Zwei Hände. © deng qiufeng / iStock / Getty Images Plus
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Progerie

WENN DIE ZEIT ZU SCHNELL LÄUFT

Ein Kind zu erwarten ist für werdende Eltern eine aufregende Phase ihres Lebens, und die Hoffnung, dass das Kleine gesund sein wird, begleitet jeden Tag der Schwangerschaft. Ein Schock, wenn alles anders kommt.

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Einzelkind – aber nur noch sieben Monate! Mit solch heiteren oder ähnlich überraschenden Aussagen auf Schildern oder T-Shirts bereiten viele Kinder ihre oft ahnungslosen Väter und ihre Großeltern auf das anstehende freudige Ereignis vor. Ein Geschwisterchen kündigt sich an. Was für eine wunderbare Nachricht! Alle sind aufgeregt und wünschen sich nichts mehr, als dass das Baby gesund auf die Welt kommt.

Seltene Krankheit Doch gerade dieser Wunsch wird zwar selten, aber dennoch erschreckend von einer der seltensten und verstörendsten Gendefekte, die die Natur bereithält, beantwortet: Progerie, eine als Typ 1 bezeichnete, genetisch bedingte Krankheit, bei der Kinder unter Symptomen leiden, die vorzeitigem Altern gleichkommen. Die wenigsten Menschen kennen Betroffene, da dieses Krankheitsbild nur in verschwindend geringer Zahl im Alltag wahrgenommen werden kann. Es wird geschätzt, dass es auf der Welt gerade mal 100 bis 200 Kinder mit diesem auch Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom genannten Defekt gibt. Umso unsicherer und verwirrter ist man – allein schon, wenn man Fotos oder Filme mit diesen Menschen betrachtet. Dem Gehirn des Betrachters fällt es schwer, das Bild des betroffenen Kindes mit dessen genanntem Alter in Einklang zu bringen. Die beiden Aspekte passen einfach nicht zusammen. Bei der Geburt scheint alles normal zu sein.

Der neue Erdenbürger entwickelt sich meist in den ersten Monaten wie jeder andere Säugling auch. Doch bereits zum Ende des ersten Lebensjahres werden äußerlich die ersten Symptome sichtbar. Dabei fällt im Laufe der Zeit vor allem das deutlich verlangsamte Wachstum auf, das nicht selten in regelrechter Kleinwüchsigkeit mündet. Zudem scheinen Körper und Gesicht schneller älter zu werden als es bei Gleichaltrigen der Fall ist. Zu dieser Vergreisung zählen Haarausfall (Alopezie) mit sich anschließender regelrechter Glatzenbildung, dünner werdende, raue und trockene Haut, durch die – vor allem am Kopf – die Venen durchscheinen. Die Kinder entwickeln typischerweise ein kleines Gesicht mit einer markanten schmalen, spitzen, fast schnabelartigen Nase und sind auffallend dünn. Der Grund dafür ist so gut wie fehlendes Unterhautfettgewebe.

Gendefekt als Ursache Für die Eltern ist es eine unglaublich schwere Belastung, da die anfängliche Freude über das Kind relativ bald der entsetzlichen Erkenntnis weicht, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie können förmlich beobachten, wie sich ihr Kind verändert. Aber was ist los? Nachdem es diese Krankheit nur in so geringer Zahl gibt, kennen die meisten Menschen sie auch gar nicht. Im Freundeskreis hat auch noch nie jemand etwas über diese merkwürdigen Symptome gehört. „Was geschieht mit meinem Kind? Was hat es? Hat es sich irgendwo mit einem schrecklichen Virus angesteckt?“

Genetisch, aber nicht erblich Nein, es gibt für diese Krankheit keine von außen eindringenden Erreger, sondern es handelt sich um einen Gendefekt im Erbgut, der auch nicht von den Eltern übertragen wird, sondern rein zufällig entsteht. Er ist also nicht vererbbar. Natürlich machen sich die Eltern Gedanken oder gar Vorwürfe, was sie während der Schwangerschaft vielleicht falsch gemacht haben, ob es in den Familien mütterlicher- wie väterlicherseits bereits Fälle dieser Krankheit gegeben hat. Ein möglicher, aber noch nicht bestätigter Aspekt kann sein, dass bei einigen Kindern das Alter des Vaters erhöht ist, wodurch dominante Neumutationen vermutet werden.

Es ist für Eltern sicher schwer zu akzeptieren, dass es sich bei der Erkrankung ihres Kindes gewissermaßen um eine Laune der Natur handelt. Der Defekt entsteht auf zellulärer Ebene. Den Betroffenen fehlt das Eiweiß Lamin A. Dieses ist für die Zellkernstabilisierung zuständig und wird bei gesunden Menschen in der DNA durch das Lamin-A-Gen codiert. Im Fall der Progerie Typ 1 kommt es zu einer Fehlanordnung der Basen, was zur Folge hat, dass das richtige Eiweiß zur Stabilisierung nicht mehr hergestellt wird. Die Zellkernwände werden weich und instabil, verlieren ihre Form und brechen schließlich ein.

Die Zellteilung wird durch die verminderte Erbgutqualität stark beeinträchtigt und führt zum raschen Verfall aller Zellen. Dadurch wird der Alterungsprozess des kleinen Patienten deutlich beschleunigt. Als erste haben die Chirurgen Sir Jonathan Hutchinson und Hastings Gilfort den Typ1 beschrieben, daher stammt auch der ebenfalls verwendete Name Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom. Neben den bereits beschriebenen Symptomen fallen besonders die helle Stimme, hypoplastische Nägel, Osteoporose, Osteolyse und Arthrose, die eigentlich erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter auftreten und schon beim Kind zu Brüchen führen können, sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf. Auch Herzinfarkte sind bei Progerie-Kindern nicht selten. Es kann zu Versteifungen und Fehlstellungen von Gelenken kommen. Es ist ein weites Spektrum diverser Symptome und Erkrankungen, die einem betroffenen Kind und seinen Eltern das Leben extrem schwermachen. Dabei ist es bemerkenswert, dass die Intelligenz nicht eingeschränkt ist.

Typ-II-Symptomatik tritt nach der Pubertät auf Es gibt auch Progerie Typ II, vielfach Werner-Syndrom genannt. Dies ist eine ähnliche Erkrankung, mit dem Unterschied, dass sie erst nach der Pubertät auftritt und die Betroffenen neben den von Typ I bekannten Symptomen auch noch unter Linsentrübungen beider Augen, Unterfunktion der Keimdrüsen und erhöhtem Krebsrisiko leiden. Das Durchschnittsalter dieser Menschen liegt bei 54 Jahren. Nach gestellter Diagnose muss die Familie der Progerie-Typ-I-Patienten mit der Gewissheit leben, dass sich weitere schwere Symptome einstellen werden und ihr Kind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das 20. Lebensjahr nicht erreichen wird. Im Schnitt werden die Kinder 14 Jahre alt. Bislang gibt es keinerlei ursachenbekämpfende Therapie.

Im besten Fall können durch symptomatische Behandlungen die Beschwerden gelindert und damit die Lebensqualität verbessert werden. Hierfür kommen Physiotherapie, osteoporoseverzögernde und Blutgerinnseln vorbeugende Medikamente, Badezusätze und Lotionen sowie psychologische Unterstützung in Betracht. Die Kinder merken natürlich mit zunehmendem Alter, dass sie anders sind und anders aussehen, dass sie vieles nicht so machen können wie ihre Altersgenossen. Herumtollen und spielen sind oder werden unmöglich, machen sie traurig und führen nicht selten auch noch zu depressiven Phasen. Die Eltern sind hier in besonderem Maße gefordert, was sicherlich nicht leicht ist, da sie darüber hinaus auch noch mit ihren eigenen Gefühlen und ihrer Verzweiflung zurechtkommen müssen.

„Vergesst nie eine Party!“

Es kann sehr hilfreich sein und wird auch von Eltern bestätigt, dass Kontakt zu anderen betroffenen Familien dabei hilft, mit der Krankheit besser umzugehen. Hier hilft die Suche im Internet, denn leider existiert in Deutschland noch keine Selbsthilfegruppe Progerie. Es gibt einige Beispiele sehr mutiger junger Menschen, die sich ihrem Schicksal gestellt haben. So wollte Magali Gonzalez Sierra aus Kolumbien, ein Mädchen mit großer Liebe für Mode, Make-up und Musik unbedingt ihren 15. Geburtstag mit einer großen Party begehen, was sie auch geschafft hat. Ihre Mutter berichtete: „Auch wenn sie selbst nicht tanzen kann, will sie, dass wir tanzen. Sie will Ballons und Festlichkeiten und dass die Menschen kommen.“

Bemerkenswert ist Sam Berns, ein immerhin 17-jähriger Junge, der mit einer 12-minütigen Motivationsrede in den USA bekannt wurde. Auch er empfahl: „Vergesst nie eine Party!“ Seine Lebensphilosophie ist so einfach wie selbstverständlich und so „normal“: „Finde dich ab mit dem, was du wirklich nicht kannst, weil es so viel anderes gibt, was du tun kannst.“ Oder „Die meiste Zeit denke ich gar nicht daran.“ Das englischsprachige Video ist aufrührend, bewegend, sehr emotional und unbedingt sehenswert: www.youtube.com/watch. Sam starb drei Monate nach der Aufzeichnung.

 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2021 ab Seite 134.

Wolfram Glatzel, freier Journalist

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