Repetitorium
VIREN – TEIL 1
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Sie sind so klein, doch können sie sehr hohe Wellen schlagen – wie man gerade sieht. Lediglich 20 bis 300 Nanometer messen die winzigen Partikel. Denn von Lebewesen kann man nicht sprechen: Viren benötigen zur Vermehrung einen Wirt und zeigen keinerlei Stoffwechselaktivität. So gesehen handelt es sich einfach um gut verpacktes Erbgut, das sich zur Vermehrung notwendiger Zellorganellen in einem Wirt bedient. Leblose Bio-Partikel – doch diese Definition wird immer wieder angezweifelt, wobei unterschiedliche Argumente hervorgebracht werden. Zum Beispiel, dass sie durchaus in der Lage sind, ihr genetisches Material anzupassen, sich weiterzuentwickeln – beispielsweise Resistenzen ausbilden.
Außerdem gibt es den Interpretationsansatz, dass sie ab dem Zeitpunkt, ab dem sie ihren genetischen Bauplan in die Wirtszelle eingebracht haben, Teil eines lebenden Organismus sind. Einige Forscher gehen sogar so weit, sie in die Kategorie Lebewesen einzuteilen, da Viren von Lebewesen abstammen könnten. Es gebe Hinweise darauf, dass Eiweißbestandteile von Bakterien – per Definition Lebewesen – den durch Viren-DNA produzierten Proteinen ähnelten. Nach dieser Theorie waren Viren einst Lebewesen, gaben ihre biologische Maschinerie allerdings auf, um fortan als Zellparasiten weiterzuleben – eine minimalistische Form der Evolution. Doch bislang sind das alles nur Theorien, teilweise gibt es Einzelbelege. Eine feste Aussage konnte aber noch nicht getroffen werden. Und so werden wir auch in diesem Repetitorium von Partikeln oder infektiösen organischen Strukturen sprechen.
Kenne den Feind Die Krankheiten, die Viren auslösen, sind schon sehr lange bekannt, die biologische Einheit dazu noch nicht: Erst im späten 19. Jahrhundert wurde „das Virus“ als solches entdeckt und bekannt. Davor gab es durchaus bereits den Begriff Virus oder Virusinfektion, aber die Vorstellung war noch zu abstrakt, sodass er häufig synonym zu „Gift“ oder „giftige Flüssigkeit“ verwendet wurde. Der erste korrekte Virusnachweis gelang 1898 Friedrich Loeffler und Paul Frosch als sie in einem verendeten Tier das Maul-und-Klauenseuche-Virus entdeckten. Heute ist man schon etwas weiter, doch im Hinblick darauf, dass es für den Großteil der Viruserkrankungen noch keine geeigneten Therapien gibt, kratzt die Wissenschaft wohl immer noch an der Oberfläche.
Viren kommen prinzipiell in zwei Erscheinungsformen vor: Als Nukleinsäure in einer Wirtszelle oder außerhalb der Wirtszelle, um das Erbgut auf weitere Wirtszellen zu verteilen. Im letzten Fall spricht man von Virionen, auch wenn die Begriffe der Einfachheit halber häufig synonym verwendet werden. Virionen (oder Viria) beziehungsweise Viren kommen mit wenig zurecht: Sie enthalten Nukleinsäure und eine Verpackung. Die Nukleinsäure kann als RNA oder DNA vorliegen, kreisförmig, linear, doppelt oder einfach gestaltet sein. Das Erbgut wird durch Strukturproteine geschützt, sogenannte Kapsomere.
In ihrer Gesamtheit spricht man vom Kapsid, da sie das Genom wie eine Art Kapsel umschließen. Den Komplex aus Kapsid und der Nukleinsäure bezeichnet man als Nukleokapsid. Das Influenzavirus weist jedoch beispielsweise keine solche Kapsel auf, sondern andere Proteinstrukturen, die das Erbgut schützen. Und die Variabilität geht weiter, denn mache Viren enthalten zusätzlich noch eine doppelte Lipidhülle, in die Hüllproteine eingelagert sind. Dann spricht man von behüllten Viren – dazu zählen unter anderem das Influenza- oder auch das Coronavirus.
MERKMALE EINES VIRUSPARTIKELS
Kontagiosität: bedeutet Übertragbarkeit, also in welchem Maß sich ein Virus von Lebewesen zu Lebewesen durch seinen Infektionsweg (z. B. Schmier-, oder Tröpfcheninfektion) überträgt.
Infektiösität: beschreibt die Fähigkeit des Virus seinen Wirt zu infizieren, wie gut es also eindringt und sich in dem Wirt vermehrt.
Pathogenität: ist die grundlegende Eigenschaft, in einem Wirt eine Erkrankung hervorzurufen.
Virulenz: gibt die Fähigkeit eines Virus wider, im befallenen Wirt eine Krankheit auszulösen – also das Ausmaß seiner Pathogenität.
Ein Vorteil dieser Hülle für uns Menschen: Behüllte Viren lassen sich leichter auf Oberflächen oder den Händen durch fettlösliche Substanzen wie Seife oder Ethanol beziehungsweise mechanische Einwirkung (Händewaschen) zerstören. Unbehüllte Viren, zu denen beispielsweise das Rota- oder Norovirus zählen, gelten als widerstandfähiger gegen ihre Umwelt. Rein ethanolhaltige Desinfektionsmittel könnten hier ihren Dienst versagen, weshalb sie auch als „begrenzt viruzid“ deklariert in den Handel kommen. Ist ein Desinfektionsmittel mit „viruzid“ gekennzeichnet, ist es auch gegen unbehüllte Viren wirksam und enthält beispielweise Ethanol sowie Propanol oder Formaldehyd und muss entsprechend lange einwirken. Die Kategorie „begrenzt viruzid plus“ umfasst zusätzlich zu behüllten Viren auch noch die Wirksamkeit gegen Adeno-, Noro- und Rotaviren.
Die Hülle hat aber noch eine weitere Bedeutung, denn gegen die Proteinstrukturen kann das Immunsystem des Wirts Antikörper bilden, auch ist sie ein günstiger Angriffsort für Virustatika. Viele Impfstoffhersteller bedienen sich bei der Herstellung dieser Hüllmerkmale, um gezielte Antikörperbildung gegen diese Strukturen im Menschen auszulösen. Sie haben auch für das Virus unterschiedliche Bedeutung, sie können beispielsweise dabei helfen, eine Wirtszelle als solche zu erkennen oder zur Replikation an dieser anzudocken. Unter dem Elektronenmikroskop sind sie als Spikes erkennbar – das Virus erinnert ein bisschen an eine Mine. Beispiele sind das Influenza- oder HI-Virus.
Doch die Glykoproteine in der Lipiddoppelschicht bieten noch einen weiteren Vorteil für das Virus: Sie können sich vergleichsweise rasch an die Immunabwehr des Wirts anpassen und diese unterlaufen oder einen neuen Wirt suchen und nutzen. Diese Eigenschaft ist beispielsweise auch ein Grund dafür, warum behüllte Viren eher eine Gefahr für eine Epidemie/Pandemie darstellen als unbehüllte Viren – SARS, Influenza, Ebola, West-Nil-Fieber werden alle durch behüllte Viren ausgelöst. Daneben enthalten manche Viren noch bestimmte Enzyme, die sie zur Replikation benötigen. Das bekannteste Beispiel ist wohl das Reverse Transkriptase-Enzym des HI-Virus. Ohne dieses Enzym könnte das Virus seine RNA nicht in die Wirts-DNA zur Replikation einbauen.
Gib dem Feind einen Namen Ähnlich Bakterien, Pilzen, Pflanzen oder Säugetieren werden auch Viren in Familie, Gattung und Art nach dem jeweiligen Grad der Verwandtschaft gegliedert. Die von unter anderem Carl von Linné begründete Taxonomie wurde mittlerweile zu einer international gültigen und anerkannten Unterteilung weiterentwickelt. Als Kriterien gelten derzeit:
- Wie sieht das Genom aus? (DNA, RNA, einzelsträngig (singlestranded, ss), doppelsträngig (doublestranded, ds), linear, zirkulär oder segmentiert sowie die Polarität (-,+) )
- Wie ist das Kapsid gestaltet? (helikal, kubisch, ikosaedrisch)
- Ist eine Hülle vorhanden?
- Wie sind die Gene im Genom angeordnet?
- Welche Replikationsstrategie nutzt das Virus?
- Wie groß ist das Virus?
Untergeordnet wird auch nach Gemeinsamkeiten bei der Wahl des Wirts, nach gemeinsamen Übertragungswegen sowie ähnlichen Krankheitsbildern unterschieden.
Wie vermehrt es sich? Ein Virus durchlebt im Wirt entweder einen lytischen oder einen lysogenen Zyklus. Typische Vertreter des lytischen Zyklus sind beispielsweise das Adeno-, Hepatitis-A-, Influenza- oder auch das Corona-Virus. Die Krankheiten, die diese Viren auslösen, zeigen meist einen heftigen, aber vorübergehenden Verlauf. Die Viren werden daher häufig als virulent (infektionskräftig) bezeichnet. Der Ablauf ist dabei immer gleich:
- Andockung an die Wirtszelle (Adhäsion oder Adsorption).
- Injektion des Genoms: Dies kann entweder durch ein Aufstülpen der Hülle oder des Kapsids geschehen, wobei das Genom in die Zelle eingeschleust wird (Fusion und sog. Uncoating). Oder durch die Aufnahme des kompletten Partikels und anschließender Genomfreisetzung (Endozytose bzw. Penetration mit anschl. Uncoating).
- Starten der Proteinbiosynthese: Im Zellkern der Wirtszelle legt das Virus dann los, mit Hilfe der Replikations-Maschinerie der Wirtszelle kann das Virus sein Genom und alle notwendigen Virusbestandteile vervielfältigen. Bei RNA-Viren kann es direkt losgehen, denn sie integrieren nicht in die Wirts-DNA. Anders DNA-Viren, die meisten bauen Ihre eigene DNA in die des Wirts ein und lassen die komplette Replikation vom Wirt erledigen. Einen Sonderfall stellen Retroviren wie das HI-Virus dar, denn sie müssen ihre RNA erst in DNA umschreiben, hierfür bringen sie die Reverse Transkriptase direkt mit. Der Einbau in die Wirts-DNA erfolgt im Anschluss. Das Genom sowie alle weiteren benötigten Virusbestandteile setzen sich von selbst zu einem neuen Viruspartikel zusammen.
- Freisetzung aus der Viruszelle: Im lytischen Zyklus wird die Wirtszelle dermaßen durch das Virus und seine Vermehrung geschädigt, dass sie abstirbt. Bei der Lyse erfolgt die Freisetzung der neuen Viren. Eine weitere Option stellt die Freisetzung per Knospung dar: Die neuen Viruspartikel werden mit Teilen der Zellmembran abgeschnürt, wodurch sie eine Hülle erhalten. Die Wirtszelle geht dadurch nicht sofort zu Grunde, aber auch eine ständige Knospung schädigt den Wirt auf Dauer zu sehr und er geht ein. Bei der Sekretion setzen sich die reproduzierten Virusbestandteile an bestimmten Zellorganellen, wie zum Beispiel das Endoplasmatische Retikulum, zu einem neuen Partikel zusammen. Dadurch können sich die Partikel in das Innere der Organellen abschnüren und werden mittels Vesikeln an die Zellmembran transportiert, wo sie nach außen abgegeben werden können, was auch früher oder später zum Tod der Wirtszelle führt.
Die Folge des lytischen Zyklus ist also immer der Zelltod. Anders beim lysogenen Zyklus. Dieser verläuft prinzipiell gleich, doch im Gegensatz zu virulenten Viren verzichten diese temperenten (gemäßigten) Viren darauf, ihren Wirt sofort zu zerstören. Nach Integration des Genoms in die Zell-DNA schläft dieses ein Weilchen ohne Befehle an die Wirtszelle zur Replikation abzugeben. Die Wirtszelle funktioniert also normal weiter, teilt sich entsprechend und gibt die Virus-DNA dabei an ihre Tochterzellen weiter.
