Weihnachtsbild © RomoloTavani / iStock / Thinkstock
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Der Apothekenkrimi

DAS WEIHNACHTSRÄTSEL

Seite 1/1 14 Minuten

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Rieke, PKA in der Bärenbach-Apotheke, stapelte die Pappkartons mit den Seifen-Engeln ordentlich übereinander. Sechs Stück, genau wie auf dem Lieferschein. Sie buchte die Rechnung und klickte sich dann aus dem Programm.
Höchste Zeit, dass sie die Dinger ins Regal stellte. Sie war spät dran mit dem Weihnachtszeugs, es war aber auch viel zu tun gewesen in den letzten Wochen. Erst hatte sich Annette aus dem laufenden Betrieb verabschiedet, um den Mord an der Kallenberger PTA-Schule aufzuklären, dann war sie furchtbar angeschlagen gewesen, weil sie sich selbst die Schuld am Tod der stellvertretenden Schulleiterin gegeben hatte. Und Britta Badouin, die Chefin, konnte ja auch nicht alles allein machen. Sophia von der Leyden, die immer mal aushalf, hatte jetzt ihr Pharmazie-Studium begonnen und war dadurch zuweilen unabkömmlich. Einziger Lichtblick war der Doktor aus dem Stockwerk über der Apotheke, Robert von der Leyden, ein Verwandter von Sophie. Rieke seufzte. Leider war der schon vergeben. Er hatte sein Herz an Britta, die Apothekerin, verloren. Und sie an ihn.

Er konnte ja nichts dafür, dass er aussah wie ein Schauspieler aus einer Arzt-Serie, aber man durfte wohl bei diesem Mann schon einmal ins Träumen geraten. Schlank, charismatisch und mit unglaublich tollen silbergrauen Haaren: Doktor Silberlocke nannten sie ihn intern. Der Kardiologe hatte auch einen Neffen, Frido, aber der war – zum Verrücktwerden, das – ebenfalls aus dem Rennen, da er anscheinend ein Auge auf Annette, die PTA geworfen hatte. Naja, dachte Rieke, und sortierte weiterhin ihre Weihnachts- Devotionalien. Musste sie sich halt auf die Rolle der Beobachterin beschränken.
Rieke stellte die Engel in Reihen hintereinander, neben die Duftkerzen und die Handcreme-Tuben mit den Weihnachtsbäumen. Dann kamen die Lavendel-Seifenstücke und die Potpurri-Säckchen mit der roten Glitzerschleife. Wie das roch. Soooo gut! Rieke schloss die Augen und schnupperte.
Hinter ihr betrat Annette die Apotheke. „Guten Morgen“, sagte sie und dann: „Oh Gott, das stinkt ja furchtbar.“ Rieke drehte sich um. „Moin! Wieso, das riecht doch toll!“ „Findest du…“ Annette zog sich im Gehen den Mantel aus, sie war spät dran. „Hast du die Kassen schon hochgefahren? Britta kommt heute später.“
„Ja, ist alles erledigt.“ Rieke war stolz auf ihr Organisationstalent und wusste, sie wurde hochgeschätzt von den übrigen Mitarbeitern. PKA waren ja kaum noch zu kriegen, vielleicht war das einer der Gründe, warum die Chefin sie auf Händen trug. „Super.“ Annette hängte den Mantel in den Schrank, zog sich den Kittel über, auf dem ihr Name stand. „Dann wollen wir mal.“ Sie schaute mit hochgezogenen Augenbrauen auf das Regal mit den Weihnachtsengeln. „Hoffentlich ist die Lamettazeit bald vorüber. Das ist ja die reinste Geruchsinvasion.“

Abends, nach Geschäftsschluss, trafen sich alle im Nachtdienstzimmer, das war freitags fast schon Tradition geworden. Frido, Doktor Silberlocke, Britta, Annette und sie stießen dann mit einem Glas Prosecco an. Wir sind beinahe wie eine Familie, dachte Rieke, als sie sich umsah. Robert von der Leyden beugte sich gerade zu Britta herunter, die ihn vom Sofa aus betrachtete. Hingerissen betrachtete. Sein tolles Haar fiel ihm mit Schwung in die Stirn, als er ihr irgendwas erklärte. Und als er fertig war mit Erklären küsste er sie mitten auf den Mund, und es war ihm erkennbar egal, dass alle zuguckten. So ein Glück möchte ich auch mal haben, dachte Rieke.

Annette und Frido standen am Fenster. Die PTA hatte sich an den jungen Freiherrn gelehnt, der ihr wahrscheinlich wieder irgendwelche Sternbilder zeigte, er war ja so ein Naturverbundener. Während Frido ab und zu von seinem Glas nippte, hatte sie ihres auf die Fensterbank gestellt. Er zeigte nach draußen und Rieke verstand „Perseiden… Sternschnuppen… darfst dir was wünschen“. Annette hielt sich die Hand vor den Mund.
„Ich vertrag den Prosecco nicht“, sagte sie. „Ich wünsch’ mir eine andere Marke.“
„Wenn’s weiter nichts ist“, grinste Frido.
Britta hatte sich jetzt erhoben, kam zu Rieke und fragte: „Und wie ist es dir ergangen? Erzähl!“
Rieke berichtete vom Weihnachtsgeschäft und dass sie verbotenerweise manchmal vorn mithelfen musste, was sie super fand. Als Robert von der Leyden die Augenbrauen hob, bügelte Britta ihn ab: „Das ist so, wie deine Medizinischen Fachangestellten manchmal Rezepte ausstellen, die du ohne hinzuschauen unterschreibst.“ Da war Doktor Silberlocke still.

„Wir haben Heiligabend Notdienst“, sagte Britta. „Ich komme“, sagte Annette. „Ich auch“, sagte der Doktor. Nur Frido schwieg mit betretenem Gesichtsausdruck. Als ihn alle ansahen, fuhr er auf. „Irgendwer muss doch bei den alten Herrschaften bleiben.“ Er hielt den Blick auf seinen Onkel Robert gerichtet. Der war seit dem Skandal*, der ihn fast seine Approbation gekostet hatte, bei der Familie nicht mehr so richtig wohlgelitten, und wenn Frido nicht die ganze Zeit den Geschäftskram mit der alten Burg und der Adelssippe geregelt hätte, wäre wohl alles den Bach heruntergegangen.

Der Doktor seufzte. „Du hast ja recht.“ Annette sagte gar nichts und verbarg ihre Meinung hinter einem Pokerface und Britta schaute von einem zum anderen, da sie wie stets nach einem verbindlichen Wort suchte, um alle miteinander zu versöhnen.

*siehe „Mord am Mainufer“

„Hier auf diesen Tisch stelle ich am 24. Dezember einen kleinen Weihnachtsbaum.“ Britta klopfte auf den Holztisch vom IKEA, den sie extra für den wachsenden Kreis der Anwesenden angeschafft hatte. „Und wer kommen möchte, der kommt einfach.“

In den gut drei Wochen vor Heiligabend herrschte der ganz normale Wahnsinn.
Zwischen den Jahren, wie die Zeit zwischen dem 24. Dezember und dem 2. Januar genannt wurde, hatten normalerweise alle niedergelassenen Ärzte geschlossen und der Notdienst war zuständig. Der durfte aber nur die kleinsten N1-Packungen aufschreiben, war überdies chronisch überlastet, sodass sich sämtliche Patienten ihre Nachfolgerezepte (meist in der Woche direkt vor Weihnachten) aufschreiben ließen. Und dann noch ein paar kleine Geschenke aus der Apotheke mitnahmen. Sophia von der Leyden ließ extra eine Vorlesung sausen, um mitzuhelfen. Rieke hatte rechtzeitig zwei dicke Rollen Geschenkpapier bestellt und war mit den anderen ununterbrochen damit beschäftigt, Gutscheine, Seifenengel und Lavendelcreme einzupacken, mit kleinen goldenen Sternchen zu bekleben sowie mit dem Sticker „Die Bärenbach-Apotheke wünscht Frohe Weihnachten“.

Annette, die die Kasse neben dem Regal mit den Duftengeln mied und lieber die am Schaufenster nahm, wirkte in diesem Jahr besonders lustlos und abgekämpft. Hatte sie Ärger mit ihrem Frido? War der zuviel in seinem Wald unterwegs? Rieke entdeckte eine gewisse hoffungsvolle Neugier in sich. Die von der Leydens, die waren schon spannend. Und dann noch diese doppelte Verquickung mit der Apotheke… Direkt Stoff für einen Roman. Sehr oft musste Rieke ihre Sendungen im Backoffice stehen lassen, um vorn zu bedienen. Handelte es sich um Rezepte, legte sie die Medikamente entweder Britta, der Apothekerin, oder Annette vor. Waren es lediglich Nahrungsergänzungsmittel, wie in diesem Fall, durfte sie die ohne Rücksprache abgeben.

Die junge Mutter knetete nervös ihre Hände. Sie hatte in der vergangenen Woche bereits Kalzium und Magnesium- Kautabletten für ihr Kind bei Rieke gekauft. Jetzt wollte sie auch noch Vitamin D. „Ich hab gelesen, dass man im Winter davon immer zu wenig hat“, sagte sie. „Und außerdem hat uns das jemand empfohlen.“
„Prinzipiell“, sagte Rieke, die kürzlich von Britta auf ein Seminar über Mikronährstoffe geschickt worden war, „ist das auch nicht schlecht. Wofür hat man Ihnen die Mittel denn empfohlen?“

Die Frau beugte sich ein wenig vor. „Unsere Tochter hat eine milde Form von Autismus“, flüsterte sie fast. „Wir sind zu einem Heiler gegangen. Der hat gesagt, ihr fehle wahrscheinlich Kalzium, Magnesium und Vitamin D.“ „Aha.“ Rieke nahm die niedrig dosierte Packung aus der Sichtwahl. So ganz wohl war ihr nicht. Aber mit Mineralien und Vitaminen konnte sich doch keiner vergiften, oder? Sie durchforstete ihr Hirn nach entsprechenden Aussagen auf dem Lehrgang, konnte aber keine finden. „Waren Sie denn schon einmal beim Arzt?“
„Ach, die können doch auch nicht helfen.“ Die Frau machte eine abwehrende Handbewegung. „Nicht mal die Apotheken können alles besorgen. Die Kamelmilch für unser Kind beispielsweise musste ich mühsam übers Internet beschaffen.“

Kamelmilch? Rieke grinste sich innerlich eins. Die Leute kamen aber auch auf Ideen! Letztens wollte ein Kunde Lebertran haben. Sie musste das über ein paar Ecken heranschaffen, denn das hatte der Großhandel nicht mehr so ohne weiteres vorrätig.
Der Heiligabend nahte in riesigen Schritten. Das war jedes Jahr so. Manchmal standen die Leute bis auf die Straße und der Mechanismus der Schiebetür musste ausgeschaltet werden, weil sie sich sonst dauernd öffnete und wieder schloss. Britta bekam rote Flecken auf den Wangen und Annette wurde immer blasser. Rieke fragte sich ernsthaft, ob das eine oder andere Vitaminpräparat nicht auch der PTA einmal guttun würde, denn so durchscheinend wie jetzt hatte sie ihre Kollegin noch nie gesehen.
„Was ist los mit dir?“ fragte sie Annette, als man sich zwischendurch an den Ibuprofen-Schubladen traf, ein Wirkstoff, den sich die Kundschaft nur zu gern über die Feiertage als Vorrat anlegte.

Annette zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich glaub’, ich hab’ mir irgendwas gefangen. Ich müsste mal zum Arzt gehen.“ Sie lächelte schief. Es war ein Running Gag zwischen den Apothekenmitarbeitern, dass sie die Ratschläge, die sie ihren Kunden mit auf den Weg gaben, nur selten selbst befolgten. „Ja, dann aber bald“, sagte Rieke und steckte ihr bei nächster Gelegenheit ein paar Multivitamin-Tabs zu, die ein Vertreter kürzlich da gelassen hatte. War zwar „50plus“, aber egal, würde schon irgendwie helfen. 

Ich glaub‘, ich hab ihn verloren“, wisperte Annette. „Das ist sooo traurig...

Am Freitagabendtreffen saß Annette wie ein Schluck Wasser in der Kurve im Sessel. Frido war diesmal nicht gekommen; Rieke schob es auf seine Abwesenheit, dass die PTA noch schlapper wirkte als sonst.
„Ich hatte da kürzlich einen merkwürdigen Fall“, begann der Doktor. „Es handelte sich um ein Kind, das muss ich euch erzählen. Die Eltern haben nämlich immer alles hier in der Apotheke gekauft.“
„So?“ fragte Britta. „Erzähl‘ mal.“
„Das Kind nahm immer weiter ab, trank tierisch viel und musste sich dauernd übergeben. Sehr mysteriös. Ich wollte die Kleine sofort in die Kinderklinik überweisen, aber das wollten die Eltern nicht. Also hab ich ihr erstmal Blut abgenommen. Und als die Werte da waren, am nächsten Tag, da hab ich dann den Notarztwagen gerufen.“
„Was hatte sie denn?“ fragte Annette mit einem Anflug von Interesse.
„Das Blut des Mädchens wies für ein Kind derart hohe Vitamin D-Werte auf, sowas hab ich noch nicht gesehen. Und auch der Kalzium-Spiegel war extrem.“ Der Dokotor schüttelte den Kopf. „Hoffentlich können die helfen.“
„Äh…“ Rieke war wie vom Donner gerührt. „Ist das Kind eventuell autistisch veranlagt?“
Alle Köpfe wandten sich ihr zu. „Ja, stimmt“, sagte der Doktor erstaunt.
„Dann haben die ihr Zeug bei mir gekauft“, sagte sie. „Aber das ist doch nichts Falsches, oder? Ich meine, ich hab es doch verkaufen dürfen?“
„Ich hätte mir jedenfalls nichts dabei gedacht“, sagte Britta. „Es kommt natürlich darauf an, in welchen Mengen…“
Die Runde schaute sich ratlos an.
„Hm“, machte der Doktor.

Als Rieke nach Hause kam, machte sie sich etwas zu Essen und ging dann früh zu Bett. Der Fall des kleinen Kindes ging ihr im Kopf herum und der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Schließlich dämmerte sie doch weg und träumte verrückte Sachen. Von einem Kamel träumte sie. Von einem Melkschemel. Und von einem See voller dickbäuchiger Fische.
Am nächsten Morgen stürmte Rieke in die Apotheke. Sie legte ihre Handtasche auf den Versandtisch, zog die Jacke aus und drehte sich auf dem Absatz um. Rannte ins Treppenhaus, die Stufen hinauf und überraschte die Arzthelferinnen beim morgendlichen Blutabnehmen. „Ich brauche die Privatnummer vom Doktor“, sagte sie. „Jetzt, sofort. Er muss herkommen.“

Heiligabend lag in diesem Jahr an einem Samstag. Annette und Rieke trafen zeitgleich am Nachmittag ein. Die PKA wurde schon erwartet, von einem strahlenden Doktor, der aufsprang und auf sie zukam.
Was für eine Begrüßung, dachte Rieke geschmeichelt. „Darf ich euch unsere Heldin vorstellen?“ fragte Doktor Silberlocke enthusiastisch und legte ihr beide Hände auf die Schultern. „Du hast unserem Fall gelöst – das heißt, ich darf doch Du sagen?“
„Welchen Fall?“ fragte Annette und schaute fragend von einem zum andern.
„Klar“, sagte Rieke.
„Den Fall mit dem Kind, das die Eltern unwissentlich beinahe mit zuviel Vitamin D vergiftet haben. Und nur weil Rieke Lebertran und Vitamin D, Kalzium und Kamelmilch miteinander kombiniert hat, ist man diesem verhängnisvollen Kreislauf auf die Spur gekommen. Man hat die entsprechenden Ausleiter und Hemmstoffe gegeben – und siehe da, das Kind konnte heute, an Weihnachten, aus dem Krankenhaus entlassen werden.“
„Wahnsinn“, sagte Annette.
„Toll!“ echote Britta.
„Ich bin gleich wieder da.“ Annette wankte nach draußen. Und während Britta und der Doktor durcheinander redeten und Rieke in den höchsten Tönen lobten, war deren Geist schon wieder woanders.
„Nach meinem – also Riekes – Hinweis haben die Ärzte in der Kinderklinik dem kleinen Wurm Kalzitonin gegeben, das fördert die Ausscheidung von Kalzium. Und Bisphosphonat, das wiederum hemmt die Freisetzung von Kalzium aus den Knochen – in Kamelmilch ist nämlich unheimlich viel davon, und zusammen mit den Kautabletten ergab das eine schwindelnde Menge. Mittels viel Flüssigkeit und mit einem Entwässerungsmittel haben die Ärzte den Spiegel rasch senken können. Auch das Vitamin D ging dabei runter, das ja die Kalziumresorption auch noch erhöht hat. Wenn du nicht aufgepasst hättest, Rieke…“ Der Doktor sah sich ratlos um. „Wo ist sie denn?“
Rieke war bei Annette, die sich in den hintersten Winkel des Backoffice zurückgezogen hatte. Die PTA schluchzte leise vor sich hin.
„Was hast du denn?“ fragte Rieke und hätte am liebsten mitgeheult, weil die Kollegin so schrecklich aussah.
„Ach –„ Annette schluckte. „Mir geht es miserabel.“
„Weil Frido nicht hier sein kann?“ fragte Rieke mitfühlend.
„Nee. Naja – auch. Mir ist einfach nicht gut. Den ganzen Tag über hab ich‘s im Magen und die Milch schmeckt sauer…“
„Die Milch schmeckt sauer?“ fragte Rieke. „Das hatte meine Schwester auch.“
„Echt?“ fragte Annette hoffnungsvoll. „Und was war mit ihr?“
„Es lag daran, dass sie schwanger war. Sie wusste es nur nicht“, sagte Rieke.

Da in einer Apotheke an entsprechenden Tests kein Mangel herrscht, wusste Annette recht bald Bescheid.
Im Nachtdienstzimmer schlug die Nachricht ein wie eine Bombe. Rieke hatte kurz nacheinander zwei medizinische Rätsel gelöst, doch das geriet über der ganzen Aufregung ein wenig in Vergessenheit. Nur der Doktor zwinkerte ihr über die Schultern der beiden Frauen zu. Rieke fand das total in Ordnung.

Britta und Annette hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten miteinander. Robert von der Leyden kam zu Rieke und flüsterte auch. „Ein Königreich für ein Bier“, raunte er ihr ins Ohr.

„Da sagst du was“, flüsterte Rieke zurück, die nicht nur mit einer älteren Schwester, sondern auch noch mit drei Brüdern aufgewachsen war und in deren Haushalt immer irgendwo ein Kasten Bier zu finden war.
„Aber wie ich das sehe, wird es hier in Zukunft nicht mehr viel Alkoholisches geben“, sagte der Arzt betrübt. Britta rauschte an ihnen beiden vorbei und man hörte sie im Nebenzimmer telefonieren.

Von der Burg Greifenstein bis nach Herborn, zur Bärenbach- Apotheke, sind es rund fünfzehn Minuten. Frido schaffte es in zehn. Während er im Nachtdienstzimmer verschwand – er zog die Tür bedauerlicherweise fest hinter sich zu – standen Britta, Rieke und der Doktor zu dritt neben dem Regal mit den Grippemitteln, zum Warten verdonnert. Nicht ein einziger Kunde verkürzte ihnen die Zeit, wahrscheinlich waren alle mit der Bescherung beschäftigt, wie es sich gehörte.
„Jetzt reicht es mir aber“, murrte Robert von der Leyden.
„Wir haben oben in der Praxis einen ganzen Schrank voll Sektflaschen, alles Geschenke der Kunden, die hol ich jetzt und kipp‘ mir einen hinter die Binde.“
„Hast du’s gut“, entgegnete Britta. „Ich darf ja nicht.“
„Ich sauf‘ mit“, sagte Rieke und gackerte zusammen mit dem Doktor los.
Die Tür zum Nachtdienstzimmer ging wieder auf; heraus kam ein rotgesichtiger Frido, der die Blickachse zu einer schluchzenden Annette freigab. Frido eilte von dannen, durch die Tür zum Treppenhaus hinaus ins Freie; weg war er.
„Um Gottes willen, was ist denn passiert?“ rief Britta und ging zu der PTA, die die Hände vors Gesicht schlug.
Es war kein Sterbenswörtchen aus ihr herauszubekommen. Doktor Silberlocke und Rieke lugten angstvoll um die Ecke, aber Annette presste die Lippen zusammen, auch wenn Britta sie noch so oft fragte. Annette schüttelte nur vehement den Kopf. Und schließlich gab Britta auf, vielleicht auch, weil die Notdienstglocke schellte. Es war eigentlich eine prima Ablenkung, dass ein Kunde sich minutiös nach einem passenden Mittel gegen seine Hämorrhoiden erkundigte. Rieke dachte, dass es wirklich schlimm sein musste, wenn er dafür an Heiligabend zum Notdienstschalter…
Als der Mann weg war, gingen alle zusammen in das Zimmer, in dem Annette etwas verloren auf einem Stuhl saß. Der kleine Tannenbaum stand seltsam deplatziert auf dem Tisch. Britta hatte ihn mit roten Kugeln geschmückt und mit Strohsternen behangen; darunter lagen ein paar Geschenke. Dass sie daran gedacht hatte. Rieke wurde es ganz warm ums Herz.
Britta schaltete den CD-Player ein und ganz leise ertönte im Hintergrund Weihnachtsmusik. Doktor Robert, bis an die Zähne mit Sektflaschen bewaffnet, stellte selbige neben den Tannenbaum. „Da ist auch eine ohne Alkohol dabei“, sagte er etwas verlegen zu der PTA. Die nickte nicht mal. Sie saß da wie abgestorben.
Rieke ging vor ihr in die Hocke. „Mensch, Annette“, sagte sie. „Was hat er denn gesagt?“
Annette guckte sie tränenbewehrt an. „Ich glaub‘, ich hab‘ ihn verloren“, wisperte sie. „Das ist sooo traurig…“ Und sie fing schon wieder an zu heulen.
„Das ist ein solcher Quatsch!“ Fridos kräftiger Bass wehte durch das Nachtdienstzimmer wie eine frische Brise. Er war über den Parkplatz gekommen und trat nun von hinten ein, in einem eleganten marineblauen Mantel und sogar im Anzug, mit Schlips und Kragen, denn man hatte ihn wohl direkt aus seiner adligen Bescherung geholt. „Ich musste nur was besorgen!“
Und dann war er mit zwei Schritten bei Annette. Robert, Britta und Rieke wichen zurück und überließen ihm das Feld.
Friedhold Adalbert von der Leyden ging in die Knie. Vor Annette, die ihn erschreckt betrachtete. Er zog etwas aus seiner Manteltasche.
„Also“, sagte er. „Der hier ist nur aus dem Kaugummiautomaten um die Ecke, aber ich konnte in der Eile nichts anderes auftreiben. Ich frage dich also, Annette, willst du meine Frau werden? Ich liebe dich nämlich wirklich. Und unser Kind, das bald zur Welt kommen wird.“
Annette schaute wie paralysiert auf den Kinderring aus Aluminium, den Frido in der Hand hielt, und Rieke dachte: Nun sag‘ doch schon was…!
„Bitte, Frido, müssen wir denn unbedingt gleich heiraten?“ flüsterte die PTA. „So lange kennen wir uns doch noch gar nicht…“
Frido schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir kennen uns immerhin schon zwei Morde lang. Und ohne Heiraten geht bei uns nichts, das müsstest du wissen. Der Kleine wird mal Erbe der Burg, denn mein Onkel Robert hat es ja versäumt, für Nachwuchs zu sorgen. Also?“
„Hm.“ Annette klang unschlüssig. „Und wenn es ein Mädchen wird?“
Frido wischte ihren Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. „Das ist doch jetzt wirklich zweitrangig. Es wäre schön, wenn du mir antworten würdest. Ja oder nein, Annette?“

Die drei Zuhörer hielten den Atem an, um ihre Antwort nicht zu verpassen.
Was Annette dann sagte, ging im Klang der Notdienstglocke unter, die zeitgleich mit dem Telefonklingeln losschellte. Das ergab Sinn, wenn die diensthabende Apothekerin sich auf dem Sofa zur Ruhe gebettet hatte. In der herrschenden Situation war es jedoch absolut unpassend.
Und man konnte eigentlich nur an der Reaktion Fridos ablesen, für welche Variante Annette sich entschieden hatte. Wie er versuchte, den viel zu kleinen Ring mit dem Plastikstein auf Annettes Finger zu schieben, das hatte schon etwas Komisches.


Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/16 ab Seite 100.

Alexandra Regner

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