Repetitorium
SCHIZOPHRENIE – TEIL 3
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Im Vergleich zu den klassischen Neuroleptika sollen die atypischen Neuroleptika eine ganze Reihe von Vorteilen besitzen. Doch eine differenzierte Betrachtung – die Auswertung zahlreicher Studien – zeigt: Die zweite Generation der Neurolpetika ist nicht immer überlegen. Vielmehr gilt es ärztlicherseits die Antipsychotika individuell auszuwählen und dabei viel genauer auf weitere körperliche Erkrankungen des betroffenen Patienten zu achten.
Atypische Neuroleptika Als hauptsächliche Vorteile der zweiten Neuroleptika-Generation wird in der Literatur aufgeführt:
– stärkere Wirkung auf das mesolimbische dopaminerge System
– erweitertes antipsychotisches Wirkspektrum, Wirksamkeit auch bei Non-Respondern (also Schizophrenie-Erkrankten, bei denen die Klassika nicht angeschlagen haben),
– weniger Katalepsie (Starrsucht, eine neurologische Störung) – kaum oder wesentlich weniger extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen (deutlich weniger Bewegungsstörungen),
– bessere Wirkung bei Negativsymptomatik, also Antriebsarmut und Interesselosigkeit, sozialer Rückzug, Freudlosigkeit, verminderte emotionale Reaktionen, Sprachverarmung. Die Wahnvorstellungen (Plus-Symptome) werden durch die Neuroleptika der zweiten Generation zwar ebenfalls gedämpft, zugleich aber auch die Minus-Symptome, die fehlenden Fähigkeiten des Betroffenen, wieder aufgebaut. Dieses erweiterte Wirkspektrum zeigt sich darin, dass die Betroffenen ihre Emotionen wieder besser wahrnehmen, die kognitiven Funktionen verbessern sich, das Interesse an Dingen flammt wieder auf. Die Lebensqualität erhöht sich deutlich.
Als biochemische Grundlage dieser „besseren“ Wirkung wird in der Literatur angeführt, dass die atypischen Neuroleptika im Gegensatz zu den klassischen neben vorwiegend D2-Rezeptoren auch noch eine ganze Reihe weiterer Rezeptoren (etwa Serotonin-Rezeptoren, Muscarin-Rezeptoren) besetzen. Dabei sind die Atypika in Struktur und pharmakologischen Eingeschaften recht unterschiedlich. Als Prototyp, da erster Vertreter der atypischen Neuroleptika (1972 auf den Markt gebracht), gilt Clozapin.
Die Substanz wird zu über 90 Prozent resorbiert, hat eine Bioverfügbarkeit von 50 bis 60 Prozent – ganz ähnlich dem Klassiker Haloperidol. Vielfach anstelle von Haloperidol verschrieben, wurde es von zahlreichen Patienten im Alltag tatsächlich wesentlich besser toleriert. Da nach Clozapin-Gabe im Vergleich zu anderen Neuroleptika aber häufiger ein metabolisches Syndrom, vor allem aber Agranulozytosen (starke Verminderung der Granulozyten im Blut) mit teils tödlichem Ausgang auftraten, ist die Anwendung der Substanz heutzutage mit strengen Auflagen (schriftliche Aufklärung, regelmäßige Blutbildkontrolle) verbunden.
Weiterhin angewendet wird der Wirkstoff dennoch: Er zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass er häufig auch in Fällen wirkt, bei denen mit anderen Neuroleptika kein ausreichender Effekt zu erzielen ist. Ansonsten existiert keine Präferenz für eine einzelne Substanz. Die Auswahl muss immer individuell anhand der vom Betroffenen ausgeprägten Schizophrenie-Symptomatik erfolgen. Neue Wirkstoffe sind vergleichsweise rar. Lurasidon erhielt als neues atypisches Antipsychotikum zwar im März 2014 eine EU-Zulassung – nachdem es bereits seit 2011 in den USA und seit 2013 in der Schweiz erhältlich ist.
Der Wirkstoff zeigt eine hohe Affinität zu D2-Rezeptoren, aber auch zu verschiedenen Serotonin-Rezeptoren/adrenergen Rezeptortypen, weshalb es sowohl gegen Positiv- (Halluzinationen, Wahnvorstellungen) als auch Negativ-Symptome (wie Antriebsmangel und sozialer Rückzug) bei der Schizophrenie helfen soll – bei gleichzeitig besserem Nebenwirkungsprofil. In Deutschland war die Substanz allerdings nur knapp vier Monate auf dem Markt. Eine negative Bewertung im Februar 2015 seitens des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) veranlasste das Aus.
In den USA seit September 2015 auf dem Markt befindet sich als neuartiger Wirkstoff zur Behandlung der Schizophrenie (und bipolaren Störung) Cariprazin. Die Substanz greift an den D2- sowie D3-Rezeptoren an – und insbesondere die hohe Selektivität gegenüber dem D3-Rezeptor soll erklären, warum Cariprazin neben den Positivsymptomen auch die Negativsymptome gut beeinflusst. Cariprazin steht in Kapselform zur Verfügung und soll einmal täglich eingenommen werden. In Deutschland ist der Wirkstoff bisher noch nicht zugelassen.
