Bücher, von denen man spricht
SAGENHAFTE KRÄUTER
Seite 1/1 4 Minuten
Hera, Gattin des Göttervaters Zeus, war schlechter Laune: Beim Nähen war ihr der schützende Fingerhut vom Finger gerutscht und auf die Erde gefallen. Ihr Ehemann, der stets ein schlechtes Gewissen wegen seiner Untreue hatte, nahm die Gelegenheit wahr, seiner Frau ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern: Er wandelte das Käppchen um in eine wunderschöne Blume. Etwas anders verhielt es sich beim kleinen Volk, den Elfen: Dieselbe Pflanze, der rote Fingerhut, verneigte sich vor jeglichem überirdischen Wesen, das an ihr vorbeizog. Weshalb es die Feen und Elfen sehr gern als modische Kopfbedeckung benutzten. Nur die Bösen unter ihnen steckten jeweils eine Blüte über die Tatzen des Rotfuchses: Derart beschuht gelang es ihm, leise an die Hühnerställe zu gelangen und diese zu plündern. Weshalb die Engländer dem Digitalis purpurea den Namen „Foxglove“ gaben.
Unkräuter gibt es nicht Die Apothekerin Petra Schicketanz ist mit Haut und Haaren den Kräutern verfallen. Und das, obwohl zunächst gar nichts auf ihre Passion hinwies: Sie wuchs in einem Hochhaus auf, ist ein Stadtkind gewesen. Nie begriff sie, warum „Un-Kräuter“ so hießen: „Es gibt doch auch keine Un-Bäume oder Un-Sträucher“, wunderte sie sich. Stattdessen, sagt sie, hinterließen die Unkräuter in ihrem Denken das Samenkorn der Faszination. Sie studierte Pharmazie, absolvierte danach eine Ausbildung zur Heilpraktikerin und schrieb als Fachjournalistin immer wieder über Heilpflanzen. Und sie veranstaltet Kräuterwanderungen, auf denen sie Geschichten zu den teilweise unscheinbaren Pflänzchen erzählt.
„Jetzt kann ich mir endlich die Besonderheiten der Pflanzen merken“, hört sie am Ende der Veranstaltung immer wieder. Es wundert sie nicht: „Beleuchtet doch jede Sage den Charakter einer Pflanze und ihre eigenartigen, sagenhaften Fähigkeiten.“ Was lag da näher, als ihre weitreichenden Kenntnisse zu einem Buch zusammenzufassen: „Sagenhafte Kräuter“ erzählt von den alten Mythen, die die Naturapotheke unserer Vorfahren begleiten und gibt nicht nur so manchen Tipp, deren Heilkraft in den Alltag zu integrieren, sondern erweckt auch die Lust, sich mit den Wildkräutern zu beschäftigen. Denn im Grunde handelt es sich um die Vorstufe der modernen Pharmazie.
Die Geschichte zum Gewächs Im Fach Botanik lernt jede PTA Aussehen, Inhaltsstoffe und Wirkweisen derjenigen Pflanzen kennen, die später als Teedroge verkauft, in Hustensäften und Badezusätzen, als Lutschtablette und Beruhigungsmittel an- geboten werden. Wie hilfreich wäre da doch, wenn zu jedem Gewächs die passende Geschichte präsentiert würde, als so eine Art „Herkunftsnachweis“. Beispiel Tollkirsche: Der lateinische Gattungsname der Tollkirsche entstammt dem Mythos über die römischen Schicksalsgöttinnen. Drei an der Zahl, saßen sie bei der Geburt eines Kindes an ihrem Webstuhl und woben dessen Schicksal auf Erden.
Die dritte, Atropos, war für das Abschneiden des Lebensfadens zuständig, sie wählte nicht nur den Todeszeitpunkt aus, sondern auch die Todesart und entschied damit, ob und wie sehr der Sterbende am Ende seines Lebens leiden muss. Der Botaniker Carl von Linné fand diese Geschichte so faszinierend, dass er die Legende als Namensgeber der Frucht des Nachtschattengewächses bestimmte: Atropa belladonna heißt die Schwarzglänzende Beere, deren Extrakt sich die Damen der Renaissance auf den Augapfel träufelten, damit die Pupille schön groß und weit wurde – und sie zur bella donna, zur schönen Frau verwandelte.
