Berühmte Giftmorde
„DR. DEATH“: FASZINIERT VOM TOD
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Erst im März 1998 kam man Dr. Shipman auf die Schliche. Zunächst informierte eine Bestatterin den Leichenbeschauer ihres Distriktes über die hohe Sterberate des Allgemeinmediziners. Sie war besonders auf die hohe Zahl der Kremierungen unter Shipmans Patienten aufmerksam geworden. Damals fand die Polizei noch keine verwertbaren Beweise. Shipman brachte noch drei weitere Menschen um – doch schließlich wurde ihm der Tod von Kathleen Grundy, der ehemaligen, mittlerweile 81-jährigen Bürgermeisterin von Hyde bei Manchester, zum Verhängnis.
Kathleen war eine treue Patientin Dr. Shipmans; der beliebte Arzt schien ihr als der Letzte seiner Art. Er hatte immer Zeit, kümmerte sich liebevoll um seine Patienten und machte selbstverständlich Hausbesuche. Am 23. Juni 1998 erzählte sie einer Freundin, dass der nette Doktor sie am nächsten Tag besuchen und ihr Blut abnehmen wolle. Am 24. Juni war sie tot. Dr. Shipman schrieb auf den Totenschein: „Fortgeschrittenes Alter.“
Die Hinterbliebenen wunderten sich trotz ihrer Trauer: Fortgeschrittenes Alter als Todesursache? Kinder und Enkelkinder erinnerten sich an eine trotz ihres Alters ungemein rüstige Frau, die niemals auch nur Herzbeschwerden gehabt hatte. Noch mehr wunderten sie sich über das Testament, das plötzlich auftauchte: Dr. Shipmann sollte alles erben – immerhin einen Betrag von 386 000 Pfund (heute knapp 500 000 Euro). Dabei liebte die alte „Kath“ gerade ihre Enkelkinder über alles. Der letzte Wille war erst am Tag zuvor beim Notar eingegangen. In dem Schriftstück war noch ein weiteres Detail auffällig: Kathleen Grundy wollte eingeäschert werden. Jedoch hatte die alte Dame ihren Angehörigen gegenüber immer wieder geäußert, dass sie eine Erdbestattung wünsche. Ihre Tochter erstattete Anzeige, und damit kam eine Lawine ins Rollen. Das Testament: getippt auf Shipmans Schreibmaschine. Todesursache: eine Überdosis Heroin, gespritzt von Dr. Shipman. Die Unterschrift: gefälscht. Shipman kam ins Gefängnis.
Erst jetzt kam seine schockierende Vergangenheit ans Tageslicht. Man hatte, viel zu spät, einen der größten Serienkiller in der Geschichte Großbritanniens überführt. Mindestens 218 Mal hatte er Menschen zu Tode gespritzt und dabei große Schlauheit bewiesen, um nicht entdeckt zu werden. Die Dunkelziffer seiner Morde lag jedoch wahrscheinlich viel höher.
Am 14. Januar 1946 wurde Harold Frederick Shipman in Nottingham geboren: Sein Vater arbeitete als LKW-Fahrer, die Mutter – an der er sehr hing – war Hausfrau und eine fromme Methodistin. Sie starb an Lungenkrebs, als er 17 war, und bekam im späten Stadium vom Hausarzt zuhause Morphin gespritzt.
Shipman begann sein Medizinstudium an der Leeds Medical School, arbeitete dann an der Pontefract General Infirmary und erlangte dort zusätzlich ein Diplom in Pädiatrie, Geburtshilfe und Gynäkologie. Bereits dort unterschrieb er nicht weniger als 133 Totenscheine, wurde aber noch überwacht, da er noch kein vollständig ausgebildeter Arzt war. Erst im Februar 1971wechselte er die Station: Hier könnte er seinen ersten Menschen umgebracht haben. Es sah so aus, dass Shipman begann, den Tod von Patienten, die im Sterben lagen, zu beschleunigen, vielleicht um ihr Leiden zu vermindern. „Wahrscheinlicher aber ist“, sagt Dr. Frank Mußhoff in seinem Buch „Mordsgifte. Ein Toxikologe berichtet“, „dass Shipmans Faszination für den Tod und für die Wirkung der Medikamente auf den Körper der eigentliche Antrieb waren.“ Beweisen ließ sich das allerdings forensisch nicht mehr, denn Exhumierungen wären nach der langen Zeit nicht mehr sinnvoll gewesen. Auffällig war nur, dass Shipman beim Ausstellen von 33 Prozent der Totenscheine allein gewesen war – bei anderen Ärzten liegt diese Quote bei 1,6 Prozent.
