Autoimmunerkrankungen
WENN DAS IMMUNSYSTEM ANGREIFT
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Eigentlich hat unser Immunsystem die Aufgabe, Eindringlinge wie Bakterien oder Viren, die im Körper nichts verloren haben, zu bekämpfen und zu beseitigen. Das tut es in der Regel zuverlässig, weil es gelernt hat, körpereigene Strukturen eben als körperzugehörig zu erkennen und nicht zu bekämpfen. Nur wenn es fremde Strukturen ausmacht, wird es aktiv. Bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen richtet sich die Körperabwehr jedoch auch gegen den eigenen Körper (autos = griechisch für selbst).
Schätzungen zufolge sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung von einer Autoimmunerkrankung betroffen – Tendenz steigend. Frauen erkranken zudem in der Regel häufiger als Männer. Heute sind rund 80 verschiedene Autoimmunerkrankungen bekannt. Sie lassen sich aufteilen in solche, bei denen sich das Immunsystem nur gegen ein bestimmtes Gewebe oder Organ richtet, und solche, bei denen mehrere Organe betroffen sind. Zu den bekanntesten organspezifischen Autoimmunerkrankungen gehören zum Beispiel Diabetes mellitus Typ 1, Multiple Sklerose (MS), Hashimoto-Thyreoiditis, Colitis ulcerosa, Myasthenia gravis und die Autoimmunhepatitis.
Unter die systemischen Autoimmunerkrankungen fallen die entzündlichen Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises wie beispielsweise die rheumatoide Arthritis, Psoriasis-Arthritis, Kollagenosen, Vaskulitiden und Arteriitiden. Von den Autoimmunerkrankungen abzugrenzen sind Allergien: Auch sie sind auf eine Fehlfunktion des Immunsystems zurückzuführen, allerdingt hält es hier harmlose körperfremde Strukturen fälschlicherweise für bekämpfenswert und nicht für eigene Strukturen.
Fehlgeleitete Spezialeinheiten Das Immunsystem besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Zelltypen, die alle ihre spezifischen Funktionen haben – wie Spezialeinheiten innerhalb einer Truppe. Die T-Zellen patrouillieren im Körper und halten Ausschau nach möglichen Krankheitserregern. Haben sie welche ausgemacht, werden sie zum einen selbst aktiv; zum anderen benachrichtigen sie ihre Kollegen, die B-Zellen. Diese bilden Spezialwaffen aus, die in der Lage sind, ganz präzise den Eindringling zu erkennen und zu binden – die Antikörper.
Es entwickelt sich eine Entzündungsreaktion unter Beteiligung weiterer Zelltypen, bei der die Eindringlinge unschädlich gemacht werden. Im Anschluss klingt die Entzündung bei gesunden Menschen wieder ab. Bei Autoimmunerkrankungen können sich Antikörper irrtümlich gegen körpereigene Strukturen bilden – man spricht dann von Autoantikörpern. Die Folge ist eine chronische Entzündungsreaktion, bei der das betroffene Gewebe in der Regel letztendlich zerstört wird. So richten sich bei MS die Autoantikörper gegen die Myelinscheiden des Nervensystems, beim Diabetes Typ 1 gegen die Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse, bei der Myasthenia gravis gegen die Acetylcholin-Rezeptoren auf den motorischen Endplatten und beim kreisrunden Haarausfall gegen die Haarwurzeln.
Bei der Zöliakie löst Gluten eine überschießende Immunreaktion einschließlich der Bildung von Antikörpern aus, die sich gegen den Dünndarm richten. Etwas komplizierter stellt sich die Situation mitunter bei den systemischen Autoimmunerkrankungen dar, und längst sind noch nicht alle Zusammenhänge verstanden: So lässt sich der sogenannte Rheuma–faktor – ebenfalls ein Autoantikörper – zwar bei vielen Patienten mit rheumatoider Arthritis nachweisen, aber manche Rheuma-Patienten sind auch Rheumafaktor-negativ.
Fast alle Patienten mit rheumatoider Arthritis weisen dagegen ACPA-Antikörper (Antikörper gegen citrullinierte Proteine) auf. Wie man heute weiß, lassen sich diese bereits zehn Jahre vor Ausbruch der Erkrankung im Serum nachweisen. Beim systemischen Lupus erythematodes sind eine ganze Reihe Autoantikörper bekannt, darunter ANA- und dsDNA-Antikörper (antinukleäre und humane Leukozyten-Antigene-Antikörper). Die Konzentration der dsDNA-Antikörper spiegelt hier die Krankheitsaktivität wieder. Einige primäre Vaskulitiden werden von ANCA-Autoantikörpern (antineutrophile zytoplasmatische Antikörper) ausgelöst.
Autoimmunerkrankungen sind nicht heilbar. In der Regel müssen sie lebenslang in Schach gehalten werden.
Ursache unbekannt Während mehr und mehr Autoantikörper entdeckt und charakterisiert werden, ist die genaue Ursache bei der Mehrheit der Erkrankungen weiterhin unklar. Sicher sind sich die Experten, dass mehrere Faktoren zusammenkommen müssen: Das ist zum einen eine genetische Veranlagung – inzwischen sind hunderte genetische Risikovarianten für verschiedenste Erkrankungen bekannt. Dass dies aber alleine nicht ausreicht, damit die Erkrankung ausbricht, zeigen beispielsweise Zwillingsstudien: Wenn ein Zwilling an MS erkrankt, beträgt das Risiko für den zweiten Zwilling ebenfalls zu erkranken 25 Prozent – also deutlich erhöht, aber eben nicht 100 Prozent, es müssen weitere Faktoren hinzukommen.
„Bad genes“ und „bad luck“ sozusagen. Als mögliche Auslöser ausgemacht wurden bislang unter anderem Infektionen, Medikamente und Schadstoffe in der Umwelt. Relativ gut verstanden ist der Mechanismus bei Streptokokken-Infektionen: Sie können zur Bildung von Antikörpern führen, die nicht nur wie gewünscht die Streptokokken, sondern auch ähnliche körpereigene Strukturen erkennen. Aufgrund der Kreuzreaktivität kommt es zum rheumatischen Fieber.
Vielfältige Therapieansätze Die Behandlung unterscheidet sich bei den einzelnen Autoimmunerkrankungen erheblich, es lassen sich aber verschiedene Therapieprinzipien ausmachen. So wird etwa bei der Hashimoto-Thyreoiditis das Schilddrüsenhormon substituiert, das die angegriffene Schilddrüse nicht mehr bilden kann. Dasselbe Prinzip steckt hinter der Insulintherapie bei Diabetes Typ 1. Die Behandlung der Zöliakie dagegen besteht in der Vermeidung von Gluten. Bei vielen systemischen Autoimmunerkrankungen versucht man zum einen mit entzündungshemmenden Substanzen (Nicht-Steroidale Anti-Rheumatika (NSAR) und Glucocorticoiden) die Entzündungen zu reduzieren.
Zum anderen werden Immunsuppressiva eingesetzt, um das Immunsystem zu unterdrücken (zum Beispiel Methotrexat, Azathioprin oder Ciclosporin). Mit Biologika und auch mit den neueren JAK-Inhibitoren (Hemmstoffe der Januskinase) wird die Kommunikation zwischen den einzelnen Immunzellen unterdrückt und die Entzündungskaskade so gebremst. Polyvalente Immunglobuline und die Plasmapherese werden eingesetzt, um pathogene Autoantikörper abzufangen.
Die Rolle der Darmflora Dass unsere Darmflora an der Regulierung des Immunsystems beteiligt ist, wird seit einigen Jahren zunehmend deutlicher. Auch bei Autoimmunerkrankungen könnte sie eine Rolle spielen. So hat etwa eine aktuelle Untersuchung einen Keim namens Enterococcus gallinarum mit der Entstehung eines systemischen Lupus erythematodes in Verbindung gebracht.
Neue Serie Je besser Forscher die molekularen Mechanismen verstehen, die hinter den Autoimmunerkrankungen stecken, desto mehr Ansätze für Vorbeugung und neue Therapien zeigen sich auf. In den kommenden Heften wird DIE PTA in der Apotheke die einzelnen Autoimmunerkrankungen im Detail beleuchten.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 07/18 ab Seite 110.
Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin