DIGA
FÜR DIE EINEN FORTSCHRITT, FÜR DIE ANDEREN EINE GEFAHR
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Apps gehören für immer mehr Menschen zum Alltag. Viele nutzen regelmäßig Gesundheits- oder Fitness-Apps, also Softwareanwendungen für ihr Mobiltelefon oder Tablet: Um ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen oder ihre Blutzuckerwerte zu dokumentieren. Um sich als Allergiker besser auf die Pollenwetterlage einzustellen oder als junge Frau die Chancen einer Schwangerschaft zu erhöhen. Um zu meditieren, regelmäßiger zu joggen und vieles mehr. Gesundheits- und Fitness-Apps ähneln allerdings einer sehr weit verzweigten Sippe: Es gibt ganz verschiedene Linien, ständig kommen neue Mitglieder hinzu, keiner kennt alle.
Ein junger und noch sehr kleiner Familienzweig sind die digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DIGA. Strenggenommen fallen hierunter nicht nur Apps, auch wenn man das meist sagt, sondern ebenso Webanwendungen. Das Besondere: Es handelt sich nicht um die üblichen frei verfügbare Gesundheits- oder Fitness-Apps. DIGA können auf Rezept vom Arzt verschrieben werden oder werden direkt von der Krankenkasse genehmigt. In beiden Fällen trägt sie die Kosten. Bislang gibt es erst 11 DIGA. Sie sollen unter anderem Migränegeplagten, Menschen mit psychischen Problemen oder einem quälenden Tinnitus zu besserer Gesundheit verhelfen, oft ergänzend zur regulären Behandlung.
Um gelistet und von den Kassen bezahlt zu werden, müssen sich Hersteller mit ihren Angeboten aber auch einer Art Stresstest unterziehen. Ihr Produkt wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Sicherheit, Funktionstauglichkeit, Qualität, Datensicherheit und Datenschutz geprüft. Außerdem müssen Angaben zum positiven Versorgungseffekt vorgelegt werden. Besteht der digitale Helfer die Prüfung, wird er als frisch zugelassene DIGA ins Verzeichnis aufgenommen. Es ist über die BfArM-Homepage zugänglich. Jeder kann dort Details zu Zielgruppen, medizinischen Hintergründen, Kosten und mehr nachlesen.
Der Aufwand hat seinen Grund: DIGA werden wie Medizinprodukte behandelt und unterliegen den entsprechenden rechtlichen Vorgaben. Und die Krankenkassen müssen ihre Verordnung eben erstatten. Entweder dauerhaft, wenn schon entsprechende Wirkungsstudien vorliegen. Oder vorläufig für ein Jahr, wenn es erfolgversprechende Daten gibt. In dieser Zeit muss der Hersteller gegenüber dem BfArM dann nachweisen, dass seine App die Versorgung der Patienten tatsächlich verbessert. Wie viel Geld er auf Dauer erhält, muss er mit dem GKV-Spitzenverband aushandeln.
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„Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt“, freute sich Jens Spahn beim Start für das DIGA-Verzeichnis am 16. Oktober 2020. BfArM-Präsident Prof. Dr. Karl Broich sprach von „einem wichtigen Beitrag zur Digitalisierung der Gesundheitsversorgung“. Doch die Freude ist nicht ungeteilt. „Unsere Patienten sind keine Versuchskaninchen“, warnte der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dr. Dietrich Munz. „Patient*innen sollten nur DIGA verordnet bekommen, wenn sie ausreichend geprüft und nicht nur zur Probe zugelassen wurden.“ Auf DIGA sei noch niemand vorbereitet – weder die Ärzte noch die Patienten, stellte Dr. Dirk Heinrich kürzlich klar, Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbands Fachärzte. Viele Fragen seien noch offen.
Das stimmt. Aber hier sind auch schon ein paar Antworten:
Welche DIGA wurden schon dauerhaft in das Verzeichnis aufgenommen?
Bislang vier: „deprexis“ – ein interaktives, onlinebasiertes Selbsthilfeprogramm zur Therapieunterstützung von Patienten mit Depressionen und depressiven Verstimmungen. „elevida“ – für Menschen mit Multipler Sklerose, bei denen zusätzlich anhaltende Müdigkeit oder Erschöpfung („Fatigue“) bestehen. „somnio“ – zur Behandlung von Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnie). „velibra“ – ein webbasiertes Programm für Patienten mit einer allgemeinen Angst- oder Panikstörung.
Welche DIGA wurden vorläufig in das Verzeichnis aufgenommen?
Bislang sieben: „Invirto“ – ermöglicht Menschen mit bestimmten Angst- und Panikstörungen eine Behandlung von zu Hause aus. „Kalmeda“ – für Patientinnen und Patienten mit chronischer Tinnitusbelastung. „M-sense Migräne“ – ein umfangreiches digitales Behandlungsprogramm für Migränepatientinnen und -patienten. „Mika“ – zur Linderung psychischer und psychosomatischer Folgen von Diagnosen und Therapien von bösartigen Tumoren (Malignomen). „Rehappy“ – für die Nachsorge von Schlaganfallpatientinnen und -patienten in Form individuell zusammengestellter Motivations- und Wissensversorgung. „Selfapy“ – ein Online-Kurs bei Depression, bei dem Nutzer zu ihrer Sicherheit während des Kurses durchgehend von einem persönlichen Psychologen überwacht werden. „Vivira“ – ein Übungsprogramm zur Behandlung von Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen. „zanadio“ – zur Veränderung von Gewohnheiten in den Bereichen Bewegung, Ernährung unter anderem, um langfristig Gewicht zu reduzieren.
Was kosten DIGA?
Die Kosten fallen unterschiedlich aus. Die günstigste DIGA, Kalmeda, kostet bei einer Nutzung über drei Monate ca. 120 Euro, die teuerste, elevida, in diesem Zeitraum ca. 750 Euro.
Wie prüft das BfArM DIGA?
So wie bei der Überprüfung neuer Arzneimittel fragt das BfArM viele Details ab, zum Beispiel, wie der medizinische Nutzen ausfällt, welche positiven Versorgungseffekte belegt werden können, wie es mit dem Datenschutz aussieht, welche Leistungen von Ärzten oder Psychotherapeuten zum App-Angebot dazugehören.
Wie werden DIGA bisher genutzt?
Dazu liegen kaum Zahlen vor. Ein Vertreter des AOK-Bundesverbands erläuterte Anfang März, dass von den Allgemeinen Ortskrankenkassen erst 4600 Codes ausgegeben wurden, um eine DIGA zu nutzen. Allerdings haben etliche App-Hersteller schon länger Einzelverträge mit verschiedenen Krankenkassen abgeschlossen, deren Versicherte die jeweilige App dann nutzen können. Zwei Beispiele: Die TK bietet unter anderem die Allergiker-App „Husteblume“ an und die Tinnitus-App „Tinnitracks“, die Barmer unter anderem eine Kniekontrolle-Übungs-App.
Was sind die rechtlichen Grundlagen für DIGA?
Eingeführt wurden sie mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz Ende 2019. Details regelt eine ergänzende Rechtsverordnung. Wer seine App ins Verzeichnis aufnehmen lassen möchte, muss sie vorher als Medizinprodukt CE-zertifizieren lassen.
Warum spielen die Apotheken bei DIGA keine Rolle?
Der Gesetzgeber hat es nicht vorgesehen. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) hatte 2019 bei den Beratungen zum Digitale-Versorgung-Gesetz angeregt, grundsätzlich auch den DIGA-Einsatz in Apotheken zu erlauben. Man solle die Beratungskompetenz der Apotheken auch in diesem Bereich nutzen, so der Appell. Derzeit wird im Deutschen Bundestag über das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz beraten. Auch bei DIGA soll es Erweiterungen geben. Die ABDA fordert unter anderem, dass Apotheker einen Zugriff auf die Patientendaten erhalten sollten, wenn verwendete Apps in Zusammenhang mit der Medikation eines Patienten stehen.
Dr. Alexander Schachinger, Geschäftsführer der EPatient Analytics GmbH, die seit 2010 den E-Health-Markt analysiert, hat das Übergehen der Apotheken bei DIGA-Aushändigung und DIGA-Erklärung bedauert. Damit lasse man in Deutschland eine große Chance aus:
Die Apotheke vor Ort wäre eigentlich der beste Platz, um überhaupt digitale Anwendungen zu erklären, wie das in der Schweiz, Benelux und skandinavischen Ländern üblich ist.
Wer hat Bedenken gegen DIGA?
Besonders psychotherapeutische Organisationen – denn viele DIGA setzen in diesem Bereich an. Munz warnte kürzlich: „Eine Gesundheits-App, die gar nicht oder zu wenig wirkt, kann zum Beispiel den Eindruck verstärken, nicht gegen seine depressiven Stimmungen anzukommen.“ Die Präsidentin der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz, Sabine Maur, gab zu bedenken:
Psychotherapeutische Versorgungsprobleme wie lange Wartezeiten werden nicht durch DIGA gelöst.
Und: „Die größten Bedenken habe ich in Form falscher Heilsversprechen und Irreführung von Hilfesuchenden.“ So könne der Eindruck erweckt werden, „dass man Depressionen mal eben durch eine App behandeln könnte“.
Der Bundesverband Gesundheits-IT hat auf zahlreiche Hürden hingewiesen: Bedenken von Ärzten und Psychotherapeuten, ungeklärte Haftungsfragen, fehlende Informationen für Ärzte und Patienten, fehlender Mehrwert für die Apotheken. Hinzu komme, dass es kompliziert sei, über DIGA zu informieren und dabei das Heilmittelwerbegesetz nicht zu verletzen.
Wie können GKV-Versicherte DIGA nutzen?
Option 1: Der erste Schritt zur DIGA ist – ein Papierrezept. Jede DIGA erhält eine eigene Pharmazentralnummer. Will ein Arzt sie nach Rücksprache mit seinem Patienten verordnen, wählt er die DIGA über sein Praxisverwaltungssystem aus und verordnet sie so wie ein Arzneimittel über das Muster 16. Der Versicherte muss dieses Rezept per Krankenkassen-App, per Post oder über die Geschäftsstelle einer Krankenkasse einlösen. Von dort erhält er nach Überprüfung seines Versicherungsstatus einen 16-stelligen Freischaltcode, um die DIGA herunterzuladen und sich kostenfrei anzumelden. Dieser Code ist pseudonymisiert, das heißt: Der DIGA-Hersteller kann nur die Gültigkeit des Codes überprüfen, aber erhält keine patientenbezogenen Daten. Mit Einführung des E-Rezepts soll dann der ganze Prozess digital ablaufen.
Option 2: Krankenkassen können eine DIGA auch ohne ärztliche Verordnung genehmigen. Dann muss der Patient eine entsprechende Indikation nachweisen.
Option 3: DIGA sind nicht verschreibungspflichtig. Man kann sie auch auf eigene Kosten herunterladen und anwenden.
Und der Datenschutz?
Datenschutzaspekte werden auch bei den DIGA durchaus kritisch gesehen. Einige der Apps kann man im Store von Apple oder Google herunterladen. Der Datenschutz nimmt in der DIGA-Rechtsverordnung zwar großen Raum ein. Weil aber schon der Download einer App Spuren hinterlässt, bleiben manche skeptisch. „Problematisch beim Download der DIGA über kommerzielle App-Stores ist, dass sensible Gesundheitsdaten an unberechtigte Dritte und auch die Storebetreiber gelangen können“, kritisiert der Bundesdatenschutzbeauftragte in seinem Tätigkeitsbericht 2020. Außerdem bestehe die Gefahr, dass während der DIGA-Nutzung durch Tracking- oder Analysetools Daten herausgefiltert oder Gesundheitsprofile erstellt würden.
Wie geht es weiter mit den DIGA?
Es herrscht Gedränge um die Aufnahme ins Verzeichnis: Derzeit befinden sich rund 20 Anwendungen in der Prüfung. 2020 hat das BfArM rund 125 Beratungen interessierter Hersteller durchgeführt. Derzeit befindet sich das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz in der parlamentarischen Abstimmung. Es sieht vor, dass DIGA-Daten ab nächstem Jahr auch in der elektronischen Patientenakte gespeichert werden können. Leistungen von Hebammen und Heilmittelerbringern im Zusammenhang mit DIGA sollen vergütet werden. Der DIGA-Datenschutz soll durch ein verpflichtendes Zertifikat gestärkt werden. Und: Gesundheits-Apps sollen künftig als DiPA auch in der Pflege zum Einsatz kommen.
Sabine Rieser,
freie Journalistin
Quellen:
https://www.aezq.de/gesundheitsapps/pdf/gesundheitsapps-patienteninformation-1aufl-vers1.pdf
www.bfarm.de
https://dserver.bundestag.de/btd/19/276/1927652.pdf
https://www.bundestag.de/hib#url=L3ByZXNzZS9oaWIvODI5NDk2LTgyOTQ5Ng==&mod=mod454590
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/digav.html
https://www.bptk.de/fahrlaessiger-patientenschutz-bei-gesundheits-apps/
https://www.bptk.de/leitfaden-fuer-die-pruefung-von-gesundheits-apps-veroeffentlicht/
https://hih-2025.de/diga-interview-reihe-teil-2-dr-sabine-maur-psychotherapeutin-u-kammerpraesidentin-rpn/
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/abda-kammern-fuer-datenuebermittlung-vergueten-122395/
https://www.bundestag.de/resource/blob/661930/06131898c48a02c8b6072e4b98a0c25f/19_14_105-14-_ABDA_DVG-data.pdf
https://digitales-gesundheitswesen.de/verteilte-verantwortungslosigkeit/
https://www.netzpiloten.de/apps-auf-rezept-interview-anne-sophie-geier/
https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Publikationen/Taetigkeitsberichte/TB_BfDI/29TB_20.html?nn=5217212
https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/aerzte-und-kliniken/gesundheitsapps-medizinische-anwendungen-auf-rezept-41241
https://www.aezq.de/gesundheitsapps/pdf/gesundheitsapps-handreichung-aerzt-aerztin-1aufl-vers1.pdf
Observer Management Informationssystem Gesundheitspolitik: Report „Apps auf Rezept: GKV-Vergütung Digitaler Gesundheitsanwendungen“, 2.3.2021 (nicht-öffentliche Quelle)