Im Bereich des Hoffungsträgers Glutamat als Neurotransmitter (Modifikation des Glutamatstoffwechsels, siehe Repetitoriumsteil 1 „Glutamathypothese“) wird zwar geforscht, einige Substanzen waren und so manche sind noch in der klinischen Erprobung – aber mehr auch nicht. Und so wartet die gesamte Psychatrie seit Jahren auf wirklich neue Pharmaka mit innovativen Wirkmechanismen. Alle Forschungen verfolgen natürlich letzlich das Ziel, dem einzelnen an Schizophrenie Erkrankten eine auf sein Gehirn abgestimmte, möglichst wirksame, aber nebenwirkungsarme Therapie anzubieten.
Nebenwirkungen – nicht zu unterschätzen Die D2-Rezeptoren im menschlichen Gehirn spielen nicht nur in den dopaminergen Synapsen des limbischen Systems, die für die antipsychotische Wirkung der Neuroleptika besonders bedeutsam sind, eine wesentliche Rolle. Sie sind auch in die Signalübertragung weiterer Systeme eingebunden, die für die Steuerung der extrapyramidal-motorischen Bewegungen und für die Regulation der Prolaktinfreisetzung verantwortlich sind.
Die Folge sind zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen. Insbesondere die schon nach wenigen Wochen deutlich sichtbare Gewichtszunahme, teils mit Glukoseintoleranz und weiteren metabolischen Störungen einhergehend (vor allem bei den Atypika) sowie die durch die Blockade der Dopaminrezeptoren im Striatum (Streifenkörper, hochkomplexer motorischer Regelkreis des Großhirns) bedingten extrapyramidal-motorischen Störungen (vor allem bei den Klassika) machen Betroffenen zu schaffen: maskenhafte Gesichtszüge, ungelenke Bewegungen, ähnlich wie bei Parkinson, Unruhe in den Beinen und Muskelverkrampfungen an Augen, Mund und Hals, etwa ruckartiges Herausstrecken der Zunge, Blickkrämpfe und Zucken der mimischen Muskulatur.
Für alle ist praktisch sichtbar, dass der Betreffende Antipsychotika nimmt, weshalb diese Nebenwirkungen denkbar unerwünscht sind. Die parkinsonähnlichen Symptome lassen sich zwar durch Anticholinergika mildern, ganz verschwinden sie aber nicht. Auch erhöhen die bei Schizophrenie eingesetzten Antipsychotika das kardiale Risiko. Sowohl unter typischen als auch unter atypischen Neuroleptika haben Patienten dosisabhängig ein erhöhtes Risiko, an einem plötzlichen Herztod zu sterben. Im Übrigen ist interessant: Weibliche Patienten haben häufiger Nebenwirkungen als männliche.
„ATYPISCHE“ NEUROLEPTIKA – MERKE!
Als „Faustregel“ sollen insbesondere die Minus- Symptome (Antriebsmangel, sozialer Rückzug) und die kognitiven Defizite einer Schizophrenie verbessert werden. Folge: Der Patient fühlt sich rasch besser, Betreuung und Umgang mit ihm werden wesentlich erleichtert. Die Medikamenten-Compliance steigt. Extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen (Bewegungsstörungen) sind vorhanden, allerdings nicht so stark ausgeprägt wie bei den „Klassika“. Metabolische Nebenwirkungen und Gewichtszunahme sind umgekehrt stärker therapielimitierend, da vergleichsweise ausgeprägter (Ausnahme: Amisulpirid, Aripiprazol, Ziprasidon).
Wirkstoffe: Amisulpirid, Aripiprazol, Clozapin, Olanzepin, Quetiapin, Paliperidon, Risperidon, Sulpirid, Ziprasidon
Applikationsart und -dauer Die meisten Antipsychotika gibt es als Tabletten, Schmelztabletten oder Lösung zum Einnehmen. In der Langzeittherapie wird mehr und mehr zu Depot-Antipsychotika übergegangen, die im Regelfall in Muskel (Oberarm- oder Gesäßmuskulatur) gespritzt werden und über Wochen mit dem benötigten Medikament versorgen. Klarer Vorteil: Die Compliance! Und die Lebensqualität!
Die Sorge, eine Tablette zu vergessen, gibt es nicht mehr. Und der Betroffene wird nicht andauernd an seine Erkrankung erinnert. Die Flexibilität im Alltag steigt. Zudem wirkten – so das Ergebnis einer Metaanalyse von 65 Studien aus mehr als 50 Jahren, veröffentlicht im Fachjournal „Lancet“ – Depotpräparate zuverlässiger als oral einzunehmende Medikamente. Auch die Behandlung selbst dauert relativ lange: etwa ein bis zwei Jahre bei Ersterkrankung und vier bis fünf Jahre bei einem Rezidiv.
Gegebenfalls muss eine von Schizophrenie betroffene Person ein Leben lang Antipsychotika einnehmen. Nach Studienlage verhindert eine niedrig dosierte Erhaltungsmedikation Rückfälle wohl besser als eine Intervalltherapie. Ein kontinuierlicher neuroleptischer Schutz ist demzufolge vorzuziehen. Eine Kombitherapie wird in den Leitlinien nicht empfohlen und sollte – wenn sie individuell vom Arzt erwogen wird – grundsätzlich auf ein Minimum beschränkt sein.
WICHTIG ZU WISSEN!
Wenn jemand ein Rezept über ein „Schizophrenie- Medikament“ (Neuroleptikum) einlöst: Im „Off-Label- Use“ helfen diese auch gegen das Tourette-Syndrom und werden von Ärzten deshalb teils auch hiergegen verschrieben! Ebenso versucht man manchmal Depressionen, andere Persönlichkeitsstörungen, Zwangserkrankungen, ADHS bei Kindern und Autismus mit einem Neuroleptikum besser in den Griff zu bekommen.
Wichtigste Nebenwirkung der Neuroleptika: Gewichtszunahme, Bewegungsstörungen, Benommenheit.
Weitere Medikamentengruppen Im Zusammenhang mit einer Schizophrenie werden seitens des verordnenden Psychiaters des öfteren auch weitere Medikamentengruppen ergänzend unterstützend eingesetzt. Sedativa (Beruhigungsmittel) lösen Angstzustände und wirken entspannend, die Gruppe der Benzodiazepine (Lorazepam, Diazepam, Clonazepam) reduziert zudem die häufig belastenden Schlafstörungen und kann auch die Positivsymptome günstig beeinflussen.
Lithium und Antikonvulsiva, wie Carbamazepin, Valproinsäure und Lamotrigin, helfen bestimmten Schizophrenie- Subgruppen unterstützend antipsychotisch. Antidepressiva, wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder trizyklische Antidepressiva, werden zur Behandlung depressiver Symptome bei einer Schizophrenie verwendet und können zudem bei Negativ-, Zwangs- und Angstsymptomen wirksam sein. Auch existieren Hinweise, dass die Aminosäure Glycin oder auch D-Serin die Symptome von Schizophrenie verringern. Und vorbeugend?
Es gibt Forschungen (Studien), die zeigen, dass Fischöl beziehungsweise eine hohe Konzentration an mehrfach ungesättigten Omega-3-Fettsäuren, bei Gefährdeten einen Schizophrenie-Ausbruch abwenden können.
Compliance und Sport essentiell Das A und O einer erfolgreichen Schizophrenie-Therapie ist eine hohe Compliance, das heißt die regelmäßige, korrekte Einnahme der verschriebenen Medikamente, was Dosis, Zeit, aber auch Dauer betrifft. Hierzu kann die PTA im Abgabe-Beratungsgespräch die Betroffenen und deren Angehörige ermutigen und unterstützen. So sollte bei der Abgabe von Neuroleptika der Hinweis erfolgen, die Medikamente wirklich vorschriftsmäßig einzunehmen, die Dosis nicht eigenmächtig zu ändern, zu unterbrechen oder gar abzusetzen.
Die Messung der Compliance ist heutzutage sogar via elektronischer Patiententagebücher möglich. Die Betroffenen werden zu einem programmierten Zeitpunkt per Klingelton aufgefordert, das Arzneimittel einzunehmen und diese Einnahme zu bestätigen. Dies sollte angesprochen und dazu geraten werden. Alle Fragen zur Therapie sollten mit dem Betroffenen geklärt sein, wobei generell natürlich eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Patient, Arztpraxis und Apotheke wesentlich und hilfreich ist.
Betroffene sollten wissen, dass eine vergessene Dosis nicht einfach am nächsten Tag nachgeholt werden darf. Ebenso, dass Alkohol die Wirkung der meisten Neuroleptika verstärkt, Alkoholkonsum somit möglichst zu vermeiden ist. Auch die Apotheken-EDV ist mittlerweile so gut ausgereift, dass schon der Blick oder das Antippen angezeigter Icons jeder Apothekenmitarbeiterin wesentliche Hilfestellung für das Abgabe-Beratungsgespräch liefert.
Wichtig ist natürlich immer ein offenes Ohr: Nur wer aktiv zuhört, kann arzneimittelbezogene Probleme auch erkennen und lösen. Hinzu kommt als Tipp: Schizophrenie-Patienten können mit Sport ihr Herz-Kreislauf-Risiko senken und ihre körperliche Leistungsfähigkeit verbessern. Sport kann – nach entsprechender ärztlicher Untersuchung und eventueller ergänzener Therapie aufgrund des generell erhöhten kardiovaskulären Risikos von an Schizophrenie Erkrankten (Gefahr einer erhöhten Herzfrequenz mit dem Risiko eines Herzinfarktes oder eines plötzlichen Herztods) – ein sinnvoller Therapiebaustein sein. Größtes Problem: Die Motivation! Auch hier kann Zuspruch, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden, helfen.
Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin und Fachjournalistin