Eine Frau im Profil, in ihrem Kopf sind viele Farben, Wolken und Blitze zu sehen.© metamorworks / iStock / Getty Images Plus
Ein Gedanke jagt den nächsten: Das ist typisch für ADHS bei Erwachsenen.

ADHS | Erwachsene

ZEITBLIND, HYPERFOKUS, KOPF-TURBO

Lange Zeit galt ADHS als reine Kinderkrankheit. Doch ungefähr die Hälfte aller Betroffenen nimmt die Störung mit ins Erwachsenenalter. Christian Krohn ist einer von ihnen.

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Was andere aufputscht, bringt Christian Krohn etwas runter. „Ich kann mit Kaffee im Körper schlafen, das macht mir überhaupt nichts aus. Das beruhigt mich eher“, sagt der 52-Jährige aus Berlin.

Christian Krohn hat ADHS. Vor zwei Jahren bekam er die Diagnose. Menschen mit ADHS reagieren auf stimulierende Substanzen anders als Menschen ohne die Störung. Koffein, Nikotin und Amphetamine wirken bei ihnen nicht anregend, sondern eher beruhigend.Das liegt daran, dass ihr Gehirn anders funktioniert. Zum Beispiel sind im Vergleich zu Menschen ohne ADHS verschiedene Neurotransmitter nicht im Gleichgewicht, insbesondere Dopamin und Noradrenalin. Diese steuern unter anderem Antrieb und Motivation.

Hyperaktivität zählt neben Konzentrationsschwierigkeiten und Impulsivität zu Kernsymptomen von ADHS - sie steckt auch schon im Namen: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Wie stark und auf welche Art und Weise die Symptome bei den Betroffenen ausgeprägt sind, ist sehr individuell. Während manche ohne Probleme durch ihr Leben kommen und ihre ADHS vielleicht gar nicht bemerken, ist der Leidensdruck bei anderen größer.

Zum Teil wird ADHS außerdem immer noch als Kinderkrankheit wahrgenommen, kritisieren Expertinnen und Experten. Dabei nehmen viele Kinder die Störung mit ins Erwachsenenalter - und mitunter wird sie überhaupt erst dann diagnostiziert.

Blind für die Zeit

So wie bei Christian Krohn. Er hat vor allem mit sogenannter „Time-Blindness“ zu kämpfen, ist also quasi zeitblind. „Ich lebe immer im Jetzt“, sagt er. Termine zu organisieren, an Geburtstage zu denken oder Deadlines einzuhalten, das alles fällt ihm sehr schwer. Er erklärt:

„Natürlich verstehe ich das Konzept von Zeit, aber ich fühle es nicht. Ich verstehe, dass es Wochentage gibt, aber ich sehe dem Tag ja nicht an, ob es ein Mittwoch ist.“

Auch die ADHS-typische Impulsivität hat er bereits an sich beobachtet. “Ich bin oft ungeduldig. Mir fällt es schwer, Leute ausreden zu lassen. Außerdem bin ich Impulskäufer.“

Wenn der Kopf in den Turbo-Gang schaltet

Zudem spürt Krohn dauerhaft große innere Unruhe und Anspannung in sich - ein Gedanke jagt den nächsten. „Im Kopf ist ständig Turbo“, sagt er. „Wie bei einem Motor, der mit einer hohen Drehzahl läuft.“ Wenn er ein Thema oder eine Aufgabe gefunden hat, woran er wirklich Interesse hat, ist der „Turbo-Gang“ natürlich von großem Vorteil. Hyperfokus nennen Experten dieses Phänomen.

„Ich liebe diesen Teil der ADHS. Ich kann in solchen Momenten dauerhaft konzentriert arbeiten und Höchstleistungen erbringen, ohne dass es mich anstrengt“, sagt Krohn. Lange Jahre war er Unternehmensberater und später dann für Siemens im Bereich Strategie und Business Development tätig. „In dem Job waren eben genau diese Fähigkeiten, die Energie und die Kreativität, gefragt, die ich dank meiner ADHS mitbringe.“ Mittlerweile hat er sich erfolgreich selbstständig gemacht.

Krohn sagt: „ADHS'ler sind oft sehr offene, sonnige und begeisterungsfähige Menschen. Viele haben es nicht trotz ihrer ADHS, sondern gerade wegen ihres großen inneren Antriebs und ihrer Risikobereitschaft so weit gebracht.“ Prominente, die ihre ADHS öffentlich gemacht haben, sind etwa Moderator und Arzt Eckart von Hirschhausen, Sänger und Schauspieler Justin Timberlake und US-Turn-Olympiasiegerin Simone Biles.

Anfällig für Burnout

Wenn Menschen mit ADHS nicht gerade einen Hyperfokus haben, ist es für sie mitunter jedoch quälend oder schier unmöglich, sich bewusst auf Dinge zu konzentrieren. Durch eine große Reizoffenheit prasseln viele Impulse auf ihr Gehirn ein, ohne dass es diese filtern oder priorisieren kann. Weil das alles so viel Kraft kostet, kommt es immer wieder vor, dass sie in ein Burnout geraten. Auch Christian Krohn hat diese Erfahrung gemacht.

Unterschiedliche Aufgaben zu managen, kann zum Problem werden. „Das fühlt sich an wie Jonglieren, während einem ständig neue Bälle zugeworfen werden“, sagt Krohn. „Ich muss immer wieder Bälle fallen lassen, obwohl ich genau weiß, dass ich sie auf dem Boden vermutlich vergessen werde.“ Kalender, To-Do-Listen und Handy-Erinnerungen sind für ihn der blanke Horror, denn sie stressen ihn zusätzlich.

„Das fühlt sich an wie Jonglieren, während einem ständig neue Bälle zugeworfen werden.“

Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen

Bei anderen ADHS-Patienten können die Symptome allerdings ganz anders aussehen. Hinzu kommt, dass sich Anzeichen und Probleme bei Kindern und Erwachsenen unterscheiden. Während bei Kindern die Hyperaktivität oft äußerlich sichtbar ist, weil sie nicht stillsitzen können, ist die Unruhe bei Erwachsenen eher nach innen gerichtet. Zudem gibt es auch Formen von ADHS, bei der die Hyperaktivität als Symptom gar nicht auftritt.

„Es gibt nicht den ADHS-Patienten“, sagt die Psychiaterin und Neurologin Johanna Krause. Sie hat mit ihrem Mann Anfang der 2000er Jahre ein Standardwerk zu ADHS im Erwachsenenalter geschrieben und setzt sich dafür ein, dass ADHS bei Erwachsenen richtig diagnostiziert und behandelt wird.

„Es hat lange gedauert, bis sich die Fachwelt davon verabschiedet hat, ADHS nur einseitig als Kinderkrankheit zu sehen“, erklärt sie. „Teilweise ist das immer noch nicht richtig angekommen, es gibt viel zu wenig Ärzte, die sich mit dem Thema richtig gut auskennen.“

Je nach Studie wird bei 3 bis 6 Prozent aller Kinder ADHS diagnostiziert, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Etwa die Hälfte von ihnen nimmt ADHS mit ins Erwachsenenleben.

Aufwendige Diagnostik

„Die Diagnostik bei ADHS ist zwar zuverlässig, aber auch sehr aufwendig. Es müssen Fragebögen ausgefüllt und ausführliche Gespräche geführt werden“, sagt Felix Betzler. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie leitet die ADHS-Sprechstunde für Erwachsene an der Charité Berlin. „Bei Erwachsenen müssen wir uns zudem die Kindheit anschauen: Denn nur wer bereits als Kind ADHS-Symptome gezeigt hat, kann diese überhaupt mit ins Erwachsenenalter mitgenommen haben.“

Auch ein Blick ins Familienumfeld könne helfen, so Betzler: Ob die ADHS auftaucht, wird von vielen Faktoren beeinflusst. Der genetische Aspekt spielt dabei jedoch eine große Rolle. So kommt es nicht selten vor, dass es in der Familie mehr als einen Betroffenen gibt. Außerdem müssten Komorbiditäten, also zusätzliche Krankheiten, abgegrenzt werden, die bei ADHS öfters vorkommen.

Häufiger haben ADHS-Patienten Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen, teilweise als Folge von Misserfolgen und Problemen im Leben. Betzler meint dazu: „Obwohl die Patienten bereits wegen einer dieser Komorbiditäten behandelt werden, bleibt ADHS oft undiagnostiziert.“ Ein Teil seiner Patienten, erzählt er, finde erst nach einer regelrechten Odyssee den Weg in seine Sprechstunde.

Gute Behandlungsmöglichkeiten

Mittlerweile gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten. „Vor allem bei einer stark ausgeprägten ADHS erzielen Medikamente einen deutlichen Effekt“, sagt Betzler. „Das heißt jedoch nicht automatisch, dass Medikamente für jeden Patienten der richtige Weg sein müssen.“ Zusätzlich oder alternativ wird eine Psychotherapie empfohlen, in der die Patienten zum Beispiel Strategien entwickeln können, um mit ADHS im Alltag besser umzugehen.

ADHS-Medikamente mit Nebenwirkung

Christian Krohn verwendet Medikamente nur punktuell, wenn er sich dringend konzentrieren muss und ihm dies nicht von alleine gelingt. Als Nebenwirkung verstärkten die Medikamente nämlich die Symptome seiner Parkinson-Erkrankung, von der er seit einem Jahr weiß.

„Es ist eben immer ein Abwägen“, sagt er. „Aber die Wirksamkeit der Medikamente ist wirklich enorm: Ich bin dann total entspannt, ruhig und konzentriert und kann meinen Fokus bewusst lenken und halten.“

Er hat beschlossen, eine Assistenz einzustellen, die ihm bei der Organisation seiner Termine helfen soll. „Schon alleine die Organisation dieser Assistenz war für mich eine große Herausforderung und hat jetzt insgesamt zwei Jahre gedauert“, erzählt er. Mittlerweile habe er aber jemand Passendes gefunden.

Mehr Verständnis und Wohlwollen

„Was mir mein Leben außerdem auf jeden Fall erleichtern würde, wäre einfach mehr Wohlwollen gegenüber ADHS'lern“, sagt Krohn. Die Symptomatik stoße auf Unwissen und Unverständnis. Oft würde sein Umfeld nicht verstehen, warum er „sich nicht einfach mehr anstrengen“ könne, sagt der 52-Jährige.

„Ich glaube, vielen ist nicht bewusst, dass ich wirklich nicht anders kann.“

2019 kam Tool, eine seiner Lieblingsbands, nach einer langen Pause nach Deutschland. „Ich habe erst den Vorverkaufstermin verpasst, habe dann auf Ebay ein Ticket für 150 Euro erstanden und im Endeffekt das Konzert verpasst“, erzählt er und schüttelt mit dem Kopf.

„Als Betroffener und Angehöriger bleibt einem fast nichts anderes übrig, als das Ganze mit Humor zu nehmen“, sagt er schulterzuckend. „Denn so nervig ADHS manchmal ist, so praktisch ist sie in vielen anderen Fällen. Und langweilig macht sie das Leben auf jeden Fall nicht.“

Quelle: dpa

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