Seltene Erkrankungen
DIE WAISENKINDER DER MEDIZIN
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Man nennt sie auch „Orphan diseases“, also „Waisen-Krankheiten” und sie sind eigentlich gar nicht so selten: Von den 30 000 bekannten Krankheiten ist jede sechste eine Orphan disease. Das sind immerhin 6000 medizinische Waisenkinder. Da die Zahl der Patienten gering ist, lohnt sich die Forschung für Pharmaunternehmen häufig wirtschaftlich nicht. Viele Betroffene machen zudem meist eine Odyssee durch, bevor sie eine korrekte Diagnose bekommen. Dann müssen sie verarbeiten, dass ihre Krankheit womöglich zum Tod oder erheblichen körperlichen und geistigen Einschränkungen führt. All das macht seltene Erkrankungen zu einer großen Belastung für die Patienten und ihre Angehörigen.
Lorenzos Öl – ein Fall wie aus dem Märchen Lorenzo Odone wird 1978 geboren. Mit sechs Jahren scheint er noch ein gesunder Junge zu sein, doch plötzlich stößt er sich immer häufiger an Möbelstücken, wird innerhalb kurzer Zeit taub und blind. Lorenzo hat ALD , eine tödlich verlaufende, genetisch bedingte, seltene Stoffwechselstörung, die fast nur bei Jungen und Männern auftritt. Ein Enzymdefekt bewirkt, dass das Myelin, welches das Nervengewebe wie eine Schutzschicht umgibt, nicht mehr produziert und sogar zersetzt wird.
Die Ärzte geben Lorenzo noch zwei Jahre, doch das wollen seine Eltern nicht akzeptieren. Sie sind keine Mediziner, aber sie recherchieren, arbeiten mit Ärzten und Forschern zusammen, experimentieren. Schließlich entwickeln sie ein Öl mit einer bestimmten Mischung an Fettsäuren, das Lorenzos Krankheitsverlauf bremst. „Lorenzos Öl” wird patentiert und hilft bis heute Menschen mit ALD. Lorenzo lebt dank seiner engagierten Eltern 22 Jahre länger als prognostiziert. Er stirbt 2008 im Alter von 30 Jahren – an einer Lungenentzündung.
Seine Geschichte zeigt, womit Betroffene und ihre Angehörigen bei seltenen Krankheiten zu kämpfen haben: kaum Forschung, wenige Therapien und generell zu wenig Wissen. Viele haben sich deshalb in Selbsthilfegruppen organisiert, ein Dachverband (ACHSE – Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) wurde 2004 gegründet.
Angelman-Syndrom Es wurde nach seinem Entdecker, dem britischen Kinderarzt Harry Angelman, benannt. Er selbst nannte es noch „Happy puppet Syndrom“ (Syndrom des glücklichen Püppchens), weil die betroffenen Kinder häufig, oft unbegründet, lachen und ihre Bewegungen puppenhaft sind. Das Syndrom betrifft Mädchen und Jungen gleichermaßen, wobei eines von 20 000 Kindern erkrankt.
Ursache ist ein Defekt auf dem Chromosom 15. Dort sind bestimmte Gene entweder nur auf dem vom Vater oder der Mutter stammendem Chromosom aktiv (imprinting). Beim Angelman-Syndrom funktioniert der mütterliche Chromosomenabschnitt nicht, während der väterliche durch das imprinting „stillgelegt” ist. Somit sind die in diesem Bereich liegenden Gene komplett inaktiv. Als Folge sind die betroffenen Kinder mehrfach behindert. Je nach Schwere der Erkrankung sind sie auf den Rollstuhl angewiesen, haben häufig Spasmen und schwere motorische Einschränkungen.
Die geistige Entwicklung ist stark gehemmt und geht meist nicht über das Stadium eines Kleinkindes hinaus. Bis zur Pubertät haben fast alle Angelman-Kinder epileptische Anfälle (90 Prozent). Die Krankheit ist nicht heilbar; man kann lediglich Folgeerkrankungen wie Epilepsie, Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung) und Schielen therapieren. Da Angelman-Kinder unter Hyperaktivität und Schlafstörungen leiden, haben sich tiergestützte Therapien vielfach als wirksam erwiesen. Dies gilt besonders die Delfintherapie, denn die Kranken haben eine starke, unerklärliche Vorliebe für Wasser. Da die Lebenserwartung der Betroffenen nicht verkürzt ist, sie aber dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind, müssen Eltern für die Pflege ihrer Kinder vorsorgen.
Prader-Willi-Syndrom Der Gendefekt auf dem Chromosom 15 kann auch spiegelverkehrt vorkommen – als funktionsloser väterlicher Abschnitt. Dann heißt die Krankheit „Prader-Willi-Syndrom”. Wie beim Angelman-Syndrom ist etwa eines von 20 000 Kindern betroffen, ebenfalls Mädchen und Jungen gleich häufig.
Prader-Willi-Kinder weisen schon als Säugling einen verminderten Muskeltonus auf, der sich zum Beispiel in einer Trinkschwäche äußert. In schweren Fällen kann das Kind ohne Magensonde nicht überleben. Im dritten Lebensjahr zeigt sich dann das auffälligste Symptom: Das Sättigungsgefühl fehlt völlig, sodass die Kinder sprichwörtlich essen könnten, bis sie „platzen”. Durch Folgeerkrankungen wie Adipositas oder Diabetes ist daher meist auch die Lebenserwartung der Betroffenen verringert. Die Bandbreite der Entwicklungsstörungen ist groß, jedoch sind die Beeinträchtigungen meist nicht ganz so stark wie bei Kindern mit dem Angelman-Syndrom.
»Die meisten seltenen Erkrankungen werden durch Gendefekte verursacht.«
Keine Heilung, kaum Hoffnung Seltene Krankheiten können in manchen Fällen durch schädliche Umweltfaktoren, Mangelernährung, Viren oder Autoimmunerkrankungen ausgelöst werden. Die meisten werden jedoch durch einen Gendefekt verursacht (80 Prozent) und haben teilweise schreckliche Auswirkungen.
Bei der Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta) brechen die Knochen extrem leicht. Die meisten Betroffenen sind bereits in der Pubertät auf den Rollstuhl angewiesen, denn das Skelett hat sich durch die vielen Brüche so verformt, dass ein normaler Bewegungsablauf nicht mehr möglich ist.
Die FOP (Fibrodysplasia ossificans progressiva) verwandelt Bindegewebe, Sehnen und Muskeln in Knochen – die Betroffenen versteinern quasi bei lebendigem Leibe. Das Hereditäre Angioödem (HAE) äußert sich in immer wiederkehrenden, extrem starken Schwellungen. Sind hiervon die Atemwege betroffen, können die Patienten ersticken. Jeder dritte HAE-Patient hat einen solchen Anfall mindestens einmal im Leben.
Beim Persistent Sexual Arousal Syndrom (PSAS) sind die Erkrankten ständig sexuell erregt und haben schon bei geringster Stimulation Orgasmen. Das Fischgeruch-Syndrom (Trimethylaminurie), eine Stoffwechselstörung, bewirkt einen extrem starken Körpergeruch nach fauligem Fisch. PSAS und Fischgeruch-Syndrom mögen eine tragikomische Komponente haben, jedoch machen auch diese Orphan diseases den Betroffenen das Leben zur Hölle. Heilung gibt es nicht, sie müssen ihr Leben lang damit zurechtkommen.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 05/12 ab Seite 112.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist