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Kolumne | Holger Schulze

VERGISS ES!

Unser Gedächtnis soll Informationen für die ­Zukunft speichern und dabei möglichst wenig Gespeichertes vergessen. Aber ist das Vergessen manchmal nicht eher ein Segen?

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Kennen Sie das auch? Den Ärger darüber, wenn Sie sich beim Verfolgen einer Quizsendung wieder einmal nicht daran erinnern können, wie die Hauptstadt von Kolumbien heißt oder wie die Knallgasreaktion abläuft? Viele Fakten, die wir im Laufe unserer jeweiligen Schullaufbahn irgendwann einmal gelernt haben, sind mittlerweile schlicht in Vergessenheit geraten, und das ärgert uns, hat das Erlernen damals doch mitunter große Mühe bereitet, und hätte doch jeder gerne eine möglichst breite Allgemeinbildung! Gemeinhin wird daher das Vergessen von früher einmal gelernten Informationen dann auch als Schwäche unseres Gedächtnisses, als Fehl- oder zumindest Mangelfunktion des Gehirns betrachtet.

Zu vergessen ist keine ­Fehlfunktion des Gehirns!

Dem ist aber keineswegs so: Vielmehr gehört das Vergessen ebenso zu den wichtigen Funktionen eines gesunden Gedächtnisses wie das Lernen! Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir uns zunächst klarmachen, welche Aufgaben unser Gedächtnis eigentlich erfüllen soll. Evolutions­biologisch betrachtet gehört dazu nämlich keinesfalls das Brillieren in einer Rateshow! Vielmehr geht es darum, Informationen über das, was uns umgibt, zu speichern, um unser Verhalten in dieser Welt sinnvoll zu steuern. Aus dieser Perspektive betrachtet haben Informationen also keinen Wert an sich, sondern nur insofern, als sie es uns erlauben, unsere Entscheidungsprozesse erfahrungsabhängig sinnvoll zu beeinflussen.

Da die Welt um uns herum aber ständigem Wandel unterworfen ist, ist ein ebenso ständiges Anpassen unserer Verhaltensstrategien an eine sich verändernde Welt nötig, und damit ändert sich auch der Wert einmal erlernter Informationen. Mit anderen Worten, wenngleich das Wissen um die Knallgasreaktion einmal wichtig war, um eine gute Note in einer Chemiearbeit zu schreiben, ist dasselbe Wissen für die meisten von uns im Alltag weitgehend nutzlos – es sei denn, Sie sind zufällig Chemielehrer geworden oder beschäftigen sich mit der Entwicklung moderner Brennstoffzellen für neue Antriebskonzepte.

Für das Gehirn wäre es nun völlig unökonomisch, alles jemals Gelernte zu erinnern, selbst wenn die Information für das tägliche Leben nutzlos geworden ist. Daher sind all die Prozesse, die in einem gesunden Gehirn Lernvorgänge ermöglichen, grundsätzlich reversibel: Synapsen, die zur Einspeicherung von Fakten gebildet oder verstärkt wurden, können auch wieder geschwächt oder abgebaut werden.

Werden zur Verstärkung einer synaptischen Übertragung etwa bestimmte Rezeptoren für den Botenstoff Glutamat, sogenannte AMPA-Rezeptoren, in die Zellmembran einer Synapse eingebaut, können diese durch Endozytose auch wieder aus dieser entfernt werden. Funktioniert das nicht, so entsteht der pathologische Fall eines übersteigerten Gedächtnisses, das im Extremfall gar nichts mehr vergessen kann, kein Bild, kein Musikstück, kein jemals erlebtes Ereignis. Wenn Sie darüber nachdenken, so ist ein fotografisches (eidetisches) Gedächtnis vielleicht noch hilfreich in der Schule, im Leben aber eher Fluch als Segen – finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/19 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze, Hirnforscher
holger.schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de 

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