Kolumne | Holger Schulze
KURZSICHTIGE STUBENHOCKER
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Kennen Sie das auch? Wenn Sie Ihre eigenen Klassenfotos von früher mit denen Ihrer Kinder von heute vergleichen, haben Sie dann auch manchmal den Eindruck, dass heute viel mehr Kinder schon in der Schule eine Brille tragen als früher?
Oft sind solche Einschätzungen ja sehr subjektiv und basieren meist auf einer zu geringen Zahl an Beobachtungen, die dann statistisch nicht haltbar sind. In diesem Fall aber ist es anders: Tatsächlich beobachten wir einen rasanten Anstieg von Personen mit Kurzsichtigkeit, insbesondere in Asien. In China etwa, wo der Anteil der Myopien vor 60 Jahren noch bei 10 bis 20 Prozent lag, sind heute bereits bis zu 90 Prozent der Teenager betroffen. In Europa und den USA liegt die Quote inzwischen bei rund 50 Prozent.
Bei der Kurzsichtigkeit ist der Augapfel zu sehr in die Länge gewachsen, sodass die Brechkraft der Linse relativ zu dieser Länge zu stark ist: Sie fokussiert das Bild weit entfernter Objekte vor die Ebene der Netzhaut. Lange Zeit hatte man angenommen, dass Myopie im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückzuführen sei, nämlich auf eine genetische Veranlagung und auf Lesegewohnheiten: Wer häufig und aus kurzer Distanz lese, so die Vorstellung, erhöhe sein Risiko, eine Kurzsichtigkeit auszubilden.
Während die Myopie sicherlich eine genetische Komponente besitzt, zeichnen Studien der letzten Jahre jedoch ein ganz anderes Bild, was Umwelt- und Verhaltenseinflüsse betrifft: Erstaunlicherweise verhält sich die Zeit, die Kinder und Jugendliche im Freien verbringen, umgekehrt proportional zu ihrem Risiko, eine Myopie zu entwickeln. Mit anderen Worten, wer die meiste Zeit des Tages in der Stube hockt, hat ein erhöhtes Kurzsichtigkeitsrisiko, wer draußen ist, beugt Myopie vor.
Dabei ist es erstaunlicherweise egal, was man draußen macht: Im Freien zu lesen ist ebenso schützend wie es nichts bringt, in der Halle Sport zu treiben. Der einzige Faktor, der hier entscheidend ist, scheint also die Dauer zu sein, der man seine Augen hellem Licht aussetzt. Zwar ist der zu Grunde liegende Mechanismus noch nicht völlig geklärt, doch man geht davon aus, dass Licht die Dopaminausschüttung in der Retina anregt, wodurch das Längenwachstum des Augapfels gebremst wird.
Empfehlungen raten daher zu wenigstens 10 000 Lux für rund drei Stunden am Tag. Zum Vergleich: Ein gut erleuchtetes Klassenzimmer schafft es üblicherweise nur auf rund 500 Lux. Da die Kinder in unseren entwickelten Gesellschaften immer weniger Zeit im Freien und immer mehr Zeit mit Hausaufgaben oder vor dem Computer verbringen, verwundert es nicht, dass das Problem zunimmt.
Und natürlich ist das gehäufte Auftreten von Myopie hier nicht der einzige negative Effekt, den diese veränderte Lebensweise für Heranwachsende mit sich bringt: Auch zunehmende Fettleibigkeit auf Grund mangelnder Bewegung und depressive Verstimmungen sind bekannte Folgen des Stubenhockens. Es ist also nicht nur kurzsichtig, seine Freizeit vorwiegend drinnen zu verbringen, es macht auch kurzsichtig! Wussten Sie das auch?
Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de
Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg.
Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/15 auf Seite 12.
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