Repetitorium
PALLIATIVMEDIZIN – TEIL 2
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Wenn das Leben geht, beginnt die Palliativversorgung. Es stehen die Probleme, Sorgen und Nöte des Patienten und nicht die Erkrankung im Vordergrund. Medikamentöse sowie nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten Hand in Hand gehen, um die Symptome der Erkrankung zu lindern und die Lebensqualität des Betroffenen möglichst hoch zu halten.
Palliativpatienten leiden vorwiegend und meistens gleichzeitig unter vielen Symptomen: Schwäche, Müdigkeit, Anspannung, Angst, Appetitlosigkeit gehören hierzu. Der Wunsch nach Familie, nach Hilfe bei Aktivitäten des täglichen Lebens, Abhilfe bei Pflegeproblemen nimmt großen Raum ein. Auch Depressivität und Desorientiertheit spielen eine Rolle.
In der pharmakotherapeutischen Behandlung steht oft die Linderung von Schmerzen, Atemnot, Obstipation , Übelkeit und Erbrechen im Vordergrund. Eine vollständige Symptomfreiheit ist allerdings meist nicht erreichbar. Ebenso können einige Symptome auch Nebenwirkungen von Arzneimitteln sein. Hier kann der Apotheker mit seinem pharmazeutischen Personal als Arzneimittelspezialist tätig werden, Probleme erkennen und Lösungen anbieten.
Grundregeln Arzneimitteltherapie Die medikamentöse Behandlung belastender Symptome ist eine tragende Säule bei der palliativmedizinischen Versorgung eines Patienten. Es muss sich vergegenwärtigt werden: Neben den Arzneimitteln zur Behandlung der Grunderkrankungen werden häufig von den Betroffenen noch fünf und mehr Arzneimittel zur Behandlung von Symptomen eingenommen. Ein reflektierter Umgang mit den Medikamenten unter Einbindung des Patienten ist deshalb von enormer Bedeutung.
Noch viel zu häufig werden Nebenwirkungen oder Medikamenteninteraktionen übersehen, Arzneimittel unter- oder überdosiert. Anderseits ist auch die Unterscheidung zwischen Neben- beziehungsweise Wechselwirkung und einem Fortschreiten des Krankheitsprozesses eine große Herausforderung. Die Patientenzufriedenheit sollte im Mittelpunkt stehen, da diese der entscheidende Faktor für die Lebensqualität darstellt. Insofern ist in der Palliativpharmazie auch die Kunst des Weglassens gefragt.
Man muss den Nutzen jeder Medikation angesichts der persönlichen Situation des Patienten und seiner Lebenserwartung genau prüfen, so die Einstellung von Constanze Rémi, Apothekerin am Klinikum München Großhadern und Sprecherin des Arbeitskreises ApothekerInnen bei der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Medikamente gegen Bluthochdruck, Lipidstörungen, Osteoporose können nach Rücksprache mit dem Arzt häufig abgesetzt werden.
Bei Herzinsuffizienzpatienten wird die Therapie mit Diuretika wie Furosemid in der Regel am längsten fortgeführt – nicht mit dem Ziel der Blutdrucksenkung, sondern um den Komplikationen von Ödemen vorzubeugen. Ein kommentarloses Absetzen seitens des Arztes ist allerdings sträflich. Anstatt eine Erleichterung zu sein, könnte es als Aufgeben des Patienten oder Ähnliches gewertet werden.
Für viele Palliativpatienten, die noch nicht von einem SAPV-Team betreut werden, gilt zudem: Sie werden vom normalen Hausarzt betreut, von der Stammapotheke versorgt. Diese kann sich dabei durchaus einen festen Platz in der ambulanten Palliativversorgung erarbeiten. Patienten und Angehörige würden es ihr danken. Häufig fehlt es dem Apothekenpersonal aber an Selbstbewusstsein, den behandelnden Arzt beispielsweise auf eine mögliche Optimierung einer Schmerztherapie hinzuweisen.
Auch scheint so manchem Mediziner noch immer unbekannt zu sein, dass er bei einer Opioidtherapie und für bestimmte Tumorpatienten Laxanzien zu Lasten der Gesetzlichen Krankkasse (GKV) verordnen kann. Dabei sollte gerade aufgrund der vorhandenen Erfahrung manche Nebenwirkung schon prophylaktisch behandelt werden, etwa Obstipation, also Verstopfung bei einer Opioidtherapie.
Hoher Bedarf für ein Mehr an Lebensqualität
Das lateinische Wort „pallium“ bedeutet Mantel. Die Palliativmedizin soll den unheilbar erkrankten Menschen also in eine Art Mantel hüllen, in dem er sich geborgen fühlt. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Apothekenmagazins „Senioren Ratgeber“ ergab: Drei Viertel der Deutschen (65,7 Prozent) sind einer palliativen Begleitung mit medizinischer, pharmazeutischer, pflegerischer, psychosozialer und spiritueller Betreuung sehr aufgeschlossen. Sie würden im Fall einer unheilbaren Krankheit versuchen, eine solche Behandlung für sich in Anspruch zu nehmen. Gleich nachdem die Diagnose „unheilbar erkrankt“ gestellt würde, würde jeder Dritte (30,7 Prozent) baldmöglichst eine palliativmedizinische Versorgung wünschen.
Die Einnahme der Medikamente muss wirklich regelmäßig und entsprechend der Wirkdauer erfolgen. Ein festes Zeitschema ist unabdingbar. Medikamente mit achtstündiger Wirkdauer sind also nicht „morgens – mittags – abends“ einzunehmen, sondern möglichst tatsächlich alle acht Stunden. Idealerweise sollten Patienten beziehungsweise Angehörige und Pflegende immer über einen aktuellen Medikamentenplan mit genauer Uhrzeit und Indikation verfügen. Für die meisten Patienten sind zudem Retardpräparate sinnvoller, da sie das Medikationsregime vereinfachen, eine Senkung der Tablettenlast bewirken und geringere Blutspiegelschwankungen auslösen.
Besonderheiten Arzneimitteltherapie Ein Off-Label-Use, also die Anwendung von Arzneimitteln außerhalb ihrer Zulassung, kommt in der Palliativmedizin vergleichsweise häufig vor. So hat sich etwa der Einsatz von Antidepressiva oder Antiepileptika bei neuropathischen Schmerzen bewährt, ebenso die Verwendung von Opioiden zur Behandlung von Atemnot. Das pharmazeutische Fachpersonal sollte über den Off-Label-Use informiert sein, um Fehlberatungen beziehungsweise Patientenverunsicherungen zu vermeiden.
Bekannt sollte auch sein: Die Datenbasis für die Off-Label-use-Anwendung entspricht verständlicherweise meist nicht den Anforderungen an eine evidenzbasierte Medizin. Die pharmazeutischen Unternehmen werden sich bei möglicherweise auftretenden Schäden auf Haftungsausschluss berufen. Auch die Erstattung durch die Gesetzlichen Krankenkassen ist nicht sicher.
Manche Medikamente können auch zur zeitgleichen Behandlung mehrerer Symptome beim zu versorgenden Palliativpatienten eingesetzt werden. Auch Nebenwirkungen lassen sich zunutze machen: So hilft der krampflösende Wirkstoff Butylscopolamin bei der Behandlung kolikartiger Schmerzen im Bauchraum, aber gleichzeitig reduziert er auch die Flüssigkeitsabsonderung in den Magen-Darm (gastrointestinale Sekretion) bei Erbrechen. Das Antidepressivum Mirtazapin wird natürlich zur Behandlung von Depressionen und neuropathischen Schmerzen eingesetzt, wirkt gleichzeitig aber auch appetitanregend und schlaffördernd.
Das Antidepressivum Amitriptylin hilft in erster Linie zwar ebenfalls bei der Behandlung von Depressionen und zur langfristigen Schmerzbehandlung. Es hilft aber auch bei Patienten mit der unheilbaren Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), einer Erkrankung die den gesamten Körper samt Atmung nach und nach lähmt, den Speichelfluss zu reduzieren.
Bei Entlassungen eines Patienten aus der Klinik in den ambulanten Bereich ist der rechtzeitige Kontakt mit dem weiterbehandelnden Arzt sowie der Apotheke, welche möglichst ortsnah die Versorgung übernehmen soll, sehr wichtig. Sonst sind unerwünschte Versorgungslücken möglich. Aufgrund des jahrelangen Einsatzes und der Forderungen der Palliativmediziner hat der Gesetzgeber für die Versorgung palliativer Notfallsituationen im letzten Jahr sogar strukturelle Neuerungen veranlasst.
Dies betrifft das Betäubungsmittel (BTM)-Gesetz, die Betäubungsmittel-Verschreibungs-Verordnung (BTM-VV) sowie die Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO). Letztere bestimmt, dass neben anderen Notfallarzneimitteln nun auch Betäubungsmittel in verschiedenen Darreichungsformen vorrätig gehalten oder kurzfristig beschaffbar (transdermal, transmukosal) sein müssen.
Vorzuhalten in jeder Apotheke sind Opioide zur Injektion, Opioide zum Einnehmen mit unmittelbarer Wirkstofffreisetzung (unretardiert) sowie Opioide zum Einnehmen mit veränderter Wirkstofffreisetzung (retardiert). Die Wirkstoffauswahl selbst trifft der Apotheker. Allerdings kann eine konkrete Liste mit Empfehlungen für die Bestückung des Notfalldepots in der Apotheke gemäß § 15 Abs. 1 ApBetrO bei den jeweiligen Landesapothekerkammern leicht abgerufen werden.
