Repetitorium
CHRONOPHARMAZIE – TEIL 1
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Alles irdische Leben spielt sich rhythmisch im Ablauf der Zeit ab. Diese rhythmische Ordnung, genannt „Chrono-Biologie“ , ist eines der wichtigsten Merkmale unserer Natur überhaupt. In den letzten Jahren hat die chronobiologische Forschung einen ungeheuren Aufschwung erlebt. Dabei reichen die ersten Feststellungen über eine zeitabhängige Regelung unserer Körperfunktionen tatsächlich schon bis in die Antike zurück.
Wie präzise das Uhrwerk in uns tickt, ist jedoch erst seit Anfang des letzten Jahrhunderts Gegenstand intensiver Forschung und Experimente. Heute orientiert sich die Einnahmeempfehlung für viele Arzneimittel am zirkadianen Rhythmus des Körpers.
Historischer Rückblick Schon im Papyrus Ebers, verfasst vor gut 3600 Jahren, wurde detaillierter über den „Gang des Herzens“ berichtet. Dass Asthmaanfälle vielfach nachts auftreten, ist auch seit gut 1500 Jahren bekannt. Im Zeitalter der Aufklärung wurden Beziehungen zwischen physiologischen Rhythmen und den verschiedensten Funktionen des Körpers, zu Gesundheit und Krankheit in Beziehung gesetzt.
Auch der zu seiner Zeit berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836) hat die 24-Stunden-Rhythmik in ihrer Bedeutung für Gesundheit und Krankheit erkannt. Sein Buch „Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ war seinerseits ein Bestseller. Bereits 1801 beschrieb Dr. Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772 bis 1835) in seinem Handbuch der empirischen menschlichen Physiologie dann den Tagesrhythmus von Herz- und Pulsfrequenz.
Julien Joseph Virey (1775 bis 1846) verwies 1814 anhand erster pharmakologischer Daten dann erstmals auf die „Lebende Uhr“ in uns. Das English Journal of Medicine stellte 1983 eine Liste aller zeitabhängigen Rhythmen vor, die bei einer Untersuchung an amerikanischen männlichen Rekruten festgestellt wurden. Neben vitalen Lebenszeichen wie oraler Temperatur, Puls, Blutdruck, Atemminutenvolumen wurden im Serum und im Urin zeitabhängige Konzentrationen von Globulinen, Glukose, Stoffwechselprodukten und Elektrolyten gemessen. Darüber hinaus zeigten sich Unterschiede in Harnvolumen und pH-Wert.
Obwohl diese periodischen Veränderungen in physiologischen Prozessen somit seit längerem bekannt sind, wird erst seit etwa sechs Jahrzehnten intensiver mit wissenschaftlichen Methoden, einschließlich der Molekularbiologie versucht, die rhythmischen Phänomene zu erfassen und zu analysieren.
„Uhrengene“ nachgewiesen Dass rhythmische Phänomene Bedeutung für das Leben, für Gesundheit und Krankheit haben können, ist mittlerweile in zahlreichen Studien nachgewiesen worden. Während natürliche Geburten und der natürliche Eintritt der Wehen statistisch gesehen sich zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens häufen, zeigen medizinisch eingeleitete Geburten ein Häufigkeitsmaximum am frühen Morgen. Herzinfarkte und plötzlicher Herztod werden am häufigsten morgens zwischen acht und zwölf Uhr beobachtet.
Insgesamt tritt das Ableben allerdings überwiegend in den späten nächtlichen Stunden beziehungsweise frühen Morgenstunden auf und ist im Winter häufiger als im Sommer. Dabei verhalten sich die jahreszeitlichen Rhythmen verständlicherweise auf der nördlichen und südlichen Erdhalbkugel spiegelbildlich zueinander. Neben Jahres- und Monatsrhythmen (etwa die Menstruation der Frau) finden sich vor allem zirkadiane Rhythmen (Tag-Nacht, 24-Stunden).
»Durch die zeitlich abgestimmte Gabe eines Arzneimittels können die Wirksamkeit verbessert und Nebenwirkungen verringert werden.«
Festgestellt wurde: Diese Rhythmen sind genetisch determiniert, jedoch doch Umweltfaktoren (Zeitgeber, etwa Licht) beeinflussbar. Zwar wurde bisher weder ein „Zeitsinn“ noch ein Organ für die „Zeitmessung“ entdeckt, doch es gilt als gesichert, dass Licht endogen generierte Rhythmen mit der Umwelt synchronisiert. Schon die Zeitumstellung um nur eine Stunde, beispielsweise von der Sommer- auf die Winterzeit, kann den inneren Rhythmus stören. Fast ein Viertel der Weltbevölkerung erlebt dies jährlich.
Bekannt ist heute zudem: Eine „Innere Uhr“ regelt alle Körperfunktionen. Diese sind hierbei im zentralen Nervensystem lokalisiert. Beim Menschen sind Uhrengene, die genetisch determiniert sind, in Haut und Schleimhaut nachgewiesen worden. Jede Zelle verfügt demzufolge über Uhrengene. Die zentral steuernde „Hauptuhr“, der koordinierende Dirigent, liegt bei allen Säugern allerdings im Nucleus suprachiasmaticus (SCN) des Hypothalamus, also direkt über den sich kreuzenden Sehnerven.
Diese „Zentraluhr“ im Gehirn lässt viele Prozesse im Körper und damit auch bestimmte Verhaltensweisen in Zyklen ablaufen, zum Beispiel verändert sich die Körpertemperatur im Tagesverlauf. Ebenso werden Blutdruck, Schlaf- und Wachrhythmus von ihr gesteuert. Die Zellen des SCN regulieren auch die Melatoninproduktion der Zirbeldrüse, die ja maßgeblich das Schlafbedürfnis beeinflusst. Auch nachgewiesen ist, dass zahlreiche weitere Gene, Enzyme, Transkriptionsfaktoren etc. in das biochemische Uhrenwerk eingebunden sind. Inzwischen wurden mehr als 25 Uhrengene gefunden, ein Netzwerk von (negativen) Rückkopplungen entschlüsselt.
Und so weiß man immer besser, wie innere Uhren biochemisch funktionieren. Dass dadurch physiologische Vorgänge im Körper, pathophysiologische Ereignisse bei Erkrankungen und selbstverständlich auch die Pharmakotherapie nicht unbeeinflusst bleiben, ergibt sich zwangsläufig. Denn die tageszeitabhängige Durchblutung von Organen, Funktionen von Lunge, Leber und Nieren, Konzentrationen von Hormonen (wie Kortisol, Adrenalin, Insulin, Schilddrüsenhormon, Melatonin) oder die Produktion von Magensäure werden durch die „innere Uhr“ bestimmt.
Jüngster Zweig dieser Forschungsrichtung ist deshalb die Chronopharmakologie, welche die Pharmakokinetik, also das Verhalten des Arzneimittels im Körper (Blutspiegelkurve), sowie die Pharmakodynamik, also die Wirkung des Arzneimittels unter dem Aspekt der zeitlichen Struktur des Organismus (Empfindlichkeit), untersucht. Daraus werden dann Konsequenzen für die Arzneimitteltherapie gezogen.
Chronopharmakokinetik und -dynamik Untersuchungen über tageszeitliche Variationen der Resorption und Verteilung von Medikamenten gibt es – allerdings nicht allzu viele. Das kinetische Verhalten eines Arzneimittels wird letztlich aber durch viele Faktoren beeinflusst. Neben den physikochemischen Eigenschaften eines Medikaments und seiner galenischen Zubereitung sind die Arzneimittel- Applikations-Art, beim einnehmenden Patienten die Nahrungszufuhr, Körpergewicht und -oberfläche, Organdurchblutung, Resorbierbarkeit des Arzneimittels, seine Verteilung im Organismus, der pH-Wert im Magen-Darm-Trakt und Urin sowie auch Art und Ausmaß der Verstoffwechslung und der Ausscheidung via Niere etc. für das pharmakokinetische Verhalten relevant.
INNERE UHR DER ORGANE
Tageszeitliche Unterschiede gibt es ebenfalls für die Verstoffwechselung insbesondere von lipophilen Arzneistoffen in der Leber. Hier konnten signifikante 24-Stunden-Rhythmen in den Aktivitäten der verschiedensten Leberenzyme (bei Mäusen direkt, beim Menschen indirekt) gefunden werden. Für die Elimination von Arzneistoffen oder deren Metaboliten über die Galle ist zu berücksichtigen, dass die Ausscheidung von Gallenflüssigkeit, Gallensalzen, Cholesterin und Phospholipiden zudem tagesrhythmisch variiert. Auch die Funktionen der Niere unterliegen ausgeprägten Tagesrhythmen, sodass die renale Ausscheidung vieler Arzneimittel durch diese physiologischen Rhythmen beeinflusst wird.
