© Frater Aloisius
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Der Apothekenkrimi

MORD UNTER FREUNDEN – TEIL 2

WAS BISHER GESCHAH... Britta Badouin hat einen neuen Fall: Ihre Apothekerfreundin Elli hat sie um Hilfe gebeten. Johannes

von Wels – alias Johnny Riva, Schlagersänger – starb an einer Überdosis Morphin. Da der todkranke, bettlägerige Mann die Ampullen nicht allein einnehmen konnte, wird die PTA aus Ellis Apotheke verdächtigt: Sie hat sie für den Pflegedienst kurz vorher im Küchenschrank deponiert. Als Britta ein wenig recherchiert, findet sie Fakten, die einfach nicht zusammenpassen – und die ein neues Licht auf ihre Freundin werfen.

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Britta stieg aus dem Auto und näherte sich dem Schaufenster der Apotheke. Dass es so etwas noch gab. Durch die Sichtscheibe in dem alten Geschäftshaus war eine Modelleisenbahn zu erkennen, die gemächlich ihre Runden drehte. Rund um die Schienen dräute ein Bergpanorama aus Pappe, darüber hing ein selbstgemaltes Schild: „Wenn Sie wissen, wo Ihre Reise hingeht, schauen Sie einfach vorher bei uns vorbei!“ Aus der Werbedeko der Pharmahersteller hatte jemand sehr liebevoll ein Potpourri der gängigsten Reisemedikamente zusammengestellt, die mit unsichtbaren Schnüren an der Decke befestigt waren.

So ein schönes Schaufensterbild hatte Britta noch nie gesehen. Während sie noch der kleinen Eisenbahn zuschaute, die mit ihren Scheinwerferaugen immer im Kreis fuhr, öffnete sich die schwere Eichentür, begleitet von klingelndem Geläut. Britta schaute hoch und entdeckte ein Klangspiel über dem Rahmen, ein ganz einfaches mit drei Metallröhren, die jedes Mal aneinanderschlugen, wenn jemand die Tür bewegte. Was soll man sein Geld in teure Bewegungsmelder investieren, dachte Britta amüsiert. Die Frau, die aus dem Laden trat, nickte ihr freundlich zu und hielt kurz inne. „Hübsch nicht?“ „Man kann sich gar nicht sattsehen“, antwortete Britta. „Es ist so eine schöne Apotheke“, sagte die Frau.

„Hoffentlich macht der Papst es noch lange.“ Der Papst? Britta musste unwillkürlich an den Sketch denken, in dem Loriot mit seiner Tochter eine Herrenboutique in Rom eröffnen wollte, aber das war hier wohl nicht gemeint. Die Frau entschwand, nicht ohne ihr noch einmal zuzunicken, und schon wieder ging das Geläut, diesmal sehr stürmisch. „Hallo!“ rief Elli und schoss aus Tür. „Ich hab schon auf dich gewartet! Du warst lange unterwegs.“ „Ich hab mich von Baustelle zu Baustelle gehangelt“, griente Britta. „Aber nun bin ich ja da!“ Während Britta staunend die Offizin betrat, redete Elli munter weiter. „Bertie sitzt noch über den Büchern. Oder über den Bestellungen, keiner weiß das so genau. Und ich wollte gerade zumachen, die PKA ist schon gegangen. Komm rein!“

Britta betrat die Apotheke und fühlte sich schlagartig in einer anderen Welt. Wie das schon roch! Es war ein Konglomerat aus Tee, Gewürzen, Pappe und altem Holz und noch etwas Undefinierbarem. Die Apothekeneinrichtung bestand komplett aus dunkler Eiche, samt Ziehschubladen und Verkaufstischen; nur die Kassenbildschirme auf der polierten Holzoberfläche stachen seltsam unpassend aus der Umgebung heraus. Elli betrachtete ihre Freundin lächelnd aus den Augenwinkeln. „Man denkt, gleich käme der Medicus um die Ecke, nicht wahr?“ fragte sie.

Britta nickte und ließ ihre Blicke über die Zierregale unter der Decke schweifen. Die alten Glasgefäße standen dort aufgereiht neben einer Apothekerwaage und schweren metallenen Mörsern. Und das – war das ein Pillenbrett? Britta hatte so etwas einmal im Apothekenmuseum in Heidelberg gesehen. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie Aufbewahrungsgefäße mit getrockneter Schlangenhaut und Spanischer Fliege entdeckt hätte. „Komm, ich stell dich vor“, sagte Elli. „Die Kasse kann ich auch später machen.“

Im Büro war es ein wenig dämmrig; nur der Computerbildschirm leuchtete matt durch das schummrige Licht. Ein weißhaariger Mann saß dort im korrektem weißen Kittel, zugeknöpft, inklusive gestreifter Krawatte und mit Namensschild: „Berthold Papst, Apotheker“. Er hielt die Lesebrille in der Hand, drehte gedankenverloren an ihrem Bügel und schaute konzentriert auf die Zahlenkolonnen vor sich. Er hob erst den Kopf, als die beiden Frauen vor dem Schreibtisch stehen blieben und blinzelte kurzsichtig in ihre Richtung. „Ja, wen hast du denn da mitgebracht?“ murmelte er. „Ich hab dir doch erzählt, dass ich meine Freundin eingeladen habe, Berthold. Hier ist sie nun, Britta Badouin, Apothekerin aus Hessen. Sie hat einen langen Weg zurückgelegt.“

Berthold Papst sah sie erstaunt an. „Das ist schön“, erwiderte er. „Sie möchte uns helfen, die Geschichte mit dem Morphin aufzuklären. Du weißt schon, der Johannes ist doch gestorben, unser Johnny, und unsere PTA war die letzte, die sich vor seinem Tod in der Wohnung aufgehalten hat.“ „Ach ja, stimmt. Hat sie irgendwas damit zu tun?“ „Das wollen wir eben herausfinden. Ich glaube nicht.“ Der weißhaarige Mann ließ seinen Blick auf Britta ruhen, immer noch erstaunt, dass sie so plötzlich aufgetaucht war. „Kennen Sie Johnny?“ fragte er. „Nein“, sagte Britta. „Wer war er?“ Elli lächelte matt.

„Man sieht schon, dass du in der Welt des deutschen Schlagers nicht so zuhause bist. Johnny Riva, unsere Antwort auf Dean Martin, hat seine Plattenfirma ihn damals genannt. Er war in den frühen Siebzigern ziemlich bekannt.“ „Ach, der Johnny!“ rief Britta. „Der hat doch so Sachen gesungen wie „Die Taverne von Taormina“ oder diese furchtbare Schnulze „Such mit mir den Regenbogen“…“ Sie verstummte jäh, als sie zwei Augenpaare auf sich gerichtet sah, mit eindeutig missbilligendem Ausdruck. „Hab ich was Falsches gesagt?“ fragte sie. „Vielleicht hab ich ihn auch verwechselt.“ „Unser Johnny hatte eine wunderbare Stimme“, sagte Elli reserviert. „Der konnte ja auch nichts dafür, dass sie ihn so verheizt haben.“

„Herr von Wels war ein jahrelanger Kunde dieser Apotheke“, schob Berthold hinterher und er klang ein wenig verletzt. Britta kramte in ihrem Gedächtnis. Es tauchten Erinnerungen auf, wie sie als Kind mit ihrer Großtante vor dem Fernseher gesessen hatte. Es lief die ZDF-Hitparade, neben Grizmeks „Ein Platz für Tiere“ eine der wenigen Sendungen, die Britta am Abend schauen durfte. Männer in Schlaghosen und Frauen mit Fönfrisuren sangen von Liebe, Leid und spanischen Gitarren, man tanzte Samba, schmetterte Hossa und ließ die Kastagnetten erklingen. Es ist eine Welt, die verschwunden ist, dachte Britta. Keiner kann sich das mehr vorstellen.

Diese Hitparade war ein echter Straßenfeger. Tante Gertrud ging während der Sendezeit nicht ans Telefon, auch wenn es noch so lange klingelte. Johnny Riva tauchte regelmäßig mit seinen Liedern in den Charts auf. Er war Britta ein wenig unheimlich, mit seinen langen Koteletten und dem merkwürdigen Hüftschwung. Seine Stimme klang ein wenig schleppend und er zwinkerte stets den Groupies zu, die ihm kleine Blumensträuße an die Tanzfläche brachten. „Hach“, sagte Tante Gertrud dann immer. „Den würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.“ Britta stellte sich vor, dass Johnny Riva das Schlafzimmer der Tante betreten würde und sich bei ihr aufs Bett… an dieser Stelle brach sie ab. Das war ja widerlich und außerdem war Tante Gertrud viel zu alt für sowas, mindestens fünfzig.

„Und, äh, der hat hier gewohnt?“ fragte Britta in die Stille. „Er ist einer von uns“, sagte Elli. „Ende der sechziger Jahre, als er langsam bekannt wurde, haben uns hier die Fans überrollt und Johnny musste ein Eisentor an seiner Einfahrt anbringen, sonst standen die Mädels bei ihm plötzlich in der Küche. Seine Mutter lebte damals noch, die fand das gar nicht lustig, dass man jetzt auf einen Summer drücken musste, damit das Tor aufging. Sie hätte lieber weiterhin ein offenes Haus geführt – aber das war mit ihrem Sohn nicht mehr möglich.“ „Die Familie von Wels war immer sehr angesehen hier im Ort“, bemerkte Berthold. „Es gab die halt schon ewig“, bekräftigte Elli.

„Das waren Freiherren, einfache von‘s, eigentlich nichts anderes als wohlhabende Bauern, die es sich später leisten konnten, die Landwirtschaft abzuschaffen und nur noch ihre Passionen zu pflegen. Und das war im Hause von Wels nun mal die Musik. Johannes hatte diese einzigartige Stimme, ein absolutes Gehör, und er konnte Klavier spielen wie ein junger Gott. Er liebte Frank Sinatra, kannte sämtliche Arrangements von dem. Aber Swing wollte hier damals keiner hören. Johnny sang in irgendwelchen Nachtclubs, sehr zum Missfallen seiner Eltern. Die dachten nämlich, er sei zum Studieren nach München gezogen. Er hatte da so seine kleine Fangemeinde… Tja, und irgendwann hörte ihm mal einer zu, der was zu sagen hatte. So kam Johannes von Wels zum ersten Plattenvertrag. …und zu diesem Künstlernamen.“

Elli verzog das Gesicht. „Und du kanntest ihn?“ fragte Britta staunend. „Ja, klar“, sagte Elli. „Du hättest mal die Geburtstagsfeiern in unserem Haus erleben sollen. Der spielte dann bis nachts um zwei so Sachen wie den „Mann am Klavier“ oder „Wir lagen vor Madagaskar“. Der war lustig und von einer großen Bodenständigkeit. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, er schämte sich seiner Berühmtheit ein wenig. Die goldenen Schallplatten bewahrte er jedenfalls im Keller auf, in so einem alten Schrank, in dem auch die Wintermäntel hingen. Johnny wollte immer ein einfacher Kerl sein, aber sie ließen ihn nicht. Sie zerrten ihn ins Rampenlicht, zogen ihm komische Klamotten an und dann musste er Liebesschnulzen singen.“

Britta durchforstete noch einmal ihr Gedächtnis. Als die ZDF-Hitparade in Rente ging, verschwand auch Johnny Riva von der Bildfläche. Sie konnte sich allenfalls an Auftritte in Oldie-Shows erinnern, in denen ein siebzigjähriger Mann in Glitzerhosen Lieder von italienischen Sonnenuntergängen schmetterte, seltsam unpassend und ein wenig würdelos. Johnny Riva war von der Zeit hinweggespült worden. „Armer Kerl“, sagte sie. „Und schließlich“, Ellis Stimme klang ein wenig brüchig, „erreichten uns hier die ersten Rezepte, die darauf hindeuteten, dass er ernsthaft erkrankt war. Schnell wurde offensichtlich, dass er niemanden mehr zu sich ließ, außer natürlich den Pflegedienst und die Ärzte. Weißt du, die große Tragik war ja…“

Britta wartete. „Er hatte niemanden. Sein einziges Kind war gestorben, seine beiden Ehen gescheitert, die Eltern längst tot. Keine Verwandten. Er wohnte da in diesem großen Anwesen in einer kleinen Wohnung, die er sich eingerichtet hatte. Die Leute, die so gut an ihm verdient hatten, kannten ihn nicht mehr. Der war auf den letzten Metern echt allein.“ Berthold griff nach einem silbernen Kugelschreiber und betrachtete ihn gedankenverloren. „Bis auf die Truus“, sagte er. „Ich glaube, die Truus war immer bei ihm.“ „Ach, Berthold“, entgegnete Elli weich. „Die Truus gibt es schon lange nicht mehr.“ Später, in Ellis Gästezimmer, ließ sich Britta die Fakten dieses Todesfalls noch einmal durch den Kopf gehen.

Erstens: Der unheilbar erkrankte ehemalige Schlagersänger Johannes von Wels alias Johnny Riva war an einer Überdosis Morphin gestorben. Zweitens: Er konnte sie nicht selbst genommen haben. Drittens: Nur das Pflegepersonal und die Ärzte durften noch zu ihm. Viertens: Die Packung mit den Morphin-Ampullen stand im Küchenschrank. Fünftens: Die PTA der Remigius-Apotheke war die letzte, die die Wohnung betreten hatte. Britta konnte schon verstehen, dass die Polizei an ihre Täterschaft glaubte. Nach der Ausschlussmethode konnte es ja gar nicht anders sein. Ich muss mit dem Pflegedienst sprechen, dachte sie. Vielleicht haben die was gesehen oder gehört. Oder es fehlt irgendein Fakt.

Die junge PTA hat nicht den mindesten Bezug zu dem Patienten gehabt. Und was hatte er überhaupt für eine Krankheit? Ich muss das alles in Erfahrung bringen. Britta streckte sich auf dem Bett aus. Nur mal kurz die Füße hochlegen und die Augen zumachen. Kaum berührte ihr Kopf das Kissen, war sie auch schon eingeschlafen. Am nächsten Morgen in der Apotheke legte Britta ein bisschen Hand an; die PKA kam später, weil die Polizei noch Fragen an sie hatte. Britta blätterte den Ordner mit den BtM-Rezepten durch. Johannes von Wels war reichlich mit Schmerzmitteln bedacht worden; alle zwei Wochen stand ein großes „A“ auf den gelben Formularen.

Elli steckte den Kopf mit den karottenroten Haaren ins Backoffice. „Britta? Du wolltest doch den Pflegedienst sprechen. Hier ist er grad. Ich schick die Christine zu dir nach hinten.“ „Die Christine“ war eine ungefähr vierzigjährige Frau mit Pferdeschwanz und Grübchen, gewandet in einen türkisfarbenen Kasack. Sie erzählte freimütig von ihrem Patienten, dem berühmten.

„Der war ja eigentlich ganz anders, der Herr von Wels, anders als dieser Schlagerheini im Fernsehen. Das war ein feiner, gebildeter und sehr charmanter Mann. Ich hab mir sagen lassen, dass die Frauen ihm früher zu Füßen lagen, und ich kann mir das gut vorstellen. Manchmal scherzte er mit mir, in seinen wenigen klaren Momenten, in denen das Morphin ihn noch nicht müde gemacht hatte. Er litt unter Osteosarkomen, wissen Sie, und er hatte sehr große Schmerzen. Aber er hat versucht, sich das nicht anmerken zu lassen. Ich hab ihn sehr bewundert. Dort, in seinem Zuhause, hingen im Wohnzimmer ein paar Fotos, die ihn während seiner großen Zeit zeigten. Er hat mit Peter Alexander gesungen, mit Udo Jürgens, einmal sogar mit Montserrat Caballé. Aber er hat dieser Zeit nicht nachgetrauert. Ich fand sowieso, dass diese Schlagerwelt gar nicht zu ihm passte. Er hätte Opernsänger werden können oder so. Seine Stimme hatte doch dieses große Volumen.“

„Es muss schlimm für ihn gewesen sein, nur noch im Bett zu liegen.“ Christine sah sie erstaunt an. „Aber er lag nicht nur im Bett. Manchmal hab ich ihn ins Bad begleitet, er brauchte zwar Hilfe beim Gehen, aber er konnte durchaus noch aufstehen. Nur tat er das am Ende nicht mehr gern. Es war zu mühsam. Es war die Zeit angebrochen, da es dem Ende zuging, und er wusste das.“ „Haben Sie das der Polizei gesagt? Ich meine, dass er eventuell noch selbst hätte in die Küche gehen können?“ „Ich glaube nicht, dass er das getan hätte. Sehen Sie, es war nur noch eine Frage von Tagen.“ „Hatte er eigentlich Freunde oder Nachbarn, die ihn besuchten?“ Christine schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“ „Sagt Ihnen der Name „Truus“ etwas?“

„Die Truus? Klar. Das ist der Dorfname seiner ehemaligen Freundin. Ihr Großvater stammte aus Holland, und er hat seine Enkelin immer so genannt.“ „Wann war das, ich meine – wann war er mit ihr zusammen?“ „Ach, das ist schon ewig her, sie war noch ganz jung, und er schon in den Fünfzigern… aber ich will da nicht zu viel erzählen. Fragen Sie sie doch selbst.“ Britta lachte amüsiert. „Bis ich die gefunden habe, vergeht viel zu viel Zeit. Wohnt sie hier in der Nähe?“ „Wie bitte? Sie machen wohl Scherze. Die steht vorn an der Kasse. Truus, das ist Ihre Kollegin. Die alten Leute im Dorf, die nennen sie immer noch so. Aber sie hört das nicht mehr gern. Weil es damals doch ziemliches Aufsehen, fast einen Skandal gab. Sie hat unser Dorf dann für eine ganze Zeit verlassen, bis sie später im Leben hierher zurückkehrte.“

Wie es weitergeht, erfahren Sie im Schlusskapitel in der Dezember-Ausgabe von „DIE PTA IN DER APOTHEKE“.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/18 ab Seite 108.

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