WHO-Stufenplan
… zur Schmerztherapie, insbesondere bei chronischen Tumorschmerzen:
+ Stufe 4 invasive Therapieformen (rückenmarksnahe Applikation) bei persistierenden und stärker werdenden Schmerzen
+ Stufe 3 starke Opioide bei persistierenden und stärker werdenden Schmerzen
+/- Nicht-Opioid-Analgetika
+/- Ko-Analgetika (Beispiele: Buprenorphin transdermal, Fentanyl transdermal, Hydromorphon oral, Morphin oral, Oxycodon oral)
+ Stufe 2 schwache Opioide bei persistierenden und stärker werdenden Schmerzen
+/- Nicht-Opioid-Analgetika
+/- Ko-Analgetika (Beispiele: Tramadol, Tilidin/Naloxon, Dihydrocodein, Codein)
+ Stufe 1 Nicht-Opioid-Analgetika
+/- Ko-Analgetika
(Beispiele: Metamizol, Diclofenac, Naproxen, Ibuprofen, Paracetamol).
Wesentliche Änderungen betäubungsmittelrechtlicher Regelungen, die für die ambulante Palliativversorgung von besonderer Bedeutung sind, betreffen erstens die Einrichtung eines BTM-Notfallvorrates in SAPV-Einrichtungen und Hospizen, zweitens Kriterien zur Wiederverschreibung und Weiterverwendung nicht mehr benötigter BTM sowie drittens eine Regelung zur begrenzten Überlassung von BTM in Ausnahmesituationen. Indem Ärzte nun unter sehr strengen Auflagen ein BTM für die nächsten drei Tage aus ihrem Bestand beim Patienten belassen dürfen, wurde ihnen quasi ein „kleines“ Dispensierrecht eingeräumt.
Organinsuffizienz, also die deutliche Abnahme einer ordnungsgemäßen Organfunktion, ist mit Fortschreiten einer tödlichen Erkrankung und bei nahendem Tod relativ häufig. Das bedeutet meist Nieren- und Leberinsuffizienz sowie eine veränderte Verstoffwechselung von Arzneistoffen, samt anderer Verteilung und Ausscheidung als üblich. Folgen einer auftretenden Organinsuffizienz sind: Schwierigkeiten bei der Symptomkontrolle, neue unangenehme Symptome sowie eine deutliche Zustandsverschlechterung des Palliativpatienten. Dann müssen die Medikamente in ihrer Dosierung an die Organfunktion angepasst, womöglich sogar ganz abgesetzt werden.
In der Sterbephase können viele Patienten nicht mehr schlucken. Auch dies begrenzt die Arzneimitteltherapie. Die nicht-perorale Zufuhr nimmt einen großen Raum ein und viele der behandelnden Ärzte sind dankbar für Hinweise auf alternative Arzneiformen oder die mögliche Applikation über eine bereits liegende Sonde oder einen subkutanen Zugang. Insbesondere die subkutane, also die Medikamentengabe „unter die Haut“, hat sich bewährt, da sie vergleichsweise einfach handhabbar und ambulant von Pflegenden oder eingewiesenen Angehörigen gut durchführbar ist.
Der Schmerz Eine gute Therapie ist Grundvoraussetzung für eine entsprechende Lebensqualität. Die erfolgreiche Schmerztherapie setzt eine gründliche Anamnese und Dokumentation voraus. Der Charakter, die Lokalisation, die Dauer und Intensität des Schmerzes müssen festgehalten werden. Die Stärke selbst ist eine subjektive Empfindung. Um die Schmerzintensität zu erfassen eignen sich Messskalen wie die numerische Ratingskala (0 = kein Schmerz, 10 = unerträglicher Schmerz) oder die visuelle Analogskala, etwa in Form von Schmerzlinealen. Ambulant empfiehlt es sich für den Patienten ein Tagebuch zu führen.
Entscheidungen in der Behandlung müssen patientenindividuell getroffen werden, wobei wichtig ist die individuell angepasste Therapie den Patienten und Angehörigen schriftlich anhand eines mitgegebenen Therapieplans genau zu erläutern. Als Orientierungshilfe für die Behandlung sind die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der European Association für Palliative Care (EAPC) hilfreich. Die WHO nennt für das von ihr vorgeschlagene Stufenschema Erfolgsraten von bis zu 90 Prozent.
Weiteres zur Schmerztherapie sowie den wichtigen Palliativbereichen Obstipation, Übelkeit und Erbrechen sowie Atemnot, erfahren Sie im dritten und letzten Repetitoriumsteil.
Den ersten Teil finden Sie hier.
ZUSATZ-INFORMATIONEN
Wechselwirkungs- und Nebenwirkungspotenzial häufig in der Palliativmedizin eingesetzter Arzneimittel finden Sie als PDF zum Herunterladen hier.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 08/13 ab Seite 80.
Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin