© magann / fotolia.com

Welch ein Name

ENGLISCHE KRANKHEIT

„Hühnerbrust“, „Rosenkranz“, „Säbelbeine“ – das alles sind volkstümliche Bezeichnungen von Symptomen der Rachitis, die 1650 erstmals von dem englischen Arzt Francis Glisson beschrieben wurde.

Seite 1/1 3 Minuten

Seite 1/1 3 Minuten

Dem Anatom und Begründer der modernen Physiologie war aufgefallen, dass die Kinder, die in den Bergwerken des Königreiches bis zu 17 Stunden am Tag schuften mussten, oftmals Kleinwuchs, spitz hervorstehende Knochen, Gelenkdeformationen und O-Beine aufwiesen. Glisson zog allerdings die falschen Schlüsse: Er machte Kälte und Feuchtigkeit für die deformierten Kinderkörper verantwortlich. Die Entdeckung der Vitamine lag noch in weiter Ferne.

Kleine Hände So ist denn der Begriff „Englische Krankheit“ oder „Morbus Anglorum“ eng mit dem Kapitel Kinderarbeit verknüpft. Vom 16. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war man mit Kindern nicht zimperlich. Da die Lebenserwartung der Erwachsenen lediglich bei rund 35 Jahren lag, war es beinahe die Regel, dass die Familien auf mindestens einen Ernährer verzichten mussten.

Die nackte Armut zwang also dazu, auch die Kleinsten in Bergwerke oder Textilfabriken zu schicken, wo sie durch ihre geringe Körpergröße und kleinen Händchen sowohl Kohlewagen durch niedrige Flöze ziehen als auch Fäden unter Webmaschinen richten konnten. Arbeitszeiten von vier Uhr morgens bis acht Uhr abends waren keine Seltenheit. Tageslicht sahen sie dabei kaum.

Sonne fehlte Da vier als ein gutes Alter galt, um mit der Arbeit zu beginnen und behördlicherseits sogar vor „Müßiggang“ gewarnt wurde, fehlte den Kindern in der sensiblen Phase des Heranwachsens schlicht das UV-haltige Sonnenlicht, das in ihrer Haut die Vorstufe des Vitamin D bilden konnte. Ohne Colecalciferol keine Kalzium-Einlagerung – so mussten die Kleinsten mit der sogenannten „Knochenerweichung“, wie die Rachitis auch genannt wurde, bezahlen.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die neue medizinische Fachrichtung der Pädiatrie bildete, kam man den Zusammenhängen auf die Spur. Und dann dauerte es noch etwas, um den Lebertran als Vitamin-D-Lieferant zu entdecken: 1888 wurde dieser erstmals verabreicht. Von da an wurden zahlreiche Kinder mit einem Esslöffel des widerlich schmeckenden Extraktes pro Tag malträtiert.

Else Ury beschreibt das sehr bildhaft in den „Nesthäkchen“-Büchern, die um 1910 entstanden. Zusammen mit einer Lichttherapie ultravioletter Strahlen bekam man die Rachitis endlich in den Griff. Auch heute noch gibt man Säuglingen Vitamin D als Tropfen oder in Tablettenform – der Lebertran hat ausgedient.

Kein Kalzium ohne Vitamin Was passierte bei dieser Krankheit, die in Europa fast ausgestorben ist? Die UV-Strahlung der Sonne bewirkt in der Haut eine Reduktion von 7-Dehydrocholesterol zu Colecalciferol. Dies ist die Vorstufe von Vitamin D. Es ist notwendig, um das mit der Nahrung aufgenommene Kalzium in die Knochen zu transportieren und einzulagern.

KINDERARBEIT
Ein Jugendarbeitsschutzgesetz gibt es erst seit 1839. Das „Regulativ für jugendliche Arbeiter in Fabriken“ verbot Kindern unter 9 Jahren die regelmäßige Beschäftigung in Fabriken und Bergwerken. Von 9 bis 16 Jahren durften Jugendliche bis zu 10 Stunden pro Tag arbeiten.

Kalzium macht die Knochen fest und wird besonders im Säuglings- und Kleinkindalter in großen Mengen benötigt, denn hier wächst das Skelett. Die Kinder, die in geschlossenen Räumen arbeiteten oder gar unter Tage, bekamen kein Sonnenlicht. Während der industriellen Revolution verdunkelten zudem die dunklen Schwaden der Fabrikschornsteine den Himmel; bei Inversionswetterlagen entstand Smog, der ganze Städte und Tallagen einschloss. Die damals vorherrschende Mangelernährung der ärmeren Bevölkerung tat ihr Übriges.

»Auch heute noch gibt man Säuglingen Vitamin D als Tropfen oder in Tablettenform«

Das Resultat waren der sogenannte „rachitische Zwergwuchs“ und ein insgesamt schlechtes Gedeihen der Kinder. Das spitz hervortretende, sichtbar deformierte Brustbein führte zum Namen „Hühnerbrust“, die aufgetriebenen, durch die Haut sichtbaren Rippen zum „Rosenkranz“, die verformten Ober- und Unterschenkelknochen zu „Säbelbeinen“. Und da sich auf krummen Beinen schlecht gehen lässt, lernten diese Kinder oftmals spät laufen, waren insgesamt von der körperlichen Entwicklung her verzögert.

Fast ausgestorben Nach dem zweiten Weltkrieg gab es durch Mangelernährung wieder häufiger Rachitis-Fälle. Heute sind Muslima, deren Haut durch die Kleidervorschriften kaum Sonnenlicht erhält, häufiger von Vitamin-D-Mangel betroffen. In Europa ist die „englische Krankheit“ nahezu ausgestorben, tritt jedoch in den armen Ländern der Erde immer noch zahlreich auf.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 08/15 ab Seite 28.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

×