht voraus.

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Für ein „normales“ Neugeborenenscreening genügt in der Regel die labormedizinische Analyse einer Fersenblutprobe. Diese ist auf eine Reihe von seltenen Stoffwechselstörungen beschränkt, wie zum Beispiel Phenylketonurie oder Mukoviszidose. Weitaus genauer ist jedoch die Untersuchung des Exoms – das heißt, sämtliche Genabschnitte, die Proteine codieren. Die Aufwändigkeit der Untersuchung lässt hohe Kosten vermuten – doch infolge der derzeitigen Preisentwicklung bei den Sequenzier-Automaten könne das Exom-Screening in absehbarer Zukunft finanzierbar werden. Jedoch: In Deutschland würden Krankenkassen derzeit eine Exom-Sequenzierung nur in seltenen Ausnahmen zahlen, sagte Hans-Hilger Ropers, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin und Facharzt am Institut für Humangenetik der Universität Mainz.

Zu dem Screening wurde in den USA eine Studie namens „BabySeq-Project“ durchgeführt. Bei 159 Neugeborenen (darunter 128 gesunde Babys und 31 Patienten einer neonatalen Intensivstation) wurde das gesamte Exom sequenziert. Dabei wurden bei 9,5 Prozent der Kinder Gendefekte entdeckt, die bereits im Kindesalter zu Erkrankungen führen können.

Darunter fünf Gendefekte mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs der Erkrankung. Ein Kind mit Mutationen im Gen KCNQ4 könnte in der zweiten Lebensdekade eine Schwerhörigkeit entwickeln. Bei einem anderen könnte es wegen einer Variante im GLMN-Gen zu vaskulären Läsionen auf der Haut kommen, die bei Druck schmerzhaft sind. Bei anderen Kindern wurde ein möglicher Biotinidasemangel und eine kongenitale Nebennierenhyperplasie gefunden, für die es Behandlungsmöglichkeiten gibt.

Die übrigen Kinder wiesen Gendefekte mit niedrigerer Erkrankungswahrscheinlichkeit auf – beispielsweise Kardiomyopathien, Aortenstenosen oder ein hämolytisch-urämisches Syndrom. Diese Gendefekte führen nicht zwangsläufig zum Ausbruch der Erkrankung.

Bei drei von 85 Kindern (3,5 Prozent) wurden Risikogene für Erkrankungen im Erwachsenenalter (Brustkrebs, Darmkrebs) gefunden. Die Offenlegung von genetischen Risiken, die erst im Erwachsenenalter zur Erkrankung führen können, ist jedoch unter Medizinethikern umstritten. Sie sehen das Selbstbestimmungsrecht des Kindes verletzt, das als Erwachsener selbst entscheiden sollte, ob es darüber informiert werden möchte.

Für Deutschland heißt es: Es werden hierzulande etwa 20 000 Exome gänzlich sequenziert. Demgegenüber stehen drei bis vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung. „Da sind wir wirklich ein Entwicklungsland“, bilanziert Olaf Ries vom Universitätsklinikum Tübingen und ärztlicher Direktor des Instituts für medizinische und angewandte Genomik.

Ganz anders ist das in Großbritannien: Der Nationale Gesundheitsdienst National Health Service hat dort beschlossen, die Komplettentschlüsselung des Erbguts ab Oktober 2018 im Rahmen der genetischen Routinediagnostik landesweit zur Abklärung bestimmter Krankheiten einzuführen. Die Genom-Sequenzierung soll dort neben an bestimmten Krebsarten Erkrankten vor allem bei Neugeborenen und Kindern ohne eindeutige Diagnose auf Intensivstationen zum Einsatz kommen. Andere Industrieländer wie Frankreich, die USA und China ziehen nach. Bestimmte Krankenversorger in den USA würden die Exom-Sequenzierung ihren Versicherten sogar kostenlos anbieten, berichtete Hans-Hilger Ropers und schlussfolgert: „Das heißt, es rechnet sich.“

Alexandra Regner,
PTA und Journalistin

Quelle: aerzteblatt.de

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