Migräneprophylaxe
NEUE HOFFNUNG FÜR MIGRÄNEPATIENTEN?
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Einer von zehn Menschen weltweit hat Migräne, wobei Frauen dreimal häufiger betroffen sind als Männer. In den vergangenen Jahrzehnten ist vor allem die Zahl der Kinder mit starker Migräne deutlich angestiegen. Die Krankheit ist tückisch, noch längst nicht umfassend erforscht, und sie schränkt die Lebensqualität der Betroffenen massiv ein. Zudem erhöht sie das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und psychische Erkrankungen. Bei einer akuten Attacke sind die Patienten nicht selten für bis zu drei Tage lang völlig aus dem Leben gerissen.
Ihre Schmerzen sind so stark, Licht- und Geräuschreize so unangenehm, dass sie nur in abgedunkelten Räumen liegen und darauf warten können, dass der Anfall vorübergeht. Übelkeit und Erbrechen sind häufige Begleiterscheinungen. Wer zudem noch eine Migräne mit Aura hat, kann unter neurologischen Ausfällen leiden. Dann kommen vor der Schmerzattacke noch Seh- und Wortfindungsstörungen, Missempfindungen in den Extremitäten sowie Bewusstseinsstörungen hinzu. Bei einer chronischen Migräne leiden die Betroffenen an 15 Tagen und mehr pro Monat an Kopfschmerzen, davon mindestens sieben Tage an migräneartigen Kopfschmerzen. Viele Betroffene sprechen von einem „Vernichtungsschmerz“ und haben während einer Attacke Suizidgedanken.
Was gab es bisher zur Prophylaxe? Bei Patienten, die mehr als drei Migräneattacken pro Monat zu bewältigen haben oder bei denen Akutmedikamente nicht greifen, ist eine Migräneprophylaxe angezeigt. Das betrifft immerhin 25 bis 30 Prozent der Betroffenen. Doch bisher gab es zur Prophylaxe kein migränespezifisches Medikament. Alle wirksamen Arzneimittel waren eher Zufallsfunde mit zunächst anderer Indikation. So erwies sich etwa Botulinumtoxin aus der Schönheitschirurgie nach dem Spritzen in den Trigeminusnerv auch gegen Migräne als wirksam. Patienten mit Grunderkrankungen wie Bluthochdruck, Epilepsie oder Depressionen berichteten zudem, dass sie durch die dagegen eingenommenen Medikamente auch weniger Migräneattacken hatten, sodass heute Betablocker, Topiramat und trizyklische Antidepressiva zur Migräneprophylaxe eingesetzt werden.
Auch wenn sie eigentlich nicht dafür gedacht waren, sind sie bei immerhin 70 Prozent der Betroffenen wirksam. Allerdings haben diese Arzneistoffe auch starke Nebenwirkungen wie Herzrasen, Benommenheit, Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen, Hautirritationen und Magen-Darm-Probleme, denen sich viele Menschen, die ausschließlich Migräne haben, nicht aussetzen wollen. Es verwundert also nicht, dass die Compliance trotz eigentlich guter Wirksamkeit gegen die Anfälle sehr schlecht ist. Nach einem Jahr nutzen nur noch etwa 30 Prozent der Migränepatienten diese Prophylaxemöglichkeiten.
Was ist neu an den Antikörpern? Nun ist mit der Entwicklung von monoklonalen Antikörpern zum ersten Mal ein Therapeutikum entwickelt worden, das spezifisch in die Entstehung des Migräneschmerzes eingreift. Die Wirkstoffe richten sich gegen das Calcitonine-Gene-Related-Peptide (CGRP) oder dessen Rezeptor. CGRP ist ein als Botenstoff fungierendes Neuropeptid, das nach Bindung an seinen Rezeptor gefäßerweiternd und entzündungsfördernd wirkt. Da Migränepatienten während einer akuten Attacke erhöhte CGRP-Spiegel im Blut aufweisen, vermutet man, dass die Gefäßerweiterung und Entzündung, die es in der Hirnhaut auslöst, in engem Zusammenhang mit dem Migräneschmerz stehen.
