RCT und RWE
SMARTPHONES HELFEN BEI ARZNEIMITTELZULASSUNG
Seite 1/1 3 Minuten
Die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 haben medienwirksam daran erinnert, wie Wissenschaftler neue Arzneimittel einschätzen: In klinischen Studien prüfen sie, ob eine Substanz wirksam und sicher ist. Aussagekräftig sind solche Untersuchungen, wenn sie kontrolliert, randomisiert (Randomized Controlled Trial, RCT) und doppelblind an einer großen Studienpopulation durchgeführt werden. Wenn also möglichst viele Teilnehmer zufällig in eine Verum- und eine Placebogruppe eingeteilt werden und weder die Probanden noch ihre Ärzte wissen, ob sie das Test-Präparat oder ein Scheinmedikament erhalten. So verhindert man, dass ihre Erwartungen das Ergebnis verfälschen. Ein solches Studiendesign gilt als Goldstandard, Zulassungsbehörden vertrauen seit über 50 Jahren darauf.
Die Methode hat Grenzen Ein Problem sind seltene Erkrankungen. Hier ist es für pharmazeutische Unternehmen schwierig, überhaupt eine Teilnehmergruppe in aussagekräftiger Größe zu finden. Hinzu kommt, dass unser Wissen über Krankheiten stetig wächst. Ein Beispiel: Während 1996 „kleinzelliger Lungenkrebs“ eine einzige Krankheit war, ist es heute möglich, einzelne Mutationen der Karzinome zu bestimmen. Stand 2016 gibt es sechs Unterarten des kleinzelligen Lungenkrebses, die alle unterschiedlich therapiert werden. Entsprechend weniger Patienten leiden an den einzelnen Tumorarten, Studienpopulationen sind folglich kleiner.
Ein weiteres Dilemma sind lebensbedrohliche Krankheiten: Ist es ethisch vertretbar, Todkranken ein Placebo zu verabreichen, wenn das Verum ihnen das Leben retten könnte? Hier könnten sogenannte Real World Data (RWD) ins Spiel kommen. Es handelt sich dabei um Gesundheitsdaten, die nicht im Rahmen einer Zulassungsstudie, sondern in der Praxis erhoben werden. Diese Informationen stecken in elektronischen Patientenakten, in den Abrechnungsdaten der Krankenversicherer, in den Verordnungen der Ärzte, in unseren Smartphones und Fitnesstrackern. Die Gesamtheit aller Gesundheitsdaten besteht schätzungsweise nur zu fünf Prozent aus klinischen Studien, 95 Prozent entstehen im Alltag.
Um aus dieser riesigen Menge RWD verlässliche Aussagen abzuleiten, müssen Analytiker die Informationen aufbereiten. Nicht alle Daten sind geeignet. Für eine gute Datenqualität gelten drei Kriterien: Konformität mit vorgegebenen Formaten und Standards Vollständigkeit Plausibilität/Glaubwürdigkeit Aus den Daten, die diesen Ansprüchen genügen, müssen Forscher dann die Informationen auswählen, die für ihre Fragestellung relevant sind. Hierbei sollen spezielle Analysewerkzeuge und maschinelle Lerntechniken, also künstliche Intelligenz, zum Einsatz kommen. So werden aus Daten Belege: Man spricht nach dieser Aufbereitung nicht mehr von Real World Data, sondern von Real World Evidence (RWE).
Was bedeutet das?
+ RCT Randomized Controlled Trial, also randomisierte, kontrollierte Studien: der derzeitige Standard bei der Arzneimittelzulassung
+ RWD Real World Data, Patientendaten aus dem Alltag
+ RWE Real World Evidence, echte Patientendaten wissenschaftlich aufbereitet
In der Pharmakovigilanz kommt diese Methode bereits zum Einsatz. Pharmazeutische Unternehmen und Zulassungsbehörden nutzen RWE, um die langfristige Sicherheit von Arzneimitteln zu beurteilen. Bei Zulassungsverfahren sind sie insbesondere dann von Nutzen, wenn ein bereits bekanntes Medikament für eine neue Indikation verwendet oder die Anwendergruppe ausgeweitet werden soll. Die Zeit und die Kosten bis zur Zulassung sinken deutlich, wenn Real World Evidence einbezogen wird. Bei Neuzulassungen kann RWE insbesondere für Orphan Drugs gegen seltene Erkrankungen Einsichten liefern. Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat sich deshalb 2016 mit dem 21st Century Cures Act verpflichtet, diese Methode verstärkt zu nutzen.
Bis 2019 war RWE in den USA Bestandteil von 30 Arzneimittelzulassungen. In Europa verzeichnet die EMA im gleichen Zeitraum nur 16 Zulassungen auf Basis von Real World Evidence. Doch auch hier gewinnt sie an Bedeutung: 2018 veröffentlichten die Leiter mehrerer europäischer Arzneimittelbehörden, darunter auch BfArM-Präsident Karl Broich, einen gemeinsamen Artikel. In diesem verdeutlichen sie, dass randomisierte, kontrollierte Studien nicht mehr mit dem Entwicklungstempo neuer Therapien mithalten können und welche Möglichkeiten RWE bietet. Um Real World Evidence umzusetzen, benötigt man eine hochqualitative Datenerfassung. Und dafür wiederum Vorschriften für die Gesundheitsdienstleister wie Ärzte oder Apothekenmitarbeiter, die die elektronischen Patientenakten füttern und nutzen.
Vorreiter in Europa sind Österreich, Dänemark, Estland, Finnland, Luxemburg, Polen und die Slowakei. Die Studie „Real-world Evidence versus Randomized Controlled Trial: Klinische Forschung auf der Basis elektronischer Krankenakten“ hat klinische Studien und RWE verglichen. Das Fazit: „RCT-Forschung, die sich durch höchste Verlässlichkeit auszeichnet, und RWE-Forschung, die die tatsächlichen klinischen Aspekte widerspiegelt, können sich gegenseitig ergänzen. In der Tat könnten beide, sobald dies bewiesen ist, die mächtigste evidenzbasierte Forschungsmethode in der Medizin darstellen.“
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 03/2021 ab Seite 52.
Gesa Van Hecke, PTA/Redaktionsvolontärin