Der Apothekenkrimi
MORD UNTER FREUNDEN – TEIL 1
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Sie betrachtete ruhig den schlafenden Mann. Und die Liebe höret nimmer auf, dachte sie. Den weißen Kittel in der Taille raffend, verließ sie die Wohnung.
Britta Badouin schwirrte der Kopf. Das war jedesmal so, wenn sie die expopharm besuchte. Einerseits fand sie es hochinteressant, sämtliche Neuerungen in der Apothekenwelt an einem Ort versammelt zu sehen. Andererseits sorgte die Messe regelmäßig für Reizüberflutung in ihrem Hirn: Farben, Gesichter, Schriftzüge, Produktproben, Geräusche – alles wirbelte durcheinander. Die Apothekerin setzte sich an einem Stand auf einen Sitzwürfel. Hier konnte sie verschnaufen. Aus den Augenwinkeln bekam sie die Diskussion auf dem Podium mit, in der sich vier ernst dreinblickende Herren und eine Dame über „Gesundheit im Alltag“ unterhielten. Der Ehrenpreis geht an den, der dieses Thema lanciert hat, dachte sie. Das deckt einfach alles ab.
Und dann schloss Britta kurz die Augen. Sie war gerade aus ihren Flitterwochen zurückgekehrt; größer konnte ein Kulturschock nicht sein. Während Robert in seiner kardiologischen Praxis über der Apotheke seine Patienten verarztete, stieg sie bereits am Tag danach in den Zug nach München. Als Kammermitglied wollte sie in den Deutschen Apothekertag reinschnuppern – der zeitgleich mit der expopharm stattfand - ; sogar der Gesundheitsminister reiste an, und sie wollte hören, was er zum Thema Organspende zu sagen hatte – garantiert würde er auch vom Pflegenotstand reden.
Das Thema der Diskussionsrunde fand sie ein bisschen kryptisch („Gesundheitskompetenz – wieviel weiß der Patient wirklich?“), doch der Austausch mit den Kollegen bedeutete ihr jedesmal viel. Wann sonst traf man so viele Apotheker auf einem Haufen? Und viele davon kannte sie, der Kreis war ja dann irgendwie auch begrenzt. „Hey! Altes Haus!“ Wie aus dem Nichts war eine mit Tüten behangene Dame vor Brittas Sitzwürfel aufgetaucht. Die Haare karottenrot, die Klamotte knallig, stand sie wie angewurzelt und ruderte mit den Armen. „Britta!“ Britta hielt es nicht mehr auf ihrem Sitz. „Mensch, Elli!“ Sie fiel der Kollegin aus Studientagen um den Hals.
Die Kommilitonin, deren Vorname Elvira so unpassend wirkte, hatte einen ganz großen Platz in ihrem Herzen. Keine Feier ohne Elli, die mördermäßig große Mengen an Vino tinto vertrug und die trotzdem am nächsten Tag beim „Kochen“ im Labor keine Fehler machte, jede Formel auswendig wusste und selbst mit schierer Flusssäure noch so behände hantierte, dass nichts passierte. Elli lenkte den Prof ab, während man selbst noch nach der Antwort auf seine Frage suchte und Britta schwor, dass sie der Gedankenübertragung fähig war. Während einer Examensklausur hatten sie sich einmal über die Tische hinweg in die Augen geschaut und plötzlich wusste Britta die Lösung zur Wirkung der Dopamin-Antagonisten... Sie hatte leider auf Lücke gelernt.
Seit damals war sie überzeugt, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben musste, als die Schulweisheit einen träumen ließ. „Du musst mir ALLES erzählen, was du in der Zwischenzeit erlebt hast!“ Elli halste Britta unter Quieken zurück, fragte im gleichen Moment „Hast du schon was gegessen?“ und zog sie, ohne ihre Antwort abzuwarten, in Richtung Weißwurst und Brezel. Am Stand eines großen Zeitschriftenverlages gab es das nämlich immer für umsonst, was Britta total schlau fand, denn dann konnten sich die Anzeigenmenschen einfach dazu setzen und Geschäfte mit den Anwesenden machen. Wer den Mund voll Würstl hat, dessen Widerstandskraft ist nur mittelmäßig ausgeprägt.
„Also – was ist passiert?“ Elli schaute Britta erwartungsvoll an, vor sich ein Weißbier, eine leergezutzelte Wurst und in sehr viel süßen Senf getunkte Brez’n. Vier Morde sind passiert, dachte Britta, aber das kann ich unmöglich so sagen. Sie begann also zögerlich, die Vorgeschichte vom „Mord am Mainufer“ zu erzählen, ging über zum „Tod im Labor“, streifte „Die Spanische Fliege“ und endete bei der „Mörderblume“. „Und daneben“, schloss sie, „hab‘ ich auch noch den Mann meines Lebens kennen gelernt. Ich komme gerade von der Hochzeitsreise.“ Elli guckte glasig und war tatsächlich gänzlich verstummt. Britta hatte ihr mit ihren Erzählungen einen großen Schock versetzt. Hoffentlich denkt sie nicht, ich wolle angeben, dachte Britta bang. Elli schüttelte den Kopf, als wolle sie die Gedanken darin vertreiben und schaute sich dann suchend um. Sogleich kam ein Kellner an den Tisch der beiden Frauen. „Sagen Sie mal“, stieß die Studienfreundin mit heiserer Stimme hervor, „haben Sie hier auch Schnaps? Wenn ja, hätte ich gern einen.“
„Eins verstehe ich aber nicht“, meinte Elli, nachdem sie einen Obstler vertilgt hatte. „Warum heißt du immer noch Badouin?“ Sie wies mit der Hand auf Brittas Namensschild, das diese um den Hals trug, weil sie gleich zur Delegiertenversammlung wollte. „Mein… Mann… heißt ‚von der Leyden‘. Meine PTA Annette heißt auch von der Leyden, weil sie den Neffen geheiratet hat. Und zu allem Überfluss hilft ein drittes Familienmitglied mit gleichem Namen ab und zu bei uns aus – also, das wird mir zu viel. Dann heißen wir ja alle so!“ Und Britta dachte bang an die Diskussionen, die sie mit Robert geführt hatte, weil sie weiterhin den Namen ihres Ex-Mannes trug und um keinen Preis ihren Geburtsnamen „Schimmelpfennig“ wieder annehmen wollte.
Der eignete sich nun auch überhaupt nicht als Teil eines Doppelnamens. Ihr neuer Schwiegervater, so erinnerte sie sich, hatte damals zwei Tage lang nicht mit ihr gesprochen. „Und du?“ wechselte sie das Thema. „Hast du eine eigene Apotheke? Oder arbeitest du als Angestellte?“ „Letzteres“, sagte Elli und schob das Weißbier weg, biss dafür kräftig in das Laugengebäck. „Puh, ich hab‘ ‘ne Fahne. Ich verdien‘ da zwar weniger Geld, hab aber den ganzen Stress nicht. Und ich kann richtigen Urlaub machen. Ich seh‘ ja, wie mein Chef sich abrackert… falls er mal verreist, muss er das so legen, dass es zwischen zwei Notdienste passt, denn die macht er immer noch selbst. Nicht mal hierher kann er kommen, das Finanzamt erscheint demnächst zur Prüfung, und ich soll auf der expo mal ein bisschen die Lage eruieren. Eine Klimaanlage musste er jetzt einbauen lassen, das hat ein Schweinegeld gekostet, und jetzt spielt er mit dem Gedanken an einen Kommissionierautomaten… Bertie, lass es sein, hab ich ihm gesagt.“
„Du nennst ihn Bertie?“ „Ach ja, wir sind sowas wie ein altes Ehepaar. Er ist noch ein Apotheker vom ganz alten Schrot und Korn, sein Examen ist schon ein bisschen her, und er hat es letztens fertiggebracht, den Mann vom Regierungspräsidium rauszuschmeißen, weil dessen Ton ihm bei der Revision nicht passte. Schließlich sei er nicht kriminell, nur weil er keinen Akkuschrauber vorrätig habe. Leider war ich an dem Tag nicht da, Bertie wird schnell wütend, und dann muss ich immer eingreifen… naja, nun bekriegen die sich, der RP will die Apotheke dicht machen, Bertie hat einen Anwalt bestellt… wegen so einem Scheiß…“
Britta konnte nicht anders, sie bekam einen Kicheranfall. „Ja, lach du nur“, grinste Elli. „Bertie ist der Beste! Wenigstens ist das Leben mit ihm nie langweilig. Früher, als seine Frau noch lebte, hat sie uns immer nachmittags selbstgebackene Plätzchen und Kuchen gebracht. Jetzt ist der Ärmste Witwer, und ich pass auf ihn auf.“ „Das machst du bestimmt gut“, bemerkte Britta mitfühlend. „Es ist sowas wie betreuendes Arbeiten“, gluckste Elli und guckte sich um. „Rauchen darf man hier wohl nicht?“
Später, als Elli und sie nebeneinander im Halbdunkel des Plenums saßen und an der Eröffnungsveranstaltung des Apothekertages teilnahmen, ließ Britta ihre Geschichte noch einmal Revue passieren… Irgendwas war da gewesen… etwas in ihrer Vergangenheit… Elli war sehr verliebt gewesen, und der Mann auch in sie, aber aus irgendwelchen Gründen wurde es nichts mit den beiden. Britta linste herunter zu Ellis Händen. Kein Ehering. Musste man ja auch nicht heutzutage, heiraten. Ihr fiel auf, dass die Freundin nur wenig Privates erzählt hatte.
Der Redner auf dem Podium sagte jetzt mit bedeutungsschwangerer Stimme: „Auf dem Deutschen Apothekertag werden die politischen Weichen für die Zukunft gestellt. Er ist der zentrale politische Termin für uns, hier werden gesetzliche Rahmenbedingungen für den Apothekenmarkt ebenso diskutiert wie unser Berufsbild. Jeder weiß, es wird immer schwieriger, ich sage nur „Apothekenbetriebsordnung“…“ Ein leises Stöhnen ging durch die Menge.
Wieder zuhause, hatte Britta dann der ganz normale Wahnsinn wieder. Die Valsartan-Rückrufe mussten (immer noch) aus-, die letzte Loseblatt-Lieferung des Europäischen Arzneibuches einsortiert werden. In Zukunft werden wir alles nur noch auf dem Laptop haben, beschloss Britta, wie vorsintflutlich ist das denn. Die PTA-Praktikantin verfolgte mit Staunen, dass Annette digital mit den Herstellungsanweisungen des Lennartz jonglierte und dachte wahrscheinlich mit Grausen an all die Zettel, die an ihrer Schule immer noch per Hand ausgefüllt wurden. Die Botendienstfahrerin beschwerte sich, dass die Kunden jede Einzelpackung Verbandmaterial an den Küchentisch geliefert haben wollten und dann nicht mal Geld vorrätig hatten.
„Sie sagte, ‚Schicken Sie mir die Rechnung.‘ Für Hühneraugenpflaster!!“ „Demnächst“, sagte Rieke gemütlich grinsend, „sollst du bestimmt noch die Pizza bringen!“ „Ich grüß‘ den schon, den Jungen aus dem „Avanti““, schnaubte die Fahrerin. „Wir begegnen uns andauernd, auch auf den Schleichwegen!“. Rieke, die die Großhandels-Lieferung auspackte, betrachtete interessiert eine Packung cannabis sativa. „Das kann ich doch unmöglich neben die Kamillenblüten stellen!“ „Lieber nicht!“ lachte Annette, die ins Backoffice gekommen war, um den Kittel auszuziehen und nach Hause zu gehen. „Hihi“, machte die PKA, „Blüten im Tresor, wie passend!“ Das Telefon klingelte, und sie griff automatisch mit der anderen Hand danach. „Druckst du mir noch ein Etikett?“
Rieke lauschte in den Hörer, dann wechselte ihr Gesichtsausdruck von belustigt zu erschrocken. „Doch, sie ist da. Bestimmt. Ich verbinde Sie gleich mal.“ Man hörte es leise tuten, dann nahm Britta im Büro ab. „Chefin“, sagte Rieke, „hier ist eine Freundin von Ihnen dran, kann es sein, dass sie Elli heißt?“ Annette schaute im Hinausgehen noch einmal kurz bei Britta vorbei, sie war doch neugierig geworden. Au wei, dachte die PTA. Wenn sie so vor sich hinstarrt, ist was im Gange. Das ist wie damals, beim Tod von Susanne Berglau. Die Aushilfs-Apothekerin starb nach einem unglücklichen Sturz am Mainufer; damals hatte die Polizei auch in der Bärenbach-Apotheke ermittelt. Und Britta hatte ihren ersten Fall. Annette blieb stehen, denn sie war sich unsicher, ob sie nachfragen sollte. Britta schaute hoch und winkte sie heran.