Zirkadiane Rhythmen der glomerulären Filtrationsrate sowie tageszeitliche Veränderungen des pH-Wertes im Harn spielen dabei eine Rolle. Die Urinproduktion hat mittags ihren Höhepunkt und in der Nacht ein Minimum. Folglich ist die Ausscheidung vieler Arzneistoffe über die Nieren nachts am geringsten. Zugleich variiert der pH-Wert des Urins im 24-Stunden-Rhythmus. Da die Säurekonzentration in der Nacht am höchsten ist, werden basische Arzneistoffe wie Amphetamin nachts vermehrt ausgeschieden. Sie liegen ionisiert vor und werden kaum rückresorbiert. Die Elimination saurer Wirkstoffe wie Salicylate oder Sulfonamide ist nachts hingegen minimal.
Da die Funktionen des Körpers tageszeitliche Unterschiede aufweisen, ist auch das kinetische Verhalten von Arzneimitteln unterschiedlich. Da sehr viele Arzneistoffe oral verabreicht im Dünndarm aufgenommen werden, spielen die Schnelligkeit der Magenentleerung und die Durchblutung des Magen-Darm-Trakts eine entscheidende Rolle. Der Magen wird morgens schneller entleert als abends. Die Durchblutung des Gastrointestinaltrakts ist vor allem nachts und am frühen Morgen am höchsten und sinkt dann zu den Mittagsstunden ab. Daher werden zahlreiche Wirkstoffe, insbesondere die lipophilen in nichtretardierter Form, bei morgendlicher oraler Einnahme schneller und in größerem Ausmaß resorbiert. Für Retardformulierungen ließen sich hingegen keine kinetischen Unterschiede nach Applikation zu verschiedenen Tageszeiten nachweisen.
Hinsichtlich der Rhythmik in der Verteilung eines Arzneistoffs im Körper existieren leider bisher keine systematischen Untersuchungen. Bekannt ist allerdings, dass in der Nacht eine Zunahme des Wassergehaltes im Blut eintritt – unabhängig von Nahrungs- oder Flüssigkeitszufuhr, unabhängig von Schlaf, Bettruhe etc. Nach intravenöser Injektion des Psychopharmakons Diazepam zu zwei verschiedenen Tageszeiten (morgens und abends) fanden sich jedoch initial höhere Plasmakonzentrationen nach morgendlicher Injektion, was auf tageszeitlich unterschiedliche Verteilungsvolumina hinweist.
Schichtarbeit und Jetlag Die Rhythmik der „inneren Uhr“ ist auch für das Verständnis der Jetlag-Symptomatik von Bedeutung. Die „Innere Uhr“ kann nach einem Interkontinentalflug mit deutlicher Zeitzonenverschiebung vom Körper nicht sofort wie eine Armbanduhr auf die neue Zeit am Zielort umgestellt werden. Rhythmische Körperfunktionen, wie Temperatur, Schlaf-Wach-Rhythmus, Kortisol- und Melatoninausschüttung brauchen zwei bis achtzehn Tage, um sich den neuen Zeitstrukturen anzupassen. Die Störung der „Inneren Uhr“ äußert sich dann in Schlafprobleme, Konzentrations- und Aufmerksamkeitseinschränkungen oder auch einer Beeinträchtigung verschiedener Körperfunktionen, etwa des Herz-Kreislauf-Systems.
Faktisch führt Jetlag zu einer internen Desynchronisation von Rhythmen, solange bis diese wieder mit den Umweltsignalen (Licht) und untereinander synchronisiert sind – was schlichtweg Zeit braucht. Schichtarbeit bringt die innere Uhr ähnlich durcheinander – mit dem Unterschied, dass der Betroffene nur eine virtuelle Reise durch die Zeitzonen unternimmt. Und im Gegensatz zum Flugpassagier, der sich in wenigen Tagen an die neuen Tageszeiten rhythmisch anpassen kann, ist dies bei wechselnden Schichtzeiten nicht möglich, da Sonnenauf- und unterganz nahezu unverändert bleiben. Diese Desynchronisation der „inneren Uhr“ kann zu Schlaf- und Stoffwechselstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder einem Magenulkus führen und sogar das Tumorrisiko erhöhen.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/14 ab Seite 72.
Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin