Fortbildung: Wissen intensiv
KOPFSCHMERZEN UND MIGRÄNE – TEIL 1
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Je nach Unterform leiden bis zu 70 Prozent der Bevölkerung an Kopfschmerzen. Der häufigste Kopfschmerz, der zu einem Arztbesuch führt, ist die Migräne. In einer italienischen Studie litten 71 Prozent der Patienten, die ein Kopfschmerzzentrum aufsuchten, an einer Migräne, aber nur bei 27 Prozent der Patienten war die Diagnose bereits bekannt. Dadurch war die Therapie bei der Mehrzahl der Betroffenen unzureichend. Eine kanadische Studie ergab ähnliches: Nur die Hälfte der Patientinnen mit einer Migräne hatte deswegen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen und behandelte sich stattdessen mit freiverkäuflichen Medikamenten selbst, weniger als 10 Prozent nahmen migränespezifische Medikamente ein. Neben Gesamtkosten der Migräne alleine in Deutschland von über 800 Millionen Euro pro Jahr sind die Folgen im familiären und persönlichen Umfeld oft gravierend.
Um diesen Patienten zu helfen, muss zunächst die richtige Diagnose gestellt werden: handelt es sich um einen primären oder symptomatischen Kopfschmerz? Ein primärer Kopfschmerz entsteht auf der Basis einer Dysfunktion des Gehirns selbst, ohne dass eine andere Erkrankung hierfür ursächlich ist. Zu den primären Kopfschmerzen gehören unter anderem die Migräne, der Spannungskopfschmerz und der Clusterkopfschmerz. Entscheidend ist daher, primäre Kopfschmerzen zu erkennen, da sie nur dann auch richtig behandelt werden können. Eine maßgeschneiderte Therapie senkt nicht nur die Folgekosten, sondern steigert auch die Lebensqualität enorm.
Symptomatische Formen (z. B. durch eine Gefäßentzündung oder eine Hirnblutung bedingt) bedürfen hingegen dringend einer ursächlichen Therapie, die durch eine falsche Behandlung verschleppt werden kann. Da die Apotheke häufig die erste Anlaufstelle bei Kopfschmerzen ist, sollten bereits hier die Weichen richtig gestellt werden. Im Folgenden werden daher zunächst die wichtigsten primären Kopfschmerzen vorgestellt, dann eine Auswahl symptomatischer Kopfschmerzen und Warnhinweise darauf.
Die primären Kopfschmerzen Die Migräne betrifft Frauen deutlich häufiger als Männer: bis zu 14 Prozent der Frauen, aber nur bis zu acht Prozent der Männer leiden an einer Migräne. Am häufigsten tritt sie zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf, beginnt aber oft schon in der Kindheit und Pubertät. Sie ist gekennzeichnet durch attackenartig auftretende Schmerzen, die unbehandelt einen halben bis drei Tage anhalten (s. u. Tabelle 1). Die Betroffenen beschreiben meist pulsierende Kopfschmerzen, die prinzipiell über den gesamten Kopf verteilt auftreten können. Allerdings beklagen 60 Prozent einseitige Schmerzen, häufig im Dreieck zwischen Schläfe, Stirn und Auge.
Wichtiger als Ort und Charakter sind die oben beschriebene zeitliche Dynamik und die migränetypischen Begleitsymptome, wie eine Zunahme der Schmerzen bei körperlicher Anstrengung wie dem Treppensteigen. Häufigstes Begleitsymptom ist die Übelkeit, gefolgt von Erbrechen sowie einer Überempfindlichkeit und Abneigung gegenüber Licht (Photophobie), Lärm (Phonophobie) und intensiven Gerüchen (Osmophobie). Daraus resultiert die typische Rückzugstendenz bei stärkeren Attacken. Bis zu einem Drittel der Migränepatienten leiden vor oder während der Attacken an einer Aura, die für fünf bis 60 Minuten andauernde und sich vollständig zurückbildende Reizoder Ausfallsymptome beschreibt. Am häufigsten betreffen sie den Sehsinn in Form von visuellen Auren. Hier treten Sehstörungen wie halbseitige Gesichtsfeldausfälle und Verschwommensehen, aber auch Plus-Symptome wie Flimmern, gezackte Linien und Lichtblitze auf. Typisch ist ein Wandern über das Gesichtsfeld während der Auraphase.
Seltener kommt es auch zu einer halbseitigen Taubheit im Arm und Gesicht, Sprachstörungen und Lähmungen. Beim ersten Auftreten muss differentialdiagnostisch unbedingt an einen Schlaganfall gedacht werden. Davon abzugrenzen sind die Prodromalsymptome, die bis zu zwei Tage vor einer Migräneattacke auftreten. Sie umfassen unter anderem Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, Gähnen, vermehrten Harndrang und Heißhunger. Die Migräne tritt oft familiär gehäuft auf. Als Auslöser werden unter anderem Menstruation oder Eisprung, Stress, Wetterwechsel, gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus und Nahrungsmittel (Alkohol, Käse und andere) genannt.
Der Spannungskopfschmerz ist noch vor der Migräne der häufigste primäre Kopfschmerz mit einer Häufigkeit von bis zu 70 Prozent der Bevölkerung. Durch den geringeren Leidensdruck suchen aber deutlich weniger Patienten mit Spannungskopfschmerz als mit Migräne deswegen einen Arzt auf. Der Spannungskopfschmerz zeichnet sich typischerweise durch beidseitige oder im ganzen Kopf lokalisierte drückende Schmerzen aus. Patienten beschreiben das Gefühl eines zu engen Helmes oder als ob der Kopf in eine Schraubzwinge gespannt sei. Die Schmerzen sind meist leicht bis mittelstark und verstärken sich nicht durch körperliche Aktivitäten wie Treppensteigen.
Allenfalls eine leichte Licht- oder Lärmüberempfindlichkeit kann auftreten, nicht jedoch beides zusammen (anders als bei der Migräne), ebenso treten Übelkeit oder Erbrechen nicht auf. Leichte körperliche Aktivität wie Spazierengehen an der frischen Luft wird als lindernd empfunden. Die mit Abstand häufigste Verlaufsform ist die episodische, bei der es an weniger als 15 Tagen pro Monat zu Kopfschmerzen kommt, die zwischen 30 Minuten bis sieben Tagen andauern. Tritt der Spannungskopfschmerz an mindestens 15 Tagen pro Monat auf, so spricht man von einem chronischen Spannungskopfschmerz (Tabelle 1). Aufgrund der unspezifischen Beschwerden stellt der chronische Spannungskopfschmerz eine Ausschlussdiagnose dar, sodass symptomatische Formen zunächst ausgeschlossen werden müssen.
Der Clusterkopfschmerz ist deutlich seltener als die anderen primären Kopfschmerzen und betrifft weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Er zeichnet sich durch starke bis sehr starke einseitige Schmerzattacken aus, die um oder hinter dem Auge sowie im Stirn- und Schläfenbereich lokalisiert sein können. Sie dauern zwischen 15 Minuten bis 180 Minuten an und betreffen immer die selbe Seite. Typischerweise treten während dieser Attacken Symptome des autonomen Nervensystems auf der Seite der Kopfschmerzen auf, wie ein tränendes oder gerötetes Auge, eine laufende oder verstopfte Nase, eine verengte Pupille oder ein herabhängendes Augenlid, ein Lidödem und eine periorbitale Schwellung.
Im Gegensatz zur Migräne und zum Spannungskopfschmerz kommt es zu einer ausgeprägten Unruhe mit Umherlaufen im Zimmer oder Wippen des Oberkörpers im Sitzen. Man unterscheidet eine episodische (85 Prozent der Patienten) von einer chronischen Verlaufsform (15 Prozent), die über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr besteht oder nur kurze schmerzfreie Phasen von weniger als einem Monat Dauer aufweist.
Gut erkennbar ist der Clusterkopfschmerz an einer jahreszeitlichen Rhythmik, da bei der episodischen Verlaufsform Attacken nur innerhalb der sogenannten aktiven Phasen von ein bis drei Monaten Dauer auftreten, die meist im Herbst und Frühjahr liegen. Neben dieser auch „zirkannual“ genannten Rhythmik ist bei vielen Patienten ein tageszeitgebundenes „zirkadianes“ Muster zu beobachten, bei dem Attacken zu festen Tageszeiten, meist nachts, auftreten.
Symptomatische Kopfschmerzen Das Spektrum der symptomatischen Kopfschmerzen ist weit und erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen, da nahezu alle Bereiche der Medizin involviert sein können. Häufig zu beobachten ist ein Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch, bei dem an mindestens 10 Tagen pro Monat Triptane und an mindestens 15 Tagen pro Monat Analgetika wie ASS und Ibuprofen eingenommen werden. Es kommt zu einer Verschlechterung des vorbe stehenden primären Kopfschmerzes, der kaum noch auf Schmerzmittel anspricht. Hilfreich ist hier ein Schmerzmittelverzicht über ein bis zwei Monate.
Bei Patienten über 50 Jahre mit neu aufgetretenen Schläfenkopfschmerzen, allgemeinem Krankheitsgefühl, Sehstörungen und Kauschmerzen muss an eine Riesenzellarteriitis gedacht werden. Treten Kopfschmerzen im Zusammenhang mit Fieber auf, so kann es sich um eine lebensbedrohliche bakterielle Meningitis handeln, die zusätzlich mit einer Wesensänderung, Nackensteife, Erbrechen, Lichtscheu und neurologischen Defiziten einhergeht. Alternativ sollte man im Rahmen eines Infektes auch an eine Nasennebenhöhlenentzündung denken, bei der sich die Schmerzen typischerweise beim Vornüberbeugen verschlechtern.
Schlagartig neu aufgetretene stärkste Kopfschmerzen können Symptom einer Subarachnoidalblutung auf dem Boden eines geplatzten Aneurysmas sein. Dies gilt besonders für Patienten mit gerinnungshemmenden Medikamenten wie Phenprocoumon. Hirntumore hingegen manifestieren sich entgegen der Befürchtung vieler Patienten seltener mit Kopfschmerzen als Erstsymptom als mit epileptischen Anfällen, einer Wesensänderung und neurologischen Defiziten, wie etwa einseitige Lähmungen. Die Diagnosestellung sollte immer durch einen Arzt erfolgen.
Als Faustregel gilt: Ein akuter Kopfschmerz erfordert eine rasche ärztliche Vorstellung und Diagnostik, ein länger bestehender chronischer Kopfschmerz eine ausführliche Anamnese und Geduld. Neben einer gründlichen Kopfschmerzanamnese muss immer eine körperlich-neurologische Untersuchung durchgeführt und die Vitalwerte erhoben werden. Ist die Vorgeschichte passend zu einer Migräne und die Untersuchung unauffällig, muss keine Bildgebung angefertigt werden. Andernfalls muss im Einzelfall anhand der Kriterien in Tabelle 2 entschieden werden, ob eine weitere Diagnostik nötig ist. Neben einer Bildgebung des Kopfes mittels Computer- oder Magnetresonanztomographie kann dann je nach Beschwerdebild auch eine Labordiagnostik und eine Lumbalpunktion mit Entnahme von Nervenwasser durchgeführt werden, wenn zum Beispiel ein Verdacht auf eine Subarachnoidalblutung oder eine Meningitis vorliegt.
Mitmachen und punkten!
Lesen Sie alle drei Teile unserer Fortbildung WISSEN INTENSIV zum Thema Migräne und Kopfschmerzen, die wir Ihnen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) anbieten.
Heft 03/11: Teil 1 – Nur Migräne oder schon gefährlich?
Heft 04/11: Teil 2 – Besonderheiten der Kopfschmerztherapie in Schwangerschaft und Stillzeit
Heft 05/11: Teil 3 – Kopfschmerzen richtig behandeln PLUS Fragebogen zur Fortbildung und Möglichkeit zur Online-Teilnahme mit Zertifikatserwerb
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 03/11 ab Seite 78.
Dr. Tim Jürgens, Kopfschmerzambulanz der Neurologischen Klinik und Institut für Systemische Neurowissenschaften, Universitätsklinikum Hamburg