Praktische Kräuterzigarette Während also in der PTA-Ausbildung und natürlich auch im Pharmaziestudium von Flavonoiden, ätherischen Ölen, Furanocumarinen, Gerbstoffen und Alkaloiden die Rede ist – sie kommen selbstverständlich im Buch auch zu ihrem Recht – wird jede Heilpflanze einleitend mit ihrer besonderen Geschichte präsentiert, was ihr ein beinahe liebevolles, persönliches Gepräge gibt. Und so manche Information gibt’s noch obendrauf: Wussten Sie, dass die großen Blätter der Roten Pestwurz früher gern als Klopapier verwendet wurden? Die pharmakologischen Bestandteile der Pflanze halfen den Anwendern nämlich bei Wurmbefall. Oder der Huflattich: Nachdem man seine heilende Wirkweise als Antitussivum festgestellt hatte, verwendete man seine spitzen Blätter gern in getrockneter Form als Tabakersatz: Auch eine Art, mit Raucherhusten umzugehen.
Die blaue Wegwarte heißt so, da es sich bei ihr eigentlich um eine verwandelte Prinzessin handelt, die schon seit Jahrhunderten am Wegesrand auf ihren Prinzen wartet. Und die Schafgarbe (die von Schafen so gern gefressen wird) heißt im Englischen „Nosebleed“. Warum? Weil die englischen Schulkinder sich deren Blättchen gern in die Nasenlöcher steckten und damit Nasenbluten erzeugten – eine prima Methode, um sich spontan vom Unterricht befreien zu lassen. Natürlich waren die naturheilkundlichen Bemühungen unserer Vorfahren oftmals nicht ganz ungefährlich. Der Wurmfarn wurde beispielsweise gern als Mittel gegen Bandwürmer benutzt. Die Inhaltsstoffe des Wurzelsstockes enthalten Phloroglucin, das die Würmer lähmt und sie mittels eines anschließend eingenommenen Abführmittels nach draußen befördert. Leider reagiert der Mensch darauf systemisch; die Behandlung kann selbst in therapeutischer Dosierung zu Übelkeit, Durchfall und Kopfschmerzen führen. Bei Überdosierung sind sogar Leberschäden möglich.
Übertrag in die Moderne Doch so manche heilende Eigenschaft eines so genannten Unkrauts lässt sich sehr gut in die heutige Zeit übertragen. Der Wegerich, der mit seinen ledrigen Blättern an jedem Pfad und auf jeder Wiese zu finden und praktisch unverwüstlich ist, eignet sich nicht nur als wundheilendes Pflaster, sondern auch als entzündungshemmendes, blutstillendes Pharmakon. Wessen Kind mitten im Wald in eine Ansammlung Brennnesseln gefallen ist, der sollte sich einige Blätter in den Mund stecken, diese zerkauen, den Brei auf die juckenden, schmerzenden Quaddeln streichen und dieses Prozedur alle vier bis fünf Minuten mit neuen Blättern wiederholen. Hilft wirklich!
Den Gattungsnamen Plantago von planta, die Fußsohle, erhielt das Gewächs übrigens von den Römern: Sie nutzten die Blätter als Schuheinlage bei ihren endlosen Märschen quer durch Europa. Angeblich, so sagt die Autorin, haben sie dazu den Wegerich sogar auf ihren Routen angebaut. Doch wer die Pflanze kennt, der weiß, dass sie dazu gar keine Hilfe benötigt: Plantago lanceolata wächst nun wirklich überall. Fazit: Wer sich im Botanik-Unterricht leicht langweilt und an endlosen Mikroskopie-Zeichnungen leidet, für den ist dieses Buch eine willkommene Ergänzung.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 06/19 ab Seite 128.
Alexandra Regner, PTA und Journalistin
Petra Schicketanz: Sagenhafte Kräuter – Geschichten am Wegesrand. Softcover, 208 Seiten, mit vielen farbigen Bildern, Taschenbuch, ISBN 978-3-96133-900-6, 15,95 €