Psychologie in der Apotheke
AUFGEWACHSEN IN DER ISOLATION
Seite 1/1 4 Minuten
Jedes Kind benötigt für eine gesunde Entwicklung mindestens eine Bezugsperson, die es liebevoll umsorgt. Doch am 26. Mai 1828 tauchte in Nürnberg ein etwa 16-jähriger, verwahrloster Junge auf und es wurde klar, dass er jahrelang in einem Verlies ohne jegliche Reize oder Kontakte gefangen gehalten wurde. Er trug einen Brief bei sich, der zwar sein mögliches Geburtsdatum (30. April 1812), allerdings nicht seine Herkunft verriet. Kaspar war lichtscheu, sehr ängstlich und zeigte körperliche Einschränkungen, die auf einen Bewegungsmangel schließen ließen. Er artikulierte sich schlecht, verfügte über einen Wortschatz von nur 50 Begriffen, kannte nur Wasser und Brot und lehnte andere Speisen angewidert ab. Der Junge wurde von Ärzten, Theologen und Pädagogen betreut und in die menschliche Zivilisation eingeführt. Er lernte ganz simple Dinge wie auf einem Stuhl zu sitzen, außerdem erweiterte er seinen Wortschatz und malte viel.
Das Findelkind war eine Attraktion und konnte in einem Turmzimmer von Besuchern betrachtet werden. Auf die neue Situation reagierte er jedoch mit körperlichen Symptomen wie Zittern oder Schweißausbrüchen. Einige Zeit lebte er unter anderem bei einem Gymnasiallehrer, musste dort verschiedene Tests über sich ergehen lassen und schien insgesamt lernfähig. Nur fünf Jahre blieben Kaspar von seinem Auftauchen bis zu seinem Tod: Am 14. Dezember 1833 kam er durch ein Attentat um. Die Kleidung, die er an diesem Tage trug, wurde beim Königlichen Landgericht in Ansbach aufbewahrt und ging schließlich in den Besitz des Ansbacher Markgrafenmuseums über. Kaspar Hausers Geschichte ist für die Wissenschaft interessant, da der Junge viele Jahre isoliert verbrachte und in dieser Zeit nichts von anderen Menschen lernte. Somit lieferte das berühmte Findelkind Hinweise darauf, welche Verhaltensweisen angeboren oder er- lernt sind.
Folgen der Deprivation Dass Vernachlässigungen von Kindern zu verheerenden Konsequenzen im psychischen, physischen und sozialen Bereich führen, ist nicht von der Hand zu weisen, schließlich brauchen Menschen von Beginn an soziale Kontakte sowie die elterliche Zuwendung. Schäden, die durch fehlende emotionale Zuneigung und/oder gar Misshandlung entstehen, bezeichnet man als Kaspar-Hauser-Syndrom, auch Hospitalismus oder Deprivation (Entzug von Reizen und Zuwendung) genannt. Die Bezeichnung „Hospitalismus“ rührt daher, dass es bei Kindern, die sich in wichtigen Entwicklungsphasen in Heimen oder im Krankenhaus aufhielten, zu negativen psychischen und physischen Konsequenzen kam. Das Kasper-Hauser-Syndrom gilt als schwerste Form des Hospitalismus, hierbei handelt es sich meist um Kriminalfälle, bei denen Kinder über einen gewissen Zeitraum gefangen gehalten und misshandelt wurden.
Nicht ohne Konsequenzen Kinder mit Kasper-Hauser-Syndrom weisen aufgrund der emotionalen Vernachlässigung seelische und körperliche Verhaltensauffälligkeiten auf. Ihnen fehlt das Urvertrauen, da sie Geborgenheit und Vertrauen nie kennengelernt haben. Sie lutschen beispielsweise auch im höheren Alter noch am Daumen, zeigen häufig sich wiederholende monotone Bewegungen und haben meist ein abnormales Sozial- und Essverhalten. Einige vernachlässigte Personen verletzten sich selber, sind apathisch, leiden unter Depressionen oder werden leicht aggressiv. Häufig leiden sie auch unter Gedächtnisverlust, einer hohen Infektanfälligkeit sowie unter Angst- oder Wahrnehmungsstörungen. Die Störung tritt jedoch nicht nur bei Kindern auf, sie kann sich auch im Erwachsenenalter nach einer Isolationshaft oder bei Patienten mit unzureichender Betreuung in Pflegeheimen oder Krankenhäusern be- merkbar machen.
