Menschen springen in die Luft© monkeybusinessimages / iStock / Getty Images

Bedeutung des Tanzens

DARF ICH BITTEN?

Was für eine Frage ist das denn? Vor ein paar Jahrzehnten gehörte sie zur guten Erziehung und stellte den Beginn so manch wunderbarer Freundschaft oder sogar lebenslanger Partnerschaft dar. Wo diese Frage gestellt wurde? Beim Tanzen.

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Es gab Zeiten, da war es selbstverständlich, dass junge Menschen in die Tanzschule gingen. Zum einen, um die wichtigsten anerkannten Gesellschaftstänze wie Standard und Lateinamerikanisch kennenzulernen. Zum anderen, um mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Ganz nebenbei erlernten die jungen Leute auch noch ein paar Benimmregeln. Nach einem Tanz wurde selbstverständlich die Tanzpartnerin möglichst unbeschadet zu ihrem Platz zurückgebracht. Das Ganze hatte jedoch mit der Frage „Darf ich bitten?“ begonnen.

Mehr als tanzen Auch heute noch besuchen die meisten Jugendlichen eine Tanzschule und zurzeit erfährt das Tanzen durch Videoportale wie TikTok bei den Jungen und Junggebliebenen in aller Welt einen regelrechten Boom. Seit Menschengedenken ist das Tanzen eine wesentliche Ausdrucksform von Männlein und Weiblein. Claudia Fleischle-Braun, Dozentin für Gymnastik und Tanz am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Stuttgart, hat vor einigen Jahren Tanzen treffend beschrieben: „Tanz ist eine nonverbale Darstellungs- und Ausdrucksform des Menschen, in deren Zentrum die subjektive ästhetische Inszenierung des Körpers und eine Formung der Bewegung in Raum und Zeit stehen. Die Erscheinungsformen und Funktionen des Tanzes sind geprägt von ihrem jeweiligen geschichtlichen und soziokulturellen Umfeld. Daher spiegeln die verschiedenen traditionellen Tanzformen und stilistischen Spielarten des zeitgenössischen Tanzes ein jeweils eigenes Verständnis von Körperlichkeit und Bewegung wider, das sich in unterschiedlichen ästhetischen Idealen, Normen und Praktiken äußert. Verschiedene Tanzstile beinhalten und zeigen daher immer auch kollektive oder individuelle Wahrnehmungs- und Umgangsweisen mit dem Körper; und sie können den Zeitgeist und die Lebensgefühle einer Generation erfahrbar werden lassen. Die heutigen jugendkulturellen Tanzstile wie auch der Rock’n’Roll der 1950er- und 1960er-Jahre sind hierzu anschauliche Beispiele“.

Gar nichts Neues Eine kühne Behauptung wäre zu sagen, dass das Tanzen so alt ist wie die Menschheitsgeschichte selber. Dafür fehlen die entsprechenden Belege aus vergangenen Zeiten. Zu den ersten bildlichen Darstellungen zählen solche auf Keramik oder Stein und datieren auf die Zeit vor sieben- bis zwölftausend Jahren. Die weltweit ältesten Tanzdarstellungen sind in der deutschen Gemeinde Gönnersdorf aufgetaucht. Es handelt sich um Ritzzeichnungen auf Schieferplatten, die in die Zeit um 12000 vor Christus gehören.

Es spricht vieles dafür, dass die Menschen mit dem Entdecken des Rhythmus und damit der Musik, also zu der Zeit, als sie begannen, sesshaft zu werden und in Gruppen zu leben, auch das Tanzen für sich entdeckt haben. Erst der Rhythmus, in Verbindung mit Lauten und schließlich Sprache gaben dem Gehörten Struktur und wiesen ihm Sinn und Bedeutung zu. Das Gefühl fürs Tanzen scheint uns also angeboren zu sein, es steckt in unseren Genen. Nahezu jeder Mensch reagiert auf Töne, auf Musik und Rhythmus. Die Art der Musik mag unterschiedlich sein, aber wir wippen mit dem Kopf, mit den Füßen, wir malen mit den Armen und Händen geheimnisvolle Zeichen in die Luft, setzen unsere Füße vor-, neben- und hintereinander. Kurz: Wir können bei Musik einfach nicht stillhalten.

Gemeinsames Tanzen ist auch ein hervorragend geeignetes Mittel, Menschen zu verbinden, egal in welchem Alter. So sind beispielsweise auf dem Oktoberfest in München in allen Zelten Zehntausende von Menschen jeden Alters in Wallung und Bewegung, sobald die Bands mit alten Gassenhauern und rhythmischen Interpretationen moderner Hits beginnen. Das Gemeinschaftsgefühl nimmt einfach alle mit. Auch bei Pop- und Rockkonzerten wogen die Massen der Zuschauer einträchtig hin und her, es wird gesungen, gejohlt, geschrien und getanzt. Was für enorme Energieexplosionen!

Tanzen macht etwas mit uns Und darin mag auch das Geheimnis liegen: Energie. Unsere Körper wollen sich bewegen, und sie müssen auch bewegt werden, um gesund zu bleiben, um gesehen zu werden, um etwas auszudrücken und um zu gefallen. Bei einer Vielzahl von Tieren ist während der Balz, Brunft, sprich während der Paarungszeit ein deutlich erhöhter Bewegungsdrang zu beobachten. Vor allem die Männchen legen sich mächtig ins Zeug, um den Weibchen mit der schönsten Pirouette, dem elegantesten Hin- und Hergehüpfe zu imponieren. Bei uns Menschen sind es eher die „Weibchen“, die sich zu fast jeder Zeit gern bewegen, aber auch bei uns scheint es beim Tanzen sehr oft um das eine zu gehen: dem anderen Geschlecht zu gefallen.

Männer sind etwas zögerlicher, wenngleich auch ihnen das Tanzen eigentlich Spaß macht. Die Hemmnisse sind meist in der Erziehung begründet und haben mit über lange Zeit erlernten Rollenstrukturen und Geschlechterbildern zu tun. In anderen Kulturen sind es vornehmlich die Männer, die nach festgelegten Regeln rituelle Tänze durchführen – für sie entsteht so vermeintlich die Verbindung ins Übersinnliche, zu Verstorbenen, zu Gottheiten, auf unsereins wirken diese Tänze nicht selten erschreckend, eintönig und befremdlich. Aber sie stecken voller Energie. Und sie können die Tänzer sogar in eine Art Trancezustand versetzen, der sie aus der realen Welt herausnimmt und sie auf mystische Weise mit Neben- oder Überwelten verbindet.

Wir erleben dies ähnlich, wenn wir uns einfach so, wie unser Körper es fühlt, über lange Zeit tanzend und der Welt entrückt nur mit uns befassen, allmählich die uns umgebende Situation vergessen und nur auf die Musik und unser Innerstes achten. Die Gefühle bestimmen dann unsere Bewegung. Das funktioniert auch in Diskotheken oder Clubs, wenn besonders mitreißende oder beliebte Lieder gespielt werden. Wir freuen uns, wir singen mit, wir schreien im Chor und fühlen uns einfach nur gut. Da ist sie wieder, diese Energie. Und die will raus. Dabei spielt es eine besondere Rolle, dass wir diese Momente gemeinsam mit anderen erleben.

Moderne Zeiten Unsere moderne Zeit lässt vielfach wenig Raum für individuelle Entfaltung beim Tanz. Dabei hat diese Bewegungsform eine ganz besondere Kraft: Es kann auch heilen. In den 1940er-Jahren nahm die Idee der Tanztherapie in den USA ihren Anfang und schwappte Jahrzehnte später auch nach Deutschland über. Heute wird bei uns in vielen Städten Tanztherapie angeboten, und es gibt sie sogar bereits als Studienfach. Selbst Kliniken haben den Nutzen erkannt und das Tanzen gegen neurologische und psychosomatische Erkrankungen in ihr therapeutisches Repertoire aufgenommen.

Dabei geht es um unterschiedliche Ansätze, wie den Nachahmungstanz, der nicht nur Selbsterfahrung, sondern auch Selbstoffenbarung bewirkt, den Impulstanz, die Improvisation, die das eigene Bewegungsbedürfnis fördert, und den Gestaltungstanz, der kontrollierte Bewegungen, die vom Ausführenden frei interpretiert werden, beinhaltet. Es ist erwiesen, dass Tanzen Glücksgefühle und Lebensfreude auslöst und somit körperliche und seelische Defizite ausgleichen kann. Das Bewusstsein wird geschärft, und selbst das Immunsystem profitiert. In diesem Sinn: Darf ich bitten? Tanzen Sie doch mal wieder. Am besten gleich jetzt!

Diesen Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/2021 ab Seite 138.

Wolfram Glatzel, freier Journalist

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