Singen
NATÜRLICH SING‘ ICH!
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Seit ich denken kann, habe ich mit Gesang zu tun. In meiner Familie wurde immer gesungen, sei es beim Autofahren, beim Spazierengehen, einfach so am Nachmittag und in der Weihnachtszeit sowieso. Schon in der Schule war es selbstverständlich, dass wir Schüler im Musikunterricht, den wir damals noch regelmäßig im Stundenplan hatten, oder im Schulchor sangen. Das war überhaupt nichts Peinliches oder „Uncooles“. Singen gehörte einfach zum Leben dazu.
Hinter vorgehaltener Hand Wenn ich mir überlege, wie sich der Gesang über die Jahre allmählich aus den Familien verzogen hat, wie eigenartig man angeschaut wird, wenn man außer „Happy Birthday“ mal etwas anderes singen möchte. Die meisten machen da nicht mehr mit. Dabei wird doch überall gesungen - also, im Fernsehen. Eine Casting-Show jagt die andere. Auf der ganzen Welt feiern Fernsehformate, die Menschen aller Altersgruppen beim Singen zeigen, Wahnsinnserfolge.
Gelacht wird über diejenigen, die sich – ob gewollt oder nicht – vor den Kameras zum Deppen machen. Und die Begeisterung des Publikums kennt keine Grenzen, sobald jemand immer lauter und immer höher singt – gut, oft genug auch einfach nur kreischt. Egal, es bleibt die Lust, sich das anzuhören. Solange andere das tun, scheint das Singen den meisten Menschen Freude zu bereiten. Wenn es hingegen darum geht, selbst zu singen, sind genau die gleichen Menschen meist nicht nur zurückhaltend, sondern fast schon ängstlich.
Singen verbindet Singen ist eine uralte Methode, nicht nur mit Menschen in nah und fern in Kontakt zu treten oder zu bleiben. Sie haben sicherlich schon Berichte über Völker in Afrika, in Südamerika, in Asien gesehen, die immer noch mitten in der Natur leben. Bei rituellen Feiern, einfach nur zur Freude oder um Götter anzurufen werden seit Generationen überlieferte Tänze und Gesänge aufgeführt. Musik, Wörter und Töne sind das eine. Nicht zu unterschätzen ist indes auch die spirituelle emotionale Wirkung des Gesangs, die zugegebenermaßen häufig durch halluzinogene Substanzen unterstützt wird. Es bleibt aber die Tatsache, dass der Gesang eine Art wörtliche und emotionale Brücke zu anderen Menschen, zu einer anderen Bewusstseinsebene oder einfach zurück zum Sänger selber schlägt.
Der große Dirigent Yehudi Menuhin sagte einst: „Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen.“ Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung? Auch im Begriff „Muttersprache“ steckt so vieles. Die Sprache der Mutter ist die Basis unserer Kommunikation. Wenn mir meine Mutter abends vor dem Einschlafen oder nach einem Sturz mit kleiner Verletzung ein Lied gesungen hat, dann fühlte ich mich sofort sicher und gut aufgehoben. Mir konnte nichts passieren und ich konnte ruhig schlafen. Eben dieses Gefühl kann Gesang auslösen, allein oder in einer Gruppe praktiziert – und das können nicht nur Mütter!
Wunderbare Momente Vorgänge, die wir nicht verstehen können, die jedoch Gefühle in uns auslösen, die damit zu tun haben, dass Endorphine ausgeschüttet werden, Vorgänge, die überraschend und erfüllend sind, die begeistern, die überwältigend sind, kurz: Geschehnisse, die uns emotional packen, sind kleine Wunder. Wunder, die wir jedes Mal erleben können, wenn wir uns auf sie einlassen, wenn wir ihnen genügend Raum in unserer durchgetakteten und so sehr auf Rationalität ausgerichteten Lebenswirklichkeit einräumen. Wunder, die uns überraschen können, weil sie Gänsehaut und Glückstränen erzeugen. Ja, genau! Tränen der Freude.
Ich wurde mal gefragt, was für mich Glück bedeute. Natürlich fielen mir einige Punkte ein, die ich sofort hätte aufzählen können. Einer der ersten war: Singen. Ich habe fast mein gesamtes Leben über in Chören gesungen. Ganz bewusst habe ich mir stets solche Chöre ausgesucht, die sich auf die großen Werke der Musik- und Chorliteratur konzentrierten. Schon allein die Probenarbeit ist herrlich. Anfänglich merkwürdiges Stimmengewirr verwandelt sich im Laufe der Zeit in wunderbare und berührende Harmonie. Und wenn schließlich Chor, Orchester und Solisten in einem großen Saal in unvergleichlicher Einheit musizieren und den gesamten Raum mit diesem Gefühl des Wunders erfüllen, dann sind das große Momente besonderen Glücks.
Glück im Kleinen Das mit dem Glück funktioniert auch in kleinerem Rahmen, in kleineren Chören, in Vier-, Drei-, Zwei-Personen-Ensembles. Ja, es geht sogar solistisch. Haben Sie sich schon mal überlegt, was beim Singen überhaupt passiert? Unabhängig davon, dass Töne entstehen, tun Sänger ihrem Körper auch noch etwas Gutes. Unser vegetatives Nervensystem lässt uns automatisch atmen. Das macht es ganz allein. Zumeist atmen wir allerdings eher flach und gerade mal so, dass der Sauerstoff ausreicht, um uns so weit gut durchs Leben zu bringen. Aber! Da gibt‘s auch noch den Aspekt, den so viele beim Sport als wesentliches Motivationskriterium anführen: Der Körper bekommt mehr Sauerstoff, weil wir uns anstrengen, weil wir ganz bewusst tiefer einatmen, die Luft länger in der Lunge belassen und systematisch wieder ausatmen.
Komisch, beim Sport wird gestöhnt, geächzt, geschwitzt und sich gequält – egal ob Anfänger oder Fortgeschrittener. Das nennen wir gesund, und wir finden es großartig. Beim Singen ist das doch ähnlich. Auch hier spielt die Luft eine maßgebliche Rolle. Sie muss genau dosiert werden, mal brauchen wir mehr, mal weniger. Sie muss ganz bewusst eingesetzt werden, um bestimmte Passagen singen zu können. Allerdings stöhnen und ächzen Sänger nicht so. Auch wird nicht ganz so viel geschwitzt. Und noch ein großer Unterschied: Je fortgeschrittener, umso weniger muss man sich anstrengen.
In weltweitem Kontakt In Corona-Zeiten gibt’s wunderbarerweise die Online- oder virtuellen Chöre. Hier singt man mit Menschen aus der ganzen Welt – einfach von zuhause aus oder man schickt seinen Gesang ein, der mit allen anderen zusammengeschnitten wird. Mithilfe von ein bisschen Technik, sonst nichts! Und wir leben im Karaoke-Zeitalter. Viele Menschen werden diese Möglichkeit auch nach Corona nutzen, um einfach wild und laut draufloszusingen. Schon das macht Spaß und befreit. Andere hingegen wollen dem Original so nah wie möglich kommen. Sie proben und proben. Immer wieder.
Und dann ist es irgendwann so weit: Der Song sitzt. Mit Stolz und Freude singen sie „ihr“ Lied bei nächster Gelegenheit denen vor, die sich das gerne anhören. Und sie bekommen dafür Applaus. Die Freude ist natürlich groß, und die Sänger sind glücklich. Im Grunde genau das, was ein spanisches Sprichwort sagt: „Wer singt, verscheucht sein Unglück.“ Also, gerade in dieser Zeit – denn jetzt kommt Weihnachten –sollten wir uns und vor allem anderen viele Glücksmomente bescheren.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/2020 ab Seite 52.
Wolfram Glatzel, freier Journalist