Repetitorium
AD(H)S - TEIL 2
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Bei vielen tatsächlich diagnostizierten ADSlern liegen interessanterweise die Erfolge gehäuft im künstlerischen oder sportlichen Bereich. Daneben existieren natürlich zahlreiche, längst verstorbene Berühmtheiten, denen aufgrund ihrer beschriebenen Persönlichkeitsstruktur eine AD(H)S nachgesagt wird – ohne dass diese jemals zu ihren Lebzeiten diagnostiziert wurde: Leonardo da Vinci, Albert Einstein, Thomas Edison oder Winston Churchill sind Beispiele. Warum wird dies an dieser Stelle erwähnt? Bei all den negativen Symptomen die AD(H)S-Betroffene unweigerlich aufweisen, bei den vielen Frust- und Misserfolgserlebnissen, die viele Betroffene aus der Kindheit und Jugend ins Erwachsenenalter schleppen, existieren auch besondere Stärken undpositive Eigenschaften, wie ausgeprägte Kreativität, Ideenreichtum, Fantasie, Hilfsbereitschaft, Feinfühligkeit und/oder starker Gerechtigkeitssinn bei dieser Personengruppe.
Bei nötiger und sinnvoller Struktur und Förderung von außen können sie Ungewöhnliches leisten und damit teils auch überdurchschnittlich erfolgreich sein. AD(H)Sler haben eine besondere Form der Wahrnehmung und des Denkens, die viele Schwächen, aber eben auch gewisse Stärken mit sich bringt. In unserer Gesellschaft, die alles in Normen pressen möchte, stellen AD(H)S-Betroffene demzufolge eine Abweichung von der Norm, eine „Normvariante“ dar. Ob AD(H)S als Krankheit, eher als Störung oder sogar als Gabe angesehen werden muss/kann, hängt viel von den indiviindividuellen Defiziten, der sozialen Situation und der Intensität des Leidensdruckes jedes einzelnen Betroffenen ab. Und Ziel jeglicher Therapie sollte deshalb sein, Anerkennung für die besonderen Talente des jeweiligen AD(H)Slers zu erlangen und gleichzeitig zu helfen weniger „anzuecken“. Denn jede Behandlung heutzutage kann die Symptome lindern, aber nicht AD(H)S „heilen“!
Woran liegt es? Die Frage nach den Ursachen einer AD(H)S wird gerne kontrovers und auch oft emotional geprägt diskutiert. Fakt ist: Wie es genau zu einer AD(H)S kommt, ist bis heute nicht geklärt. Als gesichert gilt eine genetische Komponente deren Einfluss auf etwa 75 Prozent geschätzt wird. Erbfaktoren spielen bei der Verursachung einer ADHS somit eine große Rolle. Für die genetische Disposition spricht, dass die Eltern dieser Kinder sehr häufig ähnliche Symptomatiken zeigen. Mittels Zwillings- und Adoptionsstudien sowie molekulargenetischen Untersuchungen gewannen Wissenschaftler zudem Hinweise auf vorhandene Risikogene. Diese kodieren für Rezeptoren,
Transporter sowie Stoffwechselenzyme der Botenstoffe Dopamin und Serotonin. Die Mehrzahl der Mediziner und Psychologen geht heute deshalb davon aus, dass die Störung biologisch verursacht ist und auf einer Dysfunktion von Regelsystemen im Frontalhirnbereich beruht. Tatsächlich wurde ein Ungleichgewicht in verschiedenen Neurotransmittersystemen, bei denen die Botenstoffe Dopamin, Serotonin, aber auch Noradrenalin die entscheidenden Rollen spielen, nachgewiesen.
Als Risikofaktoren für die AD(H)SStörung wurden unter anderem toxische Belastungen in der Schwangerschaft und frühen Kindheit wie Alkohol, Tabak oder Schwermetalle bestätigt. Umwelteinflüsse wie Nahrungsmittelintoleranzen, -allergien, Nährstoffdefizite oder auch hoher Fernseh-/Computerspielkonsum werden in der Laienpresse immer mal wieder als verantwortliche
Ursachen einer AD(H)S dargestellt. Dies konnte in wissenschaftlichen Untersuchungen aber nicht bestätigt werden!
Tatsächlich werden auch psychosoziale Bedingungen (beispielsweise eine ungünstige familiäre Situation) von den meisten Wissenschaftlern nicht mehr als primäre AD(H)SUrsache
angesehen. Sie können jedoch deren Schweregrad erheblich beeinflussen und zur Verstärkung und Verfestigung unerwünschter, negativer Verhaltensweisen beitragen. So kann die Ausprägung einer AD(H)S beim Kind/Jugendlichen durch günstige Faktoren reduziert werden. Hierzu zählen engagierte Eltern, die sich intensiv mit dem Krankheitsbild auseinandersetzen, Stabilität geben können,
berechenbar und geduldig sind sowie Ressourcen haben, das Kind zu unterstützen.
Ungünstige soziale Faktoren sind hingegen schwieriges Milieu, überforderte, impulsive Eltern, Arbeitslosigkeit und Sucht in der Familie. Unter derartigen Bedingungen kommt es gehäuft auch zu kriminellen Entwicklungen. Wichtig zu wissen ist: Mütter beziehungsweise Eltern haben keine Schuld, es handelt sich definitiv nicht um einen Erziehungsfehler. Oft haben aufgrund der genetischen Komponente Eltern allerdings auch eine AD(H)S. Und so fällt es ihnen besonders schwer den Kindern Struktur zu geben, klar und konsequent zu erziehen.
Wann besteht Handlungsbedarf? Eine nur leicht von AD(H)S betroffene Person ist womöglich gar nicht unmittelbar behandlungsbedürftig. Sie besitzt eine höhere Kreativität, ist etwas weniger impulsgehemmt als normal, kann sich nicht so gut konzentrieren wie andere Menschen. Dafür bekommt sie am Rande liegende Details sehr viel besser mit. Trotzdem ist eine frühzeitige Information der betroffenen Person und ihres Umfeldes über AD(H)S sowie eine psychosoziale
Hilfestellung wichtig. Betroffene können dadurch in ihrer Entwicklung positiv beeinflusst werden, die negativen Symptome werden abgeschwächt. Leider führt die Kernsymptomatik des AD(H)S – wie schon im ersten Repetitoriumsteil angeführt – bei Kindern und Jugendlichen jedoch sehr häufig zu Lern- und Leistungsproblemen im schulischen Bereich.
Dies kann in einer Art Teufelskreis (Circulus vitiosus) die Grundsymptomatik wiederum verstärken. Betroffene Schüler werden im Unterricht noch unkonzentrierter, unruhiger, das soziale Verhalten aufgrund der erlebten Misserfolge noch auffälliger. Eine diagnostizierte AD(H)S gilt immer dann als behandlungsbedürftig, wenn die Ausprägung der Symptome zu einer deutlichen Beeinträchtigung im Leistungs- und Sozialbereich führen, der Betroffene darunter leidet oder gar noch weitere psychische Störungen (Suchtgefahr, Depressionen, Aggressivität) Folge sein können.
Ohne Behandlung sind dann Schulversagen, Versagen im Beruf sowie Suizidversuche wahrscheinlicher. Therapeutisch gilt es diesen geschilderten Circulus vitiosus zu durchbrechen. Um dies zu erreichen wird bei massiven Beeinträchtigungen gerne und vergleichsweise schnell medikamentös behandelt. Insgesamt ist jedoch ein multimodales Gesamtkonzept, bei dem verhaltenstherapeutische und medikamentöse Behandlung Hand in Hand gehen, nach bisherigem Wissensstand die effektivste Methode.
»Häufig assoziierte Störungen wie Lese-Rechtschreib-, Rechenschwäche sind mit entsprechenden Therapien sowie Nachteilsausgleich in der Schule zu behandeln.«
Leitlinien Für die Diagnosekriterien im Kindes/ Jugendalter existieren die bereits in
Repetitoriumsteil 1 erwähnten DSM-IV-Kriterien sowie die Diagnosekriterien nach ICD-10. Hinzu kommen für Diagnosestellung und Therapie die Leitlinien verschiedener Fachgesellschaften. Die „European clinical guidelines for hyperkinetic disorder – first upgrade“ stammt aus dem Jahr 2004. Im deutschen Sprachraum liegen Leitlinien zu AD(H)S von zwei Fachgesellschaften vor, die sich weitgehend überschneiden. Die noch gültige Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und
Jugendärzte stammt vom Januar 2007, wobei der medikamentöse Teil im März 2014 überarbeitet wurde.
Derzeit ist eine gemeinsame S3-Leitlinie „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) sowie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. (AG ADHS) in der Entwicklung und soll – laut Planung – bis Dezember 2015 fertig gestellt sein. Für Erwachsene konnte unter anderem noch eine eigene „Leitlinie auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde)“ aus dem Jahr 2003 gefunden werden. Fakt ist: Leitlinien sind wichtig, müssen ständig weiterentwickelt werden, stellen letztlich aber nur Hilfen für die individuelle Entscheidungsfindung, also für den jeweiligen Individualfall dar. Es handelt sich um „Handlungs- und Entscheidungskorridore“, von denen in begründeten Fällen auch abgewichen werden kann oder sogar muss.
Leitliniengerechte Behandlung Therapieziele sind die Verringerung der Kernsymptomatik, eine altersadäquate psychosoziale Entwicklung und Integration, die Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung, ein genügend stabiles Selbstwertgefühl und auch die Gewährleistung einer begabungsentsprechenden Schul- und Berufsausbildung. Dabei muss die Therapie auf die individuelle Situation des einzelnen Betroffenen ausgerichtet sein. In Anbetracht des häufig wechselvollen Verlaufs eines AD(H)S mit den Jahren ist eine wohnortnahe, kontinuierliche und möglichst kurzfristig zugängliche Behandlung von Betroffenem unter Einbeziehung seiner Familie nötig. Primäres Therapiekonzept ist dabei eine multimodale Therapie, also eine Kombination verschiedener
Behandlungsbausteine. Hierzu gehören:
- Situationsanalyse,
- Elternberatung und -training (Psychoedukation),
- bei neurologischem Befund eine gezielte Physiotherapie
(Behandlung von Entwicklungsstörungen), - verhaltenstherapeutische Interventionen (Psychotherapie),
- Coaching, Selbsthilfegruppen sowie
- der Einsatz von Medikamenten.
Die Aufklärung der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und meist auch der Lehrer/Erzieher stellt die Basis für eine sinnvolle Behandlung dar. Für AD(H)S-Betroffene sind zudem eine verlässliche Strukturierung des Tagesablaufes, geregelte Zeitabfolge für Mahlzeiten, Arbeit, Spiel/Freizeitaktivitäten (beispielsweise Sport oder gut strukturierte Jugendgruppe) besonders wichtig. Maßnahmen im gegenseitigen Umgang wie Regeln für Abläufe und Pflichten, konsequente Grenzen sowie Absprachen über Belohnungen und Strafen sind im Rahmen des psychoedukativen Ansatzes ebenfalls von großer Bedeutung.
Existiert eine Entwicklungsstörung, etwa Störung der Körperkoordination, Körperwahrnehmung (grob- /feinmotorische) Störung sind Physiotherapie, Psychomotorik, bei leichteren sozialen Integrationsstörungen und auch zur Entwicklung adäquater und konkreter Strategien
im ADHS-Umgang im Alltag Ergotherapie ins Auge zu fassen. Häufig assoziierte Störungen wie Lese-Rechtschreib-, Rechenschwäche sind mit entsprechenden Therapien sowie Nachteilsausgleich in der Schule zu behandeln. Eine gezielte Verhaltenstherapie unter Anwendung positiver Verstärkung und negativer Konsequenzen kann dazu beitragen problematisches Verhalten zu verbessern. Auch Selbstinstruktionstraining und Selbstmanagement-Interventionen sind bei älteren Kindern mögliche Therapieansätze. Eine enge Zusammenarbeit mit Ergotherapie, Psychomotorik und Heilpädagogik kann mit dem Ziel der alltagspraktischen Umsetzung hierbei sinnvoll sein. Zudem sind Selbsthilfegruppen
durch den Erfahrungsaustausch und die Anregung für praktische Hilfe für viele Eltern und Betroffene eine große Hilfe.
SINNVOLLE LINKS
www.adhs-deutschland.de – Homepage der ADHS
Deutschland e.V. (Selbsthilfe für Menschen mit ADHS)
www.zentrales-adhs-netz.de – bundesweites Netzwerk
zur Verbesserung der Versorgung von AD(H)SBetroffenen
www.adhs.info – ADHS Infoportal des zentralen adhsnetz
mit unabhängigen, zielgruppenspezifisch aufbereiteten
Informationen für Eltern, Pädagogen, Kinder/
Jugendliche mit ADHS, liefert wissenschaftlich fundierte
Erkenntnisse
Ernährungsmaßnahmen und Neurofeedback Häufig besteht seitens Eltern und auch Behandelten Interesse an weiteren nichtmedikamentösen Maßnahmen. Hierzu zählen insbesondere Ernährungsmaßnahmen sowie der Einsatz von Neurofeedback. Da Nahrungsmittelintoleranzen,
-allergien oder Nährstoffdefizite immer wieder einmal in der Diskussion stehen, eine AD(H)S-Symptomatik mit auszulösen, werden gerne einmal diätetische Maßnahmen ausprobiert. Genannt wird hier häufig die Supplementierung mit essenziellen Fettsäuren (Fisch oder Fischöl). Aus gesundheitlichen Gründen kann die Gabe von Omega-3-Fettsäuren sicherlich sinnvoll sein – ganz unabhängig davon, dass eine Wirkung bei AD(H)S umstritten und keineswegs evidenzbasiert belegt ist. Daneben werden gerne auch die Gabe von Vitaminen und Mineralstoffen (insbesondere Zink, Magnesium, Eisen), manchmal auch Aminosäuren (auch L-Carnitin) oder spezielle Eliminationsdiäten
ausprobiert. In allen größeren Studien hierzu hat sich ein Nutzen entsprechender Diäten jedoch nicht nachweisen lassen.
Neurofeedback ist eine Form des Lerntrainings durch Rückmeldung der Hirnaktivität. Computergestützt werden dem Betroffenen Parameter der eigenen Hirnaktivität mittels
Monitor und Lautsprecher wahrnehmbar. Bisherige Studien konnten zeigen, dass das Neurofeedback zu einer signifikanten Verbesserung von AD(H)S-Kernsymptomen führt. Die American Academy of Pediatrics hat aufgrund der aktuellen Studienlage das Neurofeedbacktraining auch als klinisch effiziente Methode bei AD(H)S anerkannt. Das Angebot für die Erbringung dieser Leistung ist in Deutschland allerdings (noch) spärlich, die Durchführung aufwendig und zeitintensiv. Zudem sind die Krankenkassen nicht zur Kostenübernahme verpflichtet.
Zusatzinformationen
„Alternative“ Methoden
In ihrer Hoffnungslosigkeit wenden sich so manche Eltern noch anderen, „alternativen“ Methoden zu. Werbung hierfür wird gerade durch die leichte Werbeverbreitung via Internet, aber auch in zahlreichen Printmedien viel gemacht. Fragestellungen wie „Ritalin und AD(H)S: Nur eine Erfindung der Pharmaindustrie?“ schüren bewusst Zweifel. Neben sicherlich begleitend nicht schadender Homöopathie / Bach-Blüten-Therapie werden auch Kinesiologie, Edu-Kinesthetik, spezielle Yoga-Übungen gerne angeboten. Diese sollen den Kindern helfen, günstige Effekte auf die Aufmerksamkeitsleistung zu erzielen. Trotz gewisser möglicher Motivationsschübe ist hierbei dennoch Vorsicht geboten: Untersuchungen konnten bisher zumindest keine entsprechenden Lernwirkungen nachweisen.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 11/15 ab Seite 86
Dr. Eva-Maria Atoya, Apothekerin / Journalistin