Zwei Gebäudeteile von Schloss Gracht spiegeln sich in der sie umgebenden Wasseranlage.© Convensis Group GmbH / Dr. Karsten Wolf AG
Die Akutklinik Schloss Gracht ist umgeben von Wasser- und Parkanlagen.

Interview mit Dr. Wolf

WIR WOLLEN UNS NICHT MEHR AUSPRESSEN LASSEN WIE EINE ZITRONE“

Der Wille kontrolliert den Körper – das lehrte uns Descartes schon vor über 350 Jahren. Denken und Fühlen sind verschiedene Dinge, wobei wir das Denken oft als wichtiger oder nobler betrachten. Dabei ist Körperlichkeit essenziell. Was ist Präsenz und wie nutzt man sie therapeutisch?

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Das Wasserschloss Gracht in Erftstadt-Liblar bei Köln beherbergt seit September 2019 eine private Akutklinik für psychodynamische Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Was die Klinik von anderen unterscheidet: Sie ist von der Architektur über die Einrichtung bis zum Personal auf Präsenztherapie ausgerichtet. Wir haben mit Klinikleiter Dr. Karsten Wolf über Präsenz, das Schloss und die Therapie gesprochen.

DIE PTA IN DER APOTHEKE: Herr Dr. Wolf, was bedeutet der Begriff Präsenz eigentlich?
Dr. Karsten Wolf: Das eine ist das Allgemeinsprachliche. Wenn wir von Präsenzunterricht sprechen, dann meinen wir, ob ein Schüler körperlich anwesend ist. Die Geisteswissenschaften prägen den Begriff der Präsenz aber neu. Präsenz meint, dass ich nicht nur körperlich anwesend bin, sondern in einer bestimmten Interaktion mit meinem Außen bin. Und zwar in einer nicht-rationalen Interaktion. Es gibt auf der einen Seite die Präsenzkultur, auf der anderen Seite die Sinnkultur.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Wenn Sie abends im Dunkeln durch die Stadt gehen und plötzlich steht ein zwei Meter großer, tätowierter, grimmig aussehender Türsteher vor Ihnen, erleben Sie etwas, was Sie nicht erleben, wenn Sie denselben am Telefon hätten. Oder bei einer Videokonferenz.

Also geht es darum, wie mein Umfeld mich in meinem Unterbewusstsein berührt?
Es geht weniger um das Unterbewusstsein. Sie merken das, Sie erleben es. Aber es passiert automatisch und ist nicht steuerbar.

Präsenz ist sozusagen das Gegenteil von rationalem Nachdenken - oder bei Depressiven dem Grübeln.

Wieso ist das so?
Es macht evolutionsbiologisch wahnsinnig viel Sinn. Es ist ein Unterschied, ob der Steinzeitmensch etwas in 100 Metern Entfernung sieht oder ob ein Säbelzahntiger direkt vor ihm steht. Intuitiv müssen sofort alle Alarmglocken angehen. Er muss mehr spüren, seine Sinne gehen auf. Und das ist Präsenzerleben. Ich denke nicht über etwas nach, sondern ich erlebe etwas in der Unmittelbarkeit zwischen zwei Körpern oder zwischen mir und der Natur. Präsenz ist sozusagen das Gegenteil von rationalem Nachdenken - oder bei Depressiven dem Grübeln.

Sie setzen Präsenztherapie unter anderem ein, um Depressionen zu behandeln.  Hat Präsenz auch mit Gefühlen wie Glück, Antrieb und Begeisterung zu tun?
Der Depressive berichtet über eine Gefühllosigkeit, er kann nicht mehr richtig trauern, kann keine Freude empfinden. Er kommt nicht mehr richtig in Kontakt zu anderen. Wenn man auf eine Party geht und etwas mit den anderen Menschen fühlt, das hat der Depressive nicht.

Also fehlt dem Depressiven die Präsenzebene?
Er grübelt zu viel. Er grübelt darüber, wie schlimm die Welt ist, ob seine Finanzen noch stimmen, ob Dinge nicht klappen. Er grübelt, grübelt, grübelt und kann dann vor lauter Grübeln nicht schlafen. Er ist ganz rational, auf der reinen Verstandesebene.

Wie hilft ihm die Präsenztherapie?
Die Therapie bringt ihm bei, wieder auf die Momente des Präsenzerlebens zu achten. Wenn plötzlich etwas passiert und das Gefühl da ist, dass es gut ist und man sich verbunden fühlt. Wie beim Mountainbiker, der in einen Flow gerät und die Zeit vergisst.

Also stellt die Therapie dem Zuviel an Rationalität die Präsenz entgegen, um beides in ein Gleichgewicht zu bringen?
Ganz genau.

Wie kamen Sie auf diesen Ansatz?
Führend ist da Hans Ulrich Gumbrecht von der Stanford University. Er hat die Präsenztheorie aufgestellt. Und er hat sie historisch sehr gut begründet: Durch Descartes und den Cartesianismus haben wir eine sogenannte hypertrophe Hermeneutik entwickelt. Wir haben in der westlichen Welt vergessen, dass es da noch etwas anderes gibt, das wertvoll und wichtig ist. Das merken wir jetzt in der Corona-Krise. Die Distanz zeigt uns, was da fehlt.
Diese Theorie habe ich aufgegriffen und psychotherapeutisch weiterentwickelt.

Wir schauen an uns runter und sehen den Körper als Materie.

Sie sprechen von der westlichen Welt. Mit zwei weiteren Autoren haben Sie ein Buch geschrieben, „Präsenztherapie: Neue Psychotherapeutische Implikationen im Wandel des abendländischen und des fernöstlichen Denkens“. Steht Asien anders zur Präsenz als Europa und die USA?
In der Tradition des fernöstlichen Denkens gibt es keine Trennung von Körper und Geist, wie wir sie durch Descartes bekommen haben. Ein Asiate, der noch sehr traditionell denkt, fühlt seinen Körper noch als Teil von sich, ist nicht so distanziert. Wir hingegen schauen an uns runter und sehen den Körper als Materie. Die psychosomatischen Probleme, die typisch sind für diesen Körper-Seele-Dualismus, haben wir in Fernost nicht in der Art, wie wir sie hier haben. Diese Probleme haben tatsächlich etwas zu tun mit dem europäischen Denken, das sich zu extrem in die Richtung der Rationalität entwickelt hat.

Lässt sich diese Entwicklung wieder umkehren?
Gumbrecht sagt, wir müssen wieder dahin kommen, und während wir da hinkommen, gibt es einen Paradigmenwechsel. Eine Sehnsucht nach mehr Körperlichkeit.

Wie zeigt sich diese Sehnsucht?
Es ist nicht so, dass wir alle zurück in die Natur wollen und nie mehr nachdenken, das ist natürlich Quatsch. Aber es muss ein gesundes Oszillieren entstehen zwischen Sinnkultur und Präsenzkultur. Zwischen Rationalität und Anerkennen, dass Dinge einfach mal so sind. Dass wir wieder anerkennen, wie wichtig Körperlichkeit, wie wichtig Berührung und Nahbarkeit sind. Gumbrecht sagt, die ganzen Zoom-Konferenzen jetzt sind alle schön und gut, aber das, was zwischen Menschen passiert, ist ausgehöhlt durch die Digitalisierung.

Wir wollen uns nicht mehr auspressen lassen wie eine Zitrone“

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