„Setz dich doch. Das muss ich dir erzählen.“ Und Britta berichtete von ihrer Studienfreundin Elli, mit der sie einmal dick befreundet gewesen war, und die jetzt in einer kleinen Apotheke im Allgäu arbeitete. „Stell dir vor, deren PTA ist verhaftet worden, weil sie im Verdacht steht, einen Patienten umgebracht zu haben.“ „Wie das?“ „Die Apotheke hat an einen schwerstkranken Mann Morphinsulfat geliefert, weißt du, das in den Ampullen zum Selbstöffnen. Die PTA hat das selbst gemacht, weil die Bestellung erst dann kam, als der Botendienst schon losgefahren war. Alle kennen diesen Patienten, er ist im Endstadium und wohl auch recht bekannt, er war früher einmal jemand berühmtes, so der Lokalprominente… und man wusste, wo der Wohnungsschlüssel liegt, weil auch die Nachbarn immer mal nach ihm gucken, er lebt allein und wollte nicht im Krankenhaus sterben. Die PTA ist also rein in die Wohnung und hat die Packung mit den Morphin-Ampullen in den Küchenschrank gestellt, da, wo sie immer steht. Sie hat das gemacht, weil der Patient nicht mehr aufstehen kann und fest in seinem Pflegebett liegt.“
„Ja, aber..“ warf Annette ein. „Ich weiß. Natürlich hätte sie es persönlich abgeben und sich eine Unterschrift geben lassen müssen. Aber das ist ein kleines Dorf und man kennt sich. Mit der Frau vom Pflegedienst war das abgesprochen. Das Zeug stand immer im Küchenschrank.“ „Und was ist passiert?“ fragte Annette bang und wusste schon die Antwort. „Als der Pflegedienst eine Stunde später erschien, war der Mann eingeschlafen. Tot. Neben ihm stand ein Glas mit dem Rest einer klaren Flüssigkeit.“ „Das flüssige Morphin?“ „Ja. Alles auf einmal. Die Packung war leer.“
Die beiden Frauen schwiegen und stellten sich das Szenario vor. Sein Atem musste immer langsamer gegangen und schließlich stehengeblieben sein. Wer wusste schon, wie so ein Sterben vor sich geht, wie es sich anfühlt? Britta räusperte sich. „Die PTA schwört Stein und Bein, dass sie ihm nichts geben hat. Sie räumt ein, dass es natürlich nicht in Ordnung gewesen ist, das Morphin einfach so in den Schrank gestellt zu haben, aber sie hat danach die Wohnung verlassen. Der Patient schlief friedlich, er hat sie gar nicht bemerkt.“ „Und er hat wirklich noch geatmet?“
Die Obduktion hat einwandfrei ergeben, dass er an der Überdosis gestorben ist. Er hat so viel bekommen, dass man damit zwei Menschen hätte umbringen können. Da wollte jemand ganz sicher gehen.“ „Und die leeren Ampullen?“ „Es ist nichts mehr dagewesen. Die Packung ohne Inhalt, die Plastikbehälter daraus verschwunden.“ Annette schaute auf Britta und Britta sah Annette an. „Soll ich Billie anrufen, damit sie dich vertritt?“ fragte Annette. „Ich bleib᾽ auch ganz bestimmt nur zwei Tage“, sagte Britta.
Britta, die nach einem Blick auf den Bahnfahrplan spontan entschieden hatte, mit dem Auto anzureisen (fünfmal umsteigen, sechs Stunden Fahrt), dachte: Da hätte ich auch den Bummelzug nehmen können. Sie war von Stau zu Stau unterwegs. Auf den Autobahnen Richtung Süden war jetzt, wo es aufs Wochenende zuging, die Hölle los. Aber wann ist es das nicht, dachte Britta. Sie hatte immer noch den gottergebenen Gesichtsausdruck ihres Ehemannes im Gedächtnis, als sie ihm sagte, dass sie einer Freundin zu Hilfe eilen wollte. „Wieder mal auf Mörderjagd?“ hatte er gefragt.
Wenn Elli ihr sagte, die PTA konnte es unmöglich gewesen sein, dann musste das stimmen. Und außerdem war sie irgendwie verpflichtet, ihr beizustehen, schließlich hatte sie ihr ja auch von den vergangenen… Vorfällen in ihrem Leben erzählt. Britta fuhr durch eine Baustelle mit dramatisch verengten Fahrspuren und musste aufpassen, dass sie die Leitplanke nicht touchierte. Übrigens auch, weil ihr Blick immer wieder abschweifte. Meine Güte, war das schön hier, im Ostallgäu. Diese Hügel, diese Wiesen, die Seen. Und tatsächlich standen da manchmal braune Kühe mit einer Schelle um den Hals, ganz so wie in alten Heimatfilmen.
Und dann war da noch dieser Geruch – wenn Britta in einem der vielen Staus das Autofenster öffnete, wehte da etwas Würziges aus Heu und Wiese zu ihr. Überall waren die Erntemaschinen zugange, um die letzte Mahd in diesem Jahr hereinzuholen. Wie es wohl sein würde in „Berties“ Apotheke? Britta stellte sich alte eichene Ausziehschubladen vor. Bemalte Täfelungen. Apothekengefäße aus gefärbtem Glas mit Stopfen, die so ein bestimmtes schabendes Geräusch machten beim Herausziehen. Wahrscheinlich geht meine Phantasie gerade mit mir durch, dachte Britta. Es dämmerte bereits, als sie in der schmalen Dorfstraße vor der „Remigius-Apotheke“ hielt.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/18 ab Seite 108.
Alexandra Regner
Wie es weitergeht, lesen Sie in der November-Ausgabe von „DIE PTA IN DER APOTHEKE“.