Auf diesem Weg können auch schnell, aber eben nicht so heftig weitere Zellen infiziert werden. Wenn die äußeren Bedingungen stimmen (die Umweltreize sind für alle Viren unterschiedlich) oder manchmal auch spontan, wird das schlafende Virus-Genom wieder wach, stellt den Zellstoffwechsel um und beginnt mit der Reproduktion und der Einleitung des lytischen Zyklus. DNA-Viren wie das Herpes-simplex-Virus oder HIV können dem lysogenen Zyklus folgen.
Und am Ende steht der Krebs Es gibt sogenannte Tumorviren, von denen mittlerweile bekannt ist, dass sie die Entstehung von Krebs fördern können. Jedoch nicht belegt ist, dass jede Infektion mit einem solchen Virus auch zu einer Krebserkrankung führt – ein wichtiger Unterschied, auf den auch der Deutsche Krebsinformationsdienst hinweist. Zwar sprechen Wissenschaftler davon, dass etwa jede sechste Krebserkrankung auf eine Infektion mit einem Virus oder einem anderen Krankheitserreger zurückzuführen ist – das geht aus einer Statistik der internationalen Krebsforschungsagentur (IARC) hervor – doch ist dieses Risiko in einem Industrieland deutlich geringer als in ärmeren Teilen der Welt. Beispiele für solche Tumorviren sind Hepatitis-B- oder -C-Viren oder humane Papillomviren.
Diese DNA-Viren bauen ihr Genom in den Zellkern der Wirtszelle ein und schlafen mitunter, folgen also einem lysogenen Vermehrungszyklus. Zwar sind sie daran interessiert, dass ihr Wirt möglichst lange mit ihnen überlebt, doch eine Infektion kann die Wachstumskontrolle der Wirtszelle außer Kraft setzen. Ungebremstes Wachstum kann schließlich zur Entstehung von Krebsgewebe führen. Dennoch: Wenn auch nicht jede Infektion automatisch zu Krebs führt, senkt der Schutz vor einer Infektion auch das jeweilige Krebsrisiko – beispielsweise durch eine Impfung oder Infektionsvermeidungsstrategien wie Safer Sex oder die Verwendung steriler Spritzen. Aktuell existieren aber nicht gegen alle Tumorviren Impfstoffe oder Infektionsprophylaxe-Maßnahmen. So ist eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), das zur Gruppe der Herpesviren zählt und eine Rolle bei der Entstehung des Hodgkin-Lymphoms spielen soll, kaum zu vermeiden: Fast alle Menschen in Europa haben im Laufe ihres Lebens einmal Kontakt mit EBV.
Feind oder Freund? Doch allen schlimmen Folgen zum Trotz, die eine Virusinfektion mit sich bringt, können diese leblosen Partikel auch ihre guten Seiten zeigen: Phagen könnten beispielsweise der Lichtblick in der zunehmend verschärften Antibiotikaresistenzlage sein. Denn Viren können natürlich nicht nur Säugetiere oder Pflanzen befallen, sondern auch Bakterien. Beim therapeutischen Gebrauch von sogenannten Bakteriophagen macht man sich genau dieses Prinzip zu Nutze: Man wählt einen Phagen-Stamm, der eine bestimmte Bakteriensorte als Wirtsorganismus nutzt und lässt das Virus die Arbeit erledigen. Der Vorteil dabei: Alle anderen, nützlichen Bakterien werden verschont, also auch die Bakterien des Darmmikrobioms.
Zudem gilt die Therapie als nebenwirkungsarm und gut verträglich. In osteuropäischen Ländern kommt die Therapie vergleichsweise häufig zum Einsatz, denn sie wurde von Wissenschaftlern der früheren Sowjetunion um die 1920er Jahre entwickelt. In Georgien beispielsweise kommen die Viren immer dann zum Einsatz, wenn konventionelle Antibiotika versagen. Sie gelten vor allem in solchen Fällen als effektiver als Antibiotika, wenn bakterielle Biofilme vorliegen, die die Erreger abschirmen. In den westlichen Ländern – auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs – hatte man sich mehr auf Penicillin und dessen Resultate verlassen. Doch mittlerweile gelten die Phagen weltweit als heißes und zukunftsträchtiges Forschungsgebiet.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 07/2020 ab Seite 86.
Farina Haase, Apothekerin/Online-Redaktion