Ein weiteres Indiz dafür: Verabreicht man chronischen Migränikern CGRP intravenös, kann man dadurch sogar eine Attacke auslösen. Triptane reduzieren die Wirkung des CGRP zwar auch, jedoch werden sie nur bei akuten Episoden eingesetzt. Der jetzige Therapieansatz geht einen Schritt weiter, indem er direkt an CGRP ansetzt und somit Migräneattacken vorbeugt. Dafür wurden bisher vier Antikörper getestet: Drei von ihnen binden an CGPR, einer an seinen Rezeptor, wodurch jeweils das Andocken des Botenstoffs und damit seine Wirkung blockiert wird.
Ein großer Vorteil der Antikörper ist, dass ihre Wirkung bereits innerhalb weniger Tage eintritt. Bei den bisherigen Prophylaxemitteln kann das Wochen bis Monate dauern, weil sie aufgrund von Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen langsam aufdosiert werden müssen. Der gegen den Rezeptor gerichtete Wirkstoff Erenumab wurde als erster der Antikörper im Sommer 2018 in Deutschland zugelassen. Er ist indiziert für Erwachsene mit chronischer oder episodischer Migräne, die an mindestens vier Attacken pro Monat leiden und bei denen sich andere Prophylaxe – und/oder Akutmittel als unwirksam erwiesen haben. Eine 70 Milligramm-Dosis des Antikörpers wird mit einem Pen einmal im Monat unter die Haut gespritzt, was der Patient nach einer Einführung durch den Arzt auch selbst tun kann. Weitere Antikörper, die sich in der Studien- oder Zulassungsphase befinden, sind Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab.
Gute Ergebnisse Zu Erenumab wurden drei klinische Studien durchgeführt, deren Teilnehmer an durchschnittlich 18 Tagen pro Monat an Migräne litten. In allen drei Studien konnte Erenumab die Zahl der Migränetage im Vergleich zu Placebo statistisch signifikant um im Schnitt einen bis zweieinhalb Tage pro Monat senken. Aufgrund der hohen Spezifität der Antikörper ergaben sich nur geringe Nebenwirkungen, darunter Hautreaktionen an der Injektionsstelle, Übelkeit, Verstopfung und leichte Infektionen der oberen Atemwege. In den Studien brachen daher nur etwa zwei bis vier Prozent der Teilnehmer die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen ab.
Sicher fürs Herz? Da der Antikörper die gefäßerweiternde Wirkung von CGPR nicht nur im Gehirn, sondern im ganzen Organismus hemmt, waren Migränepatienten mit Gefäßerkrankungen von den Studien zunächst ausgeschlossen. Allerdings zeigte eine zusätzliche Studie zum kardiovaskulären Risiko bei Patienten mit stabiler Angina pectoris keinen signifkanten Unterschied zwischen Erenumab und Placebo. Unerwünschte Nebenwirkungen waren in beiden Gruppen mit 27 Prozent unter Erenumab und 30 Prozent unter Placebo ähnlich häufig. Ein kardiovaskuläres Risiko scheint von Erenumab also nicht auszugehen.
Eine neue Ära, aber noch keine Revolution So gut, wie der neue Therapieansatz klingt: Er stellt nach Meinung der Experten noch keine Revolution dar. Zum einen sind die Medikamente nicht für alle Migräne-Patienten geeignet. Zum anderen spricht gegen einen breiten Einsatz auch der hohe Preis von mehreren tausend Euro pro Spritze. Und: Migräne ist eine multikausale Erkrankung. Sicherlich spielt CGRP eine große Rolle, jedoch gibt es weitere Faktoren, die Anfälle auslösen können.
Stress, eine ungesunde Lebensführung und psychische Belastungen sind nur einige davon. Im Umkehrschluss lautet die Empfehlung für Patienten, die mit den Antikörpern behandelt werden daher auch, den Erfolg durch eine begleitende nicht-medikamentöse Therapie zu unterstützen. Dazu gehören ein gesunder Lebenswandel, Ausdauersport und Entspannungstechniken. Erst Langzeitergebnisse werden zeigen, ob der neue Therapieansatz mit Antikörpern zukunftsweisend in der Migräneforschung sein wird.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/18 ab Seite 26.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist