Kolumne | Holger Schulze
TINNITUS VERSTEHEN
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Kennen Sie das auch? Die verzweifelte Suche nach einer echten Heilung quälender Ohrgeräusche? Falls ja, leiden Sie vermutlich unter einem chronischen Tinnitus und haben vielleicht auch schon alle möglichen seriösen wie unseriösen Angebote ausprobiert, um das Ohrgeräusch los zu werden und endlich einmal wieder echte Stille zu genießen, Ruhe zu finden. Höchstwahrscheinlich aber waren Ihre Bemühungen mehr oder weniger erfolglos, denn nach wie vor existiert kein echtes Heilverfahren gegen Tinnitus, gängige Therapien versprechen bestenfalls Linderung. Und sollten Sie tatsächlich zu den wenigen Glücklichen gehören, bei denen ein langanhaltender Tinnitus wieder gänzlich verschwunden ist, so wird Ihnen kein Fachmann erklären können, wieso.
Hier liegt auch das fundamentale Problem in der Tinnitusforschung: uns fehlt noch immer ein vollständiges Verständnis des Phänomens, und deshalb sind auch die allermeisten Therapieansätze im Wesentlichen nicht mehr als Rumprobieren. Aus meinem eigenen Labor kommt nun ein neues Modell, das uns einem Verständnis der Tinnitusentstehung näher bringen könnte: Unstrittig ist, dass Tinnitus sich in Folge eines mitunter leichten und völlig unbemerkten Hörschadens (Schädigung der Haarzellen des Innenohres (Cochlea) welche die Schallwellen in elektrische Impulse übertragen) entwickelt. Dadurch erhält das Hörsystem weniger Informationen aus dem geschädigten im Vergleich zu gesunden Bereichen. Das kann dann dazu führen, dass auf einer nächsten Stationen der Hörbahn des Gehirns eine zu geringe Aktivierung ankommt, um die Nervenzellen noch überschwellig zu erregen.
Wir müssen Tinnitus verstehen, um ihn heilen zu können.
Wir vermuten nun, dass hier ein Mechanismus zum Zuge kommt, der als stochastische Resonanz bezeichnet wird: Dabei wird einem Signal, das alleine zu schwach wäre, um einen Sensor zu aktivieren, ein Rauschen zugemischt. Die Summe aus Rauschen und Signal kann dann wieder vom Sensor detektiert werden. Für die Menge an beigemischtem Rauschen gibt es dabei ein Optimum, bei dem die übertragene Information maximal wird. In einfachen Worten bedeutet dies, dass das Gehirn versucht, durch Erhöhung der Spontanaktivität bestimmter Neurone die Informationsübertragung im Hörsystem zu optimieren und so einen Hörverlust auszugleichen. Das Gehirn passt sich dem Hörschaden an!
Dieses „interne Rauschen“ wäre dann als Tinnitus wahrnehmbar. Tatsächlich konnten wir beobachten, dass Patienten mit Tinnitus im tieffrequenten Bereich, der für die Sprachwahrnehmung relevant ist, im Mittel etwas besser hören als Patienten ohne Tinnitus! Wenn unser Modell stimmt, könnten wir Tinnitus also als ein Nebenprodukt der Bemühungen des Hörsystems verstehen, Hörschäden auszugleichen und so Sprachverständnis zu optimieren. Tinnitus also als Preis für besseres Hören! Wenn also Tinnitus auch etwas Gutes hätte, so könnte diese Erkenntnis Betroffenen bereits helfen, ihr Ohrgeräusch besser zu tolerieren (wodurch es sich im Übrigen oft abschwächt!), meinen Sie nicht auch?
ZUR PERSON
Prof. Dr. Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de
Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches MItglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 02/17 ab Seite 12.
Prof. Dr. Holger Schulze