Zum Tode von Stephen Hawking
EIN AUSSERGEWÖHNLICHES LEBEN
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Schon seine Mitschüler müssen bemerkt haben, dass Stephen Hawking ein ganz besonderer Mensch war, denn sie gaben ihm bereits damals, lange bevor er das Studium der Physik und später der Kosmologie, erst in Oxford und dann in Cambridge, aufnahm, den Spitznamen „Einstein“. Und tatsächlich entwickelt sich der junge Mann zu einer Persönlichkeit, die für unsere Zeit wohl so etwas war wie der echte Einstein für seine: zu dem genialen Physiker schlechthin, auch ohne Nobelpreis!
Dabei nutzte er, ähnlich wie Einstein, seine Popularität und allgemeine Anerkennung als eine Art intellektueller Institution auch immer wieder zu politischen Äußerungen: So setzte er sich für Klimaschutz ebenso ein wie für nukleare Abrüstung und warnte vor der unkontrollierten Entwicklung künstlicher Intelligenzen, durch die er eine potenzielle Gefahr für die Menschheit insgesamt befürchtete. In der Besiedlung des Kosmos sah er eine mögliche Überlebenschance.
Neben seiner einzigartigen Karriere als Naturwissenschaftler war es aber auch seine Krankheit und insbesondere deren Verlauf, die die Lebensgeschichte Stephen Hawkings zu einer ganz außergewöhnlichen machte: Bereits im Alter von 21 Jahren wurde bei Hawking Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), eine bis heute nicht heilbare, schwere degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, diagnostiziert, und die Ärzte prognostizierten dem jungen Studenten damals eine Lebenserwartung von bestenfalls noch 2 bis 3 Jahren. Tatsächlich wurde er 76 Jahre alt!
Stephen Hawking wollte nicht, dass die Ingenieure die Stimme seines Sprachcomputers weiterentwickelten. So wurde dessen roboterhafte Sprache zu seinem Markenzeichen.
War Stephen Hawking also ein medizinisches Wunder? Werfen wir hierzu zunächst einen genaueren Blick auf seine Erkrankung. Auch wenn ALS klassischerweise vor allem als Erkrankung des motorischen Nervensystems bekannt ist, zeigt sich doch mehr und mehr, dass häufig auch Teile des zentralen Nervensystems betroffen sind. Während die Degeneration motorischer Nervenzellen mit Fortschreiten der Krankheit zu immer schwerwiegenderen Lähmungserscheinungen führt, zeigen etwa die Hälfte der ALS-Patienten, bedingt durch zentrale Nervenschädigungen, auch kognitive und Verhaltensstörungen.
Im motorischen System können sowohl die sogenannten ersten wie auch zweiten Motoneurone, also die Nervenzellen, die den Bewegungsimpuls aus dem Großhirn an das Rückenmark beziehungsweise von dort an den Muskel weitergeben, degenerieren. Je nachdem, was zuerst betroffen ist, kommt es zunächst zu spastischen oder schlaffen Lähmungen, bis die Krankheit im weiteren Verlauf schließlich generalisiert und sowohl erste wie zweite Motoneurone schädigt. Interessanterweise sind von diesen motorischen Ausfallerscheinungen zwei Bereiche ausgenommen, nämlich die Innervation der Augenmuskulatur sowie die der Sphinkter zur Harn- und Stuhlkontrolle.
Lebensbedrohlich wird die Erkrankung in der Regel, wenn die Atem- und Schluckmuskulatur betroffen sind. Was die kognitiven Störungen angeht, sind frontale und temporale Bereiche der Großhirnrinde betroffen, was unter anderem zu Demenz führen kann. Stephen Hawking war hiervon allerdings – ganz offensichtlich – nicht betroffen. Und auch in Bezug auf seine motorischen Funktionen zeigte die Krankheit bei ihm einen ungewöhnlich langsamen Verlauf, wie er in sehr seltenen Fällen dann auftreten kann, wenn ALS schon in jungen Jahren auftritt und nicht wie sonst üblich erst im Alter jenseits der 50 (wobei das ALS-Risiko über 75 interessanterweise wieder sinkt).
Man spricht dann von chronisch-juveniler ALS, die einen extrem langsamen Verlauf nimmt, wie eben bei Hawking. Dennoch kam es 1985 auch bei ihm zu einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung, die er nur dank eines Luftröhrenschnittes und danach dauerhaft nötiger künstlicher Beatmung überlebte, allerdings zum Preis des Verlustes seines Sprachvermögens. Fortan war es ihm nur noch möglich, per Sprachcomputer mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Die pathophysiologischen Mechanismen, die den neurodegenerativen Veränderungen bei ALS zu Grunde liegen, sind bis heute ungeklärt.
Als gesichert gilt allerdings, dass ein Zusammenspiel verschiedener genetischer wie Umweltfaktoren das Krankheitsgeschehen beeinflusst. Natürlich ist gerade vor dem Hintergrund der Suche nach den pathophysiologischen Mechanismen von ALS die Krankheitsgeschichte von Hawking besonders interessant. Denn verstünde man, wieso er so lange überleben konnte, könnte man vielleicht auch anderen ALS-Patienten besser helfen. Abgesehen davon, dass Hawking an der juvenilen Form von ALS mit ihrem langsamen Verlauf litt, spielt mit hoher Wahrscheinlichkeit die besondere Pflege vieler Menschen, die ihm aufgrund seiner besonderen Stellung zuteilwurde, eine große Rolle.
Beispielsweise stand ihm zuletzt ein ganzes Team von Ingenieuren der Firma Intel zur Seite, die seinen Sprachcomputer, den er nur noch über einen Wangenmuskel und einen Infrarotsensor an seiner Brille steuern konnte, entscheidend verbesserte, sodass er wieder deutlich schneller mit seiner Umwelt kommunizieren konnte – eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich geistig fit zu halten und so zum Beispiel der Entstehung einer Demenz vorzubeugen.
Das Angebot der Entwicklung eines ganz neuartigen Systems für ihn, das versucht hätte, seine Sprachsignale aus der Hirnaktivität direkt auszulesen, lehnte er im Übrigen ab – er wollte nicht mehr umlernen. Des Weiteren hat der Umstand, dass er sich für die künstliche Beatmung entschied und also ein Leben in Abhängigkeit verschiedener Maschinen in Kauf nahm, sein Weiterleben erst ermöglicht.
Und das ist es dann vielleicht auch, was an der Person Stephen Hawking am meisten beeindruckt, neben den großartigen Beiträgen für die Physik und Kosmologie: Als der junge Student Hawking die niederschmetternde Diagnose ALS erhielt, mit der Prognose, nur noch zwei Jahre zu leben, da gab er nicht etwa sein Studium oder gar sich selbst auf, sondern fühlte sich im Gegenteil geradezu angespornt, noch vieles zu erreichen. Er schloss seine Promotion mit Bestnote ab und erhielt 1979 aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen den vielleicht renommiertesten Lehrstuhl in den Naturwissenschaften, den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik der Universität Cambridge, den lange vor ihm (von 1669 bis 1702) Sir Isaac Newton bekleidet hatte.
Er war Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, war politisch aktiv und schrieb neben populärwissenschaftlichen Büchern, mit denen es ihm gelang, seine bahnbrechenden Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit nahezubringen, zusammen mit seiner Tochter Kinderbücher. Uns diesen Lebensmut, dieses stets positive Denken in scheinbar ausweglosen Situationen als Vorbild zu nehmen und sich niemals aufzugeben, ist vielleicht das wichtigste Vermächtnis, das uns dieser große Mann hinterlässt. Es sei uns allen Ansporn und Hoffnung für die Zukunft!
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/18 auf Seite 26.
Prof. Dr. Holger Schulze, Hirnforscher