Thomas Collumbine war 54 Jahre alt, als er im April 1972 starb. Er hatte sich vorher mit Shipman gestritten und missachtete generell ärztliche Ratschläge. Der Busfahrer war aufgrund seiner chronischen Bronchitis und eines ausgeprägten Emphysems aus dem Busfahrer-Job ausgestiegen, rauchte aber selbst in Gegenwart des Arztes munter weiter. Er war unbelehrbar, verließ das Krankenhaus auf eigene Verantwortung und wurde dennoch wenig später als Notfall wieder eingeliefert. Seine Angehörigen versammelten sich bereits um sein Bett, wurden aber von Dr. Shipman nach Hause geschickt. Der Arzt verabreichte Morphin, trug allerdings auf dem Krankenblatt etwas anderes ein. Collumbine starb. Der Patient wäre auch ohne Injektion verstorben, doch Shipman beschleunigte das Ganze mit einer Morphin-Überdosis. Der Fall Collumbine war Shipmans erster nachgewiesener Mord. Danach geriet er in einen regelrechten Rausch: Drei Tage später tötete er drei multimorbide, alte Menschen an einem einzigen Tag in ihren Krankenhausbetten mit injiziertem Digoxin. Sämtliche Taten erregten keinen Verdacht.
Shipman verließ das Krankenhaus, um im Abrahm Ormerod Medical Centre eine neue Stelle anzutreten. Die kleine Stadt, in der sich das Krankenhaus befand, hieß makabererweise Todmorden. Hier wurde er selbst süchtig: Während seiner ersten sechs Monate in Todmorden verschaffte sich Shipman über 30 000 mg Pethidin, ein synthetisch hergestelltes Opioid. Der Arzt wurde abhängig, verschrieb Rezepte „zur praktischen Benutzung“ oder aber für Patienten, die er selbst in der Apotheke abholte. Pethidin hat nur eine relativ kurze Wirkdauer von zwei bis vier Stunden, sodass Shipman die Nadel bis zu 14 Mal am Tag ansetzte.
Seine Kollegen in Todmorden entdeckten Shipmans Sucht und entließen ihn aus dem Vertrag. Der Arzt machte eine neue Gemeinschaftspraxis nur einige hundert Meter weiter in Hyde auf: Dort, wo Kathleen Grundy einmal Bürgermeisterin gewesen war. In den sechs Jahren, in denen Shipman dort wirken konnte, tötetet er noch mehr Menschen: Die meisten alt, die meisten allein lebend. Er kam damit davon, da er seine Opfer sehr genau auswählte. Heroin war die Tötungsdroge seiner Wahl geworden, er zweigte sie von todkranken Patienten ab, die das Opioid für die furchtbaren Schmerzen von Krebserkrankungen im Endstadium erhielten. Beispielsweise übernahm er nach dem (nicht von ihm verschuldeten) Tod eines Patienten 20 bis 30 Ampullen, jede mit 100 mg Heroin. Nach dem Tod eines anderen Krebspatienten verschrieb er diesem noch eine weitere Menge von 12 000 mg, holte sie aus der Apotheke ab und behielt auch sie. Zum Vergleich: 100 mg flüssiges Heroin sind bei einem nicht daran gewöhnten Menschen tödlich.
Die Mordmethode war von Shipman unter kriminologischen Gesichtspunkten klug gewählt. Denn das Opioid wird sehr schnell verstoffwechselt, im Blut ist daher ein Nachweis nicht zu erwarten. Für eine Untersuchung mit einem aussagefähigen Ergebnis eignet sich am besten Urin. In den Geweben aller exhumierten Personen wurde Morphin nachgewiesen; der Tod trat demnach innerhalb von wenigen Sekunden durch Atemstillstand ein. Wie Shipman das Heroin injizierte, wurde während der polizeilichen Untersuchung schnell klar: Er trat ihnen einfach mit einer gefüllten Spritze entgegen und behauptete, enthalten sei ein Antibiotikum, Vitamine oder „etwas gegen die Grippe“. Bei Untersuchungen länger zurückliegender Morde wurden auch Haarproben analysiert, sogar bei Kathleen Grundy: Shipmann hatte behauptet, sie hätte ein Drogenproblem gehabt. Da Haare langsam wachsen und Drogenkonsum in ihnen charakteristische Rückstände hinterlässt, konnte man das in Grundys Falls sehr genau verifizieren: Die pensionierte alte Dame nahm jedenfalls nichts ein, was auf illegale Substanzen zurückgeführt werden konnte – außer dieser letzten, von ihrem eigenen Hausarzt gesetzten Spritze.
Im Prozess gegen Shipman wurden ihm 15 Morde nachgewiesen sowie die Fälschung des letzten Willens von Kathleen Grundy. Da er am 31. Januar 2000 allein dafür 15-fach Lebenslänglich plus vier Jahre für das Testament erhielt, war klar, dass er aus dem Gefängnis nie wieder herauskommen würde und man verzichtete auf weitere Anklagen. Bis zum Schluss leugnete Shipman seine Taten. Rätselhaft bleibt, warum er bei seinem letzten Mord so unvorsichtig geworden war. Eine Theorie besagt, dass Shipman gefasst werden wollte, weil sein Leben außer Kontrolle geraten war. Eine andere, dass er sich mit dem ergaunerten Geld irgendwo in Großbritannien zur Ruhe setzten wollte – in der Gewissheit, dass niemand ihm auf die Schliche kommen würde. Doch genau weiß das niemand. Shipman erhängte sich im Jahr 2004 mithilfe seiner Bettwäsche in seiner Zelle.
Alexandra Regner,
PTA und Journalistin
Quellen:
Frank Mußhoff: Mordsgifte. Ein Toxikologe berichtet. Bastei Lübbe, 2014
Kabel eins Doku: Harold Shipman: Dr. Death