Verwilderte Kinder Es gibt weitere Beispiele für Kinder, die ohne Kontakt zu anderen Menschen aufwuchsen oder von ihren Eltern stark vernachlässigt und/oder misshandelt wurden. 1970 entdeckte man das etwa 13-jährige Findelkind „Genie“ in Los Angeles. Das Mädchen wurde mit etwa 20 Monaten komplett von ihrer Außenwelt isoliert. Angekettet an einen Toilettenstuhl oder ruhig gestellt mit einer Zwangsjacke wurde sie elf Jahre lang von ihrem Vater in einem dunklen Raum gefangen gehalten. Er knurrte sie wie ein Hund an, hielt sie von jeglichen externen Reizen fern und misshandelte sie körperlich. Ein Spracherwerb hatte in der Isolation nicht stattgefunden. Im Jahre 1991 wurde die achtjährige Oxana Malaya in der Ukraine auf dem Hof ihrer alkoholkranken Eltern gefunden. Sie hatte jahrelang mit Hunden in einem Zwinger gelebt, lief auf allen Vieren, bellte und fletschte mit den Zähnen. Die einzigen Worte, die sie sprach, waren „ja“ oder „nein“.
Spracherwerb möglich Kinder wie Oxana oder Genie können nach der Phase der Isolation und Misshandlung zwar noch sprechen lernen, allerdings bleibt ihr Wortschatz in der Regel sehr stark eingeschränkt. Anhand von Beobachtungen vernachlässigter Kinder stellten Wissenschaftler fest, dass jüngere Kinder die Sprache leichter erwerben konnten als Opfer, die erst im Jugendalter befreit wurden. Auch die Schwere der Misshandlungen scheint in diesem Zusammenhang eine Rolle zu spielen. Ob es eine kritische Phase zum Erlernen der menschlichen Sprache gibt, ist nicht leicht zu beantworten, denn die Untersuchungen basieren auf schicksalhaften Einzelfällen, denen eine dramatische Geschichte vorausgeht.
Psychotherapie als notwendige VoraussetzungWird ein Opfer aus seiner Misshandlungssituation befreit, sollte das Umfeld unverzüglich an seine Bedürfnisse angepasst werden. Je kürzer Betroffene sich in der jeweiligen Situation befanden, umso größer sind die anschließenden Behandlungserfolge. Menschen mit einem Kaspar-Hauser-Syndrom benötigen eine psychologische Betreuung, um das Erlebte aufzuarbeiten. Dazu eignet sich eine möglichst angenehme, positive Atmosphäre, die sich von der schädlichen Umgebung stark unterscheidet. Die Therapie gestaltet sich meist sehr langwierig und es erfordert für die Betroffenen sehr viel Zeit, Vertrauen in neue Beziehungen aufzubauen. Die Behandlung körperlicher Schäden erfolgt zum einen durch eine ausreichende Versorgung mit Nährstoffen, bei funktionellen Beeinträchtigungen sind physiotherapeutische Maßnahmen sinnvoll.
Aufmerksam durchs Leben gehen Die beispielhaft beschriebenen Fälle machen deutlich, wie wichtig es ist, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und zu handeln, wenn ein Mensch ein von der Norm abweichendes Verhalten zeigt und Hilfe benötigt. Auch Sie sollten im Zweifelsfall nachhaken, wenn Ihnen etwas seltsam erscheint. Der Fall Genie wurde damals dank einer aufmerksamen Sozialarbeiterin im Sozialamt Los Angeles entdeckt, die auf das Mädchen aufmerksam wurde und die Polizei verständigte.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 09/2020 ab Seite 66.
Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie und Fachjournalistin