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Politik

ARZNEIMITTEL FÜR KINDER

Viele der zurzeit in der pädiatrischen Heilkunde verwendeten Arzneimittel sind für den Einsatz bei Kindern weder untersucht noch zugelassen. Ein Maßnahmenbündel soll Abhilfe schaffen. Erste Erfolge zeichnen sich ab.

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Bevor ein Humanarzneimittel hierzulande (und in anderen europäischen Ländern) in den Verkehr gebracht werden darf, muss es in der Regel umfangreiche präklinische und klinische Prüfungen durchlaufen haben, um Wirksamkeit und Sicherheit zu gewährleisten. Für lange Zeit wurden solche Zulassungsstudien jedoch ausschließlich für Erwachsene konzipiert. Arzneimittelstudien an Kindern und Jugendlichen galten als unethisch. Deshalb sind viele der in der Kinderheilkunde gebräuchlichen Arzneimittel bis heute für eine solche Verwendung nicht untersucht (Off-Label-Use). Das Fehlen von speziell an die Bedürfnisse von Kindern angepassten Arzneimitteln ist ein Problem.

Denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. So erhöhen nichtadäquate Dosierungsinformationen das Risiko von Nebenwirkungen. Oder die Behandlung ist aufgrund zu niedriger Dosierung unwirksam. Auch stehen oftmals kindgerechte Zubereitungen und Verabreichungswege nicht zur Verfügung. Auf ärztliche Verschreibung in Apotheken zubereitete Arzneimittel können in puncto Qualität nur schwerlich mit industriellen Produkten mithalten und auch nicht jede Versorgungslücke schließen. Wichtiger noch: ohne Veränderung der Rahmenbedingungen blieben Kinder und Jugendliche auf Dauer vom therapeutischen Fortschritt weitestgehend ab- geschnitten.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Es werden mehr Arzneimittel gebraucht, die für Kinder zugelassen sind.

Fordern und fördern National lassen sich diese Probleme nicht lösen. Deshalb hat die Europäische Union vor zehn Jahren mit einer Verordnung, die unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten ist, einen neuen Rechtsrahmen geschaffen (Verordnung (EG) Nr. 1901/2006), der dem Off-Label-Use in der Pädiatrie entgegenwirkt und die Zahl geprüfter und für Kinder zugelassene Arzneimittel erhöhen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht die Verordnung bestimmte Verpflichtungen pharmazeutischer Unternehmer („Hersteller“) vor. Im Gegenzug, quasi als Belohnung, werden den Herstellern Exklusivitätsrechte bei Erfüllung spezifischer Voraussetzungen und Erleichterungen eingeräumt, die bares Geld wert sind. Waren Kinder und Jugendliche aus ethischen Gründen per Gesetz noch bis 1997 von Arzneimittelstudien ausgeschlossen, müssen die Hersteller neuerdings die pädiatrische Population in die Entwicklung innovativer Arzneimittel grundsätzlich einbeziehen und ein pädiatrisches Prüfkonzept erstellen (Kinderprüfplan-Verfahren).

Gleiches gilt für die Erweiterung von durch ein Patent (oder spezielles Zertifikat) geschützte Arzneimittel, etwa wenn neue Darreichungsformen oder Applikationswege zugelassen werden sollen („fordern“). Aus- nahmen von der Verpflichtung zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts sieht die EU- Verordnung nur in bestimmten Fällen vor, etwa wenn das betreffende Indikationsgebiet bei Kindern nicht relevant oder das Arzneimittel wahrscheinlich unwirksam ist. Eigens für die Beurteilung des jeweiligen Prüfkonzepts beziehungsweise die Freistellung von der Verpflichtung zur Durchführung pädiatrischer Prüfungen wurde innerhalb der europäischen Arzneimittelzulassungsbehörde EMA ein Ausschuss, das „Paediatric Com- mittee“, gegründet.

Das Votum des Ausschusses hat gravierende Folgen für den Antragsteller: billigt er das Prüfkonzept (bzw. die Freistellung) nicht, erhält der Hersteller keine Marktzulassung für das Arzneimittel für Erwachsene beziehungsweise kann er eine bestehende Zulassung nicht in der gewünschten Form abändern. Keine Zulassung, kein Umsatz. Ein Novum ist zudem die mit der oben genannten EU-Verordnung geschaffenen Möglichkeit einer speziellen Zulassung für die pädiatrische Verwendung, kurz PUMA genannt – eine Abkürzung, die für „Paediatric Use Marketing Authorisation“ steht. Diese besondere Genehmigung soll einen Anreiz für die pädiatrische Entwicklung (einschließlich kindgerechter Darreichungsformen) von bereits zugelassenen, patentfreien Arzneimitteln schaffen.

Denn entsprechende Anträge profitieren nicht nur von einem automatischen Zugang zum zentralen Zulassungsverfahren und niedrigen Verfahrensgebühren, sondern garantieren dem Zulassungsinhaber auch acht Jahre Datenexklusivität (d. h. kein anderer Hersteller darf auf klinische Daten für ei- ne generische Zulassung Bezug nehmen) und zwei weitere Jahre Marktexklusivität. Für lange Zeit muss der Hersteller also keine Konkurrenz fürchten. Wirtschaftliche Anreize sieht die Verordnung auch für ein gebilligtes pädiatrisches Prüfkonzept für Patentarzneimittel vor und zwar durch eine sechsmonatige Verlängerung des Patents (durch ein Schutzzertifikat).

Für Orphan Drugs, mithin Arzneimittel für seltene Leiden, wird die Exklusivitätsfrist sogar um 24 Monate verlängert („fördern“). Schließlich wurde mit der EU- Verordnung eine Regelung eingeführt, die Zulassungsinhaber verpflichtet, für Arzneimittel, die schon lange auf dem Markt sind, vorhandene Studiendaten den nationalen Zulassungsbehörden zur Begutachtung vorzulegen, um die Datenlage zur pädiatrischen Verwendung zu verbessern und gegebenenfalls Empfehlungen in Gebrauchs- und Fachinformationen zur Anwendung des Arzneimittels bei Kindern und Jugendlichen aufnehmen zu können.

Eine Zwischenbilanz In den ersten fünf Jahren nach Inkrafttreten der Kinderverordnung wurden für mehr als 2000 „etablierte“ (alte) Arzneimittel mehr als 18 000 Studienberichte veröffentlicht, Informationslücken geschlossen und Transparenz geschaffen. Auch lässt sich ein deutlicher Anstieg der Probandenzahlen in klinischen Prüfungen mit Kinderarzneimitteln feststellen. Gleichwohl steht einer großen Zahl an beschiedenen Prüfplänen (mehr als siebenhundert) eine verhältnismäßig kleine Zahl an für Kinder zugelassenen Arzneimitteln gegenüber (gut fünfzig). Noch „übersichtlich“ ist der Erfolg von PUMA- Zulassungen: am 19. September 2016 erteilte die EMA erst die dritte derartige Genehmigung. Sialanar® mit dem Wirkstoff Glycopyrroniumbromid steht nunmehr Patienten ab drei Jahren zur Verfügung; es hemmt übermäßigen Speichelfluss aufgrund neurologischer Grunderkrankungen. Nichtsdestotrotz, ein Anfang für eine bessere Arzneimittelversorgung von Kindern und Jugendlichen ist gemacht, erste Erfolge zeichnen sich ab. Apotheken werden aber auch zukünftig individuelle Kinder- arzneimittel herstellen müssen, um Versorgungslücken zu schließen. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/17 ab Seite 66.

Dr. Michael Binger, Hessisches Gesundheitsministerium

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