ICD & DSM
'WAS FEHLT IHNEN?'
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Wenn Ärzte zu einer Diagnose finden wollen, dann bemühen sie meist die ICD, die „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ . Geht es hingegen um eine rein psychiatrische Diagnose, wird oft auch der US-amerikanische diagnostische statistische Leitfaden für psychiatrische Störungen DSM (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders) herangezogen.
Ursprünglich ein Register für Todesursachen 1893 brachte der französische Statistiker und Arzt Jacques Bertillon zusammen mit dem englischen Epidemiologen William Farr die „Bertillion-Klassifikation“ heraus, eine Statistik der Todesursachen. Sie sammelten die Daten aus so vielen Ländern wie möglich – der erste Versuch eines internationalen Registers war geboren. Der englische Name dieser Klassifikation, „International List of Causes of Death“ wurde damals schon mit ICD abgekürzt.
Das Register wurde über die Jahrzehnte gepflegt und ergänzt, wobei es sich immer mehr von der rein statistischen Erfassung der Todesursachen zu einer Klassifikation der Krankheiten veränderte. 1938 ging das ICD bereits in die fünfte Auflage. Als 1948 die Weltgesundheitsorganisation WHO gegründet wurde, wurde ihr die Verantwortung für das Register übertragen.
Die Abkürzung blieb, das „D“ hatte sich jedoch vom „death“ zur „disease“ gewandelt. Die Bertillon-Klassifikation war nunmehr weltweit das Diagnosehandbuch für Krankheiten. Neue Erkenntnisse in der Medizin führten immer wieder zu überarbeiteten Neuauflagen. Zurzeit gültig ist die ICD-10, an der elften Auflage wird seit 2007 gearbeitet. Für einige Länder, so auch Deutschland, gibt es länderspezifische Erweiterungen.
Schubladensystem Die ICD ist in 22 Kapitel eingeteilt. Darin werden die Krankheitsgruppen mit jeweils einem fortlaufenden Buchstaben und die Krankheiten selbst mit bis zu vier nachfolgenden Ziffern kategorisiert. Die Ziffern 3 und 4 bezeichnen jeweils ein detaillierteres Bild der Störung. So sind etwa psychische Störungen im fünftem Kapitel unter dem Buchstaben „F“ zusammengefasst. Dort ist zum Beispiel die Depressive Störung als „F 32“ gelistet, eine mittelgradig depressive Episode wird mit „F 32.1“ unterkategorisiert – und kommen noch körperliche Symptome hinzu, wird die Störung als „F 32.11“ diagnostiziert.
Was hat der Patient davon? In Deutschland hat die ICD eine große gesundheitspolitische Relevanz. Ärzte müssen – zum Beispiel auf Krankschreibungen – ihre Diagnosen laut ICDCode verschlüsseln. Das soll dem Schutz der Persönlichkeit dienen, zwingt die Ärzte aber auch, jedes Krankheitsbild nach ICD diagnostizieren zu müssen. Das ist bei unklarer Symptomatik ein Problem und Kritiker sehen darin auch eine Schwachstelle der ICD. Gerade wenn Patienten mit ihren Symptomen nicht in eine Schublade passen, wird durch die ICD eine Diagnose noch mehr als sonst zu einer Interpretationssache.
»Während die ICD allen psychischen Erkrankungen nur ein Kapitel widmet, beschäftigt sich der DSM ausschließlich damit.«
Für den Patienten hängen von der Diagnose aber konkrete Versorgungsmaßnahmen wie etwa Frühverrentungszahlungen ab. Auch im psychiatrischen Bereich, der immer noch ein Tabuthema in der Gesellschaft ist, kann eine falsche Diagnose oder das Fehlen einer Diagnose dramatische Folgen haben. Darüber hinaus erfasst die ICD sexuelle Orientierungen als „Störung“ und listet sie auf. Homosexualität und Bisexualität wurden erst mit der neunten Auflage der ICD gestrichen, in der aktuellen ist Transsexualität immer noch als „Störung“ verzeichnet. Das soll in der elften Auflage geändert werden. Bis dahin werden Transsexuelle allerdings durch die Erfassung stigmatisiert.
Amerikanische Konkurrenz Während die ICD allen psychischen Erkrankungen nur ein Kapitel widmet, beschäftigt sich der DSM ausschließlich damit. Für die psychiatrische Praxis ist er also eine unverzichtbare Alternative oder zumindest eine gute Ergänzung zum ICD. Auch der DSM wird fortlaufend aktualisiert, zurzeit gilt die fünfte Auflage, DSM-V. Allerdings gibt es inhaltliche Unterschiede. Während die ICD aufgrund ihrer internationalen Gültigkeit interkulturelle Aspekte berücksichtigt, ist dies beim national ausgerichteten DSM nicht der Fall.
Dafür fließen Eigenheiten von Männern und Frauen in die Ka-tegorisierung mit ein – im Zeitalter der geschlechterspezifischen Medizin ein nicht unerhebliches Kriterium. Der DSM ist auch anders aufgebaut als die ICD. Er arbeitet mit einem Fünf-Achsen-System:
- Zustandsstörungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Körperliche Faktoren
- Soziales Umfeld
- Funktionsniveau des Patienten.
Auf jeder dieser Achsen wird eine Einschätzung gegeben. Das führt zu einer genaueren und umfassenderen Diagnostik, weil Faktoren wie Alter, Geschlecht, familiäre Verteilungsmuster sowie Hinweise zur Differenzialdiagnostik erhoben werden. Für die Klassifizierung an sich bedient sich der DSM jedoch auch einer alphanumerischen Einteilung. Diese hat er vom ICD übernommen, allerdings aus der neunten und nicht der zehnten Auflage, obwohl diese inhaltlich viel näher an dem DSM-V ist. Das führt zu Verwirrung und diagnostischen Problemen. Momentan ist der DSM daher mehr als Ergänzung und Vertiefung zur ICD-Diagnosebibel zu verstehen.
Warum nicht eines für alle? Ein einheitliches Klassifikationssystem wird es wohl in absehbarer Zeit nicht geben, denn die zuständigen Gremien haben völlig unterschiedliche Beweggründe für die Erstellung ihres jeweiligen Registers. Die WHO sieht den Sinn in erster Linie darin, weltweit Krankheitsdaten zu sammeln und dadurch die internationale medizinische Versorgung zu optimieren. Denn je mehr Daten es gibt, desto mehr kann die Forschung profitieren, desto leichter fallen evidenzbasierte Entscheidungen für die Diagnose und Therapie.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sorgt die WHO dafür, dass ihr Klassifikationssystem ICD in vielen Sprachen und zu einem geringen Preis verfügbar ist – im Internet sogar kostenlos. Der DSM hingegen wird von Psychiatern erstellt, die im Gremium der American Psychiatric Association sitzen. Der DSM selbst sowie die große Menge auf ihm basierender Sekundärliteratur wird mit wirtschaftlichem Interesse vertrieben, die Erlöse machen einen großen Teil der finanziellen Einkünfte der Vereinigung aus. Kritiker werfen der APA zudem vor, von der Pharmaindustrie gesponsert zu sein, wodurch der Leitfaden kein objektives Nachschlagewerk sei.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 06/15 ab Seite 108.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist