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Autoimmunerkrankungen

MULTIPLE SKLEROSE

Die Entstehung dieser heimtückischen und fortschreitenden Krankheit ist noch immer nur teilweise verstanden. Trotzdem gelingt es, immer mehr Medikamente zur Behandlung zu entwickeln.

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Bislang ging man von rund 130 000 MS-Patienten in Deutschland aus. Neueren Schätzungen zufolge könnten es aber auch etwa 200 000 Menschen sein. Jährlich erhalten etwa 2500 Patienten neu die Diagnose. Frauen sind zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Männer. Damit gehört die MS zu den bekanntesten Autoimmunerkrankungen. Unbestritten ist, dass Fehlsteuerungen, bei denen sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet, eine Rolle bei der Krankheitsentstehung spielen. Trotz intensiver Forschungsanstrengungen sind aber viele Fragen weiterhin ungelöst.

T- und B-Lymphozyten beteiligt Ursprünglich dachte man, dass primär autoreaktive T-Zellen für die Entstehung der MS verantwortlich sind. Dass dies jedoch zu kurz gegriffen war, ließ sich eigentlich schon aufgrund des Vorhandenseins der oligoklonalen Banden in der Zerebrospinalflüssigkeit des zentralen Nervensystems erahnen. Sie lassen sich bei fast allen MS-Patienten nachweisen – und dahinter verbergen sich bekanntlich Immunglobuline, also Antikörper. Und Antikörper werden von B-Zellen hergestellt.

Ob diese Antikörper aus den oligoklonalen Banden aber Autoantigene erkennen, wenn ja, welche, und welche Rolle sie bei der Krankheitsentstehung spielen könnten, ist jedoch unklar. Sicher ist: B-Zellen steigern die Rekrutierung und Aktivierung von T-Zellen auf vielfältige Weise und tragen so zur MS bei. Erstmals wurde in diesem Jahr ein Medikament zur Behandlung der MS zugelassen, das sich speziell gegen B-Zellen richtet.

Autoantigene im ZNS Seit langem ist bekannt, dass sich bei der MS Autoantikörper gegen Proteine richten, die auf den isolierenden Myelinscheiden lokalisiert sind: gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG), Proteo-Lipid-Protein (PLP), Myelin-associated Glykoprotein (MAG) sowie gegen das Myelin Basic Protein (MBP). Aber auch Antikörper gegen weitere Proteine wurden zumindest bei einem Teil der Patienten nachgewiesen; offenbar werden auch ZNS-Lipide von Autoantikörpern erkannt. Sehr wahrscheinlich spielen diese Autoantikörper eine Rolle bei den entzündlichen Reaktionen sowie bei der Demyelinisierung im Gehirn. Interessant: Autoantikörper sind nicht nur im ZNS, sondern auch peripher im Serum nachweisbar. Möglicherweise sind sie hier an der Aktivierung der T-Zellen beteiligt.

Viele Faktoren Zwar geht die Mehrheit der Forscher davon aus, dass die Bildung von Autoantikörpern tatsächlich der erste Schritt in der Krankheitsentstehung der MS ist, aber ganz sicher ist auch das nicht. Klar ist, dass mehrere Faktoren zusammenkommen müssen, damit die Krankheit ausbricht. Dazu gehört eine gewisse genetische Prädisposition. Heute sind über 100 genomische Regionen bekannt, die das Risiko erhöhen können, an MS zu erkranken. Aber Gene alleine können die Krankheit nicht erklären. Beispielsweise ist bei eineiigen Zwillingen das Risiko, dass der zweite Zwilling ebenfalls erkrankt, zwar erhöht – aber es liegt nicht bei einhundert Prozent. Als sicher gilt, dass eine Infektion mit dem Epstein-​Barr-Virus und auch ein Vitamin D-Mangel eine Rolle in der Pathogenese der MS spielen. Viele weitere Umweltfaktoren stehen ebenfalls im Verdacht.

Krankheitsbild Im Endeffekt kommt es zu einer fortschreitenden Zerstörung der Myelinscheiden, aber auch von Axonen und Neuronen im zentralen Nervensystem. Zu den ersten Symptomen der MS gehören häufig Sehstörungen, Gefühlsstörungen der Haut und Lähmungen. Im Verlauf nehmen Gefühls-, Seh-, Sprech- und Gehstörungen zu; unter anderem treten auch Blasenstörungen auf. Zudem können Schmerzen und ausgeprägte Müdigkeit vorkommen. Bei der Mehrheit der Patienten verläuft die Erkrankung schubförmig (RRMS, rezidivierend-remittierende MS), bei einigen schreitet sie von Beginn an ohne Schübe immer weiter voran (PPMS, primär-progrediente MS).

Eine schubförmige MS geht in der Regel nach einiger Zeit in eine sekundär-progrediente MS über. Unter einem klinisch-isolierten Syndrom (CIS) versteht man das einmalige Auftreten neurologischer Defizite aufgrund einer Demyelinisierung beziehungsweise Entzündung im zentralen Nervensystem. Daraus kann sich eine MS entwickeln, es kann aber auch bei einem CIS bleiben. Die Diagnose einer MS stellt besonders im Frühstadium auch für erfahrene Ärzte eine Herausforderung dar.

Behandlung von Schüben und verlaufsmodifizierende Therapie Die Therapie umfasst zum einen die Behandlung der akuten Schübe. Hier wird hochdosiertes Cortison eingesetzt, um die Entzündung möglichst effektiv zu hemmen. Reicht dies nicht aus, kann eine Plasmapherese (Blutwäsche) durchgeführt werden. Um Schübe möglichst zu verhindern beziehungsweise ihre Anzahl zu reduzieren, erhalten MS-Patienten eine verlaufsmodifizierende Therapie, bei der das Immunsystem moduliert oder unterdrückt wird. Diese richtet sich nach dem Schweregrad der Erkrankung. Bei milden und moderaten Verläufen der RRMS kommen die Substanzen Dimethylfumarat, Glatirameracetat, Beta-Interferone sowie Teriflunomid infrage.

Nur in bestimmten Situationen werden noch Azathioprin und intravenöse Immunglobuline eingesetzt. Bei (hoch)aktiver Erkrankung kommen die potenteren Medikamente Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Natalizumab und Ocrelizumab zum Einsatz. Sie haben allerdings auch mehr und schwerere Nebenwirkungen. Auf unterschiedliche Weise greifen alle in das – fehlgeleitete – Immunsystem ein: Alemtuzumab bindet als monoklonaler Antikörper an B- und T-Lymphozyten sowie Fresszellen und führt zu einer Depletion dieser Zellen. Cladribin ist ein Zytostatikum und führt dazu, dass B- und T-Zellen zugrunde gehen.

Fingolimod hindert Lymphozyten daran, die Lymphknoten zu verlassen und verhindert so, dass sie ins zentrale Nervensystem wandern und dort Schaden anrichten können. Der monoklonale Antikörper Natalizumab dagegen verhindert an der Bluthirnschranke, dass T-Lymphozyten ins Gehirn gelangen. Der neueste Arzneistoff ist Ocrelizumab. Es handelt sich dabei um eine humanisierte Variante des Antikörpers, der auch als Rituximab bekannt ist. Er richtet sich gegen ein Oberflächenmolekül auf den B-Zellen und führt zu einer B-Zell-Depletion. Als einziges Medikament ist Ocrelizumab auch bei primär progredienter MS wirksam.

Falls alle diese Medikamente versagt haben oder nicht vertragen wurden, kann bei hochaktiver MS auch Mitoxantron eingesetzt werden. Glatirameracetat und die Interferone können darüber hinaus auch bereits bei einem CIS eingesetzt werden, wenn ein hohes Risiko besteht, dass sich daraus eine MS entwickelt. Neben der verlaufsmodifizierenden Therapie spielt eine ganze Reihe von zusätzlichen medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapien eine wichtige Rolle. Sie helfen dabei, die Symptome von Beschwerden wie Spastiken, Fatigue, Schmerzen, Blasen- und Darmstörungen oder auch Depressionen zu lindern.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/18 ab Seite 114.

Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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