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Anthroposophie

MEHR SEIN ALS DER REINE KÖRPER

Die Anthroposophische Medizin ist eine integrative Therapierichtung, die sich aus einer naturwissenschaftlichen, konventionellen Quelle sowie aus geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen zusammensetzt. Körperliches, Seelisches und die Individualität des Menschen bilden eine Einheit.

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Der Begriff Anthroposophie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Menschenweisheit – der sich selbst erkennende Mensch steht im Mittelpunkt, auch in der Medizin. Die Lehre wurde von dem Philosophen Rudolf Steiner entwickelt und stellt eine Kombination aus Religion, Philosophie, Mystik und einer von den Ideen Goethes geprägten Naturwissenschaft dar.

Die anthroposophische Medizin ist kein Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Gesundheitslehre, sondern gilt als deren geisteswissenschaftliche Erweiterung. Sie ist keine Alternativmedizin, da sie die Allopathie nicht ersetzen, sondern durch anthroposophische Arzneimittel und Methoden ergänzen möchte. Die Beurteilung von Krankheit, Gesundheit und Genesung basiert auf den physischen Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften und berücksichtigt gleichzeitig die Prinzipien von Leben, Seele und Geist.

Laborkontrollen, Intensivmedizin, Medikamente und Operationen gehören genauso zur anthroposophischen Medizin wie Atmung, Körperbau oder Bewegungsfluss – das Charakteristische des individuellen Menschen wird folglich mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der konventionellen Medizin verbunden.

Anthroposophisches Menschenbild Die moderne Medizin bezieht sich auf den menschlichen Körper und seine stofflich-organische Seite, die mithilfe von naturwissenschaftlichen Methoden im Labor gemessen werden kann. Dabei sind nur die objektivierbaren Anteile des Organismus relevant, die subjektive, individuelle Seite des Menschen wird vernachlässigt.

In der Anthroposophie wird genau dieser Bereich mit einbezogen: Der Mensch wird als komplexe Einheit aus Seele, Geist und Leib aufgefasst, die sich im Kontext der Zeitspanne von der Geburt bis zum Tode, der Evolution und der Fragen nach vorgeburtlicher und nachtodlicher Existenz betrachten lässt. Man unterscheidet nach Rudolf Steiner folgende Wesensglieder.

Ganzheitliche Diagnostik
Anthroposophische Ärzte achten bei der Diagnostik auf das gesamte Erscheinungsbild der Person und berücksichtigen Mimik, Gestik, Körperhaltung, den Gang und den Händedruck. Sie tasten den Körper ab und hören sich die Geschichte des Patienten sehr genau an, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf Schilderungen über das seelische Befinden, die Konstitution und den Lebenswillen legen. Erst danach greifen sie auch auf konventionelle Verfahren zurück, vorausgesetzt diese erweisen sich für den individuellen Fall als relevant. Die technischen Methoden werden also nicht standardmäßig eingesetzt, sondern nur, wenn deren Nutzen offensichtlich sind. Auf diese Weise lassen sich überflüssige Ausgaben vermeiden – anthroposophische Ärzte arbeiten demnach sehr kostenbewusst.

Unbelebte Grundlage: Stoffleib (physischer Leib) Gestalt und Organsystem entsprechen dem stofflichen Anteil, dem zum Beispiel Muskulatur, Blut oder Zentralnervensystem zugeordnet sind. Der physische Leib gehorcht den Gesetzen der Physik und kann von der konventionellen Wissenschaft erforscht werden. Objektive Befunde werden etwa durch Röntgendiagnostik, Ultraschall, Computertomografien oder durch messbare Bestandteile von Blut und Sekreten erfasst. Mit diesen Verfahren gelingen jedoch nur statische Aufnahmen. Sie verschleiern sowohl die dynamischen Prozesse des Systems als auch Wechsel im Tagesablauf (z. B. Änderungen des Blutzuckers).

Grundlage des Lebendigen: Lebensleib (Ätherleib) Er organisiert das physische Leben, das unter anderem aus Wachstum, Verdauung, Denken und Fortpflanzung besteht. Nach Steiner umfasst der Lebensleib alle Gesetzmäßigkeiten, die tote Materie am Leben erhalten.

Grundlage der Empfindungen: Seelenleib (astralischer Leib) Zu der objektiven Ebene des Stoffleibs tritt unser Befinden. Die Verbindung von Empfindungen und Körper bezeichnet man als Seelenleib. Er ist nur bei wahrnehmenden Organsimen (Tieren, Menschen), jedoch nicht etwa bei Pflanzen vorhanden.

Grundlage des individuellen Geistes: Ich-Leib Diese höchste Ebene des Körpers entzieht sich der sinnlichen Wahrnehmung. Es handelt sich hierbei um die geistige Individualität, welche zwischen Mensch und Tier differenziert.

Anthroposophie versus Schulmedizin Der Mensch befindet sich stets auf einem Kontinuum zwischen Krankheit und Gesundheit. Voraussetzung unseres Wohlbefindens ist das ausgewogene Verhältnis von Leib und Geist, zwischen denen die Seele vermittelt. Diese Verschmelzung ist dynamisch und äußert sich in einer sogenannten Dualität (Wachheit-Schlaf, Ruhe-Bewegung, Einatmen-Ausatmen).

Während Schulmediziner sich nur mit krankheitsfördernden Faktoren beschäftigen, betrachten anthroposophische Ärzte zusätzlich gesundheitsschaffende Aspekte. Nach Ansicht der Anthroposophen entstehen Krankheiten, indem die vier Wesensglieder in ein Ungleichgewicht geraten und die Interaktionen zwischen den Bereichen nicht mehr einwandfrei funktionieren. Der Mensch bekommt durch Erkrankungen die Gelegenheit, die gestörte Balance von Körper und Seele zu erkennen, zu verstehen und zu verbessern.

Im Rahmen des therapeutischen Spektrums sind die Patienten einerseits passiv (wie zum Beispiel bei Operationen oder bei der Verwendung von Medikamenten), andererseits verlangen einige der Behandlungsmaßnahmen (wie Psychotherapie, Bewegung, Entspannungsverfahren, künstlerische Therapien) die Eigenaktivität Betroffener. Insbesondere bei chronischen Krankheiten unterstützen anthroposophische Mediziner ihre Patienten dabei, Verantwortung für sich selbst zu entwickeln und neue Verhaltensweisen zur Gesunderhaltung zu erlernen.

Porträt Rudolf Steiner wurde am 27. Februar 1861 in Kraljevec (Österreich, heute Kroatien) geboren. Er zeigte schon früh naturwissenschaftliches Interesse und immatrikulierte sich nach seinem Abitur 1879 an der Technischen Hochschule in Wien, um dort Biologie, Chemie, Mathematik und Physik zu studieren. Später widmete er sich zusätzlich den Geisteswissenschaften. Ab 1890 arbeitete Steiner in Weimar im Goethe- und Schillerarchiv mit und wurde ein Jahr später zum Doktor der Philosophie promoviert.

»Rudolf Steiner rief 1912 die Anthroposophische Gesellschaft ins Leben.«

1897 verschlug es ihn nach Berlin, wo er zunächst redaktionell-publizistisch und später als Lehrer tätig war. 1899 heiratete er zum ersten Mal und geriet durch seine Frau Anna Schultz in theosophische Kreise. 1902 wurde er Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft und begann gleichzeitig, sich mit der Anthroposophie als Geisteswissenschaft zu beschäftigen. In den nächsten Jahren folgten zahlreiche Publikationen und Vorträge im In- und Ausland. 1912 rief er die Anthroposophische Gesellschaft ins Leben.

Dr. phil. Rudolf Steiner und die Ärztin Dr. med. Ita Wegman (1876 bis 1943) begründeten das integrative Konzept der anthroposophischen Medizin, dessen Ziel eine Erweiterung der Medizin um die geisteswissenschaftliche Komponente war. Ita Wegman pflegte Steiner ab September 1924 bis zu seinem Tod im Jahre 1925.

Ihr gemeinsam verfasstes Werk „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“ brachte sie postum heraus. Wegmann entwickelte die so genannte Rhythmische Massage, die eine Erweiterung der klassischen Massagetechnik darstellt und den Vorstellungen der anthroposophischen Heillehre entspricht. Sie selbst starb 1943 im Alter von 67 Jahren in Arlesheim.

So wenig wie möglich – so lange wie nötig In schweren akuten oder gar lebensbedrohlichen Situationen werden selbstverständlich allopathische Medikamente verordnet. Jedoch ist das grundsätzliche Ziel der anthroposophischen Medizin, Arzneimittel zu verwenden, welche die Selbstheilungskräfte aktivieren, die Beschwerden lindern und den Organismus dazu befähigen, das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen.

Zur Heilung dienen dabei tierische, pflanzliche und mineralische Substanzen, die nach den Vorstellungen der Anthroposophen nicht durch ihre Inhaltsstoffe, sondern durch ihre Dynamik wirken. Weidenrinde besitzt beispielsweise einen antiphlogistischen Effekt, weil die Pflanze an feuchten Standorten wächst und die Entzündung „auslöscht“.

Anthroposophische Pharmazie
Auch aus dieser Sicht ist der Mensch mehr als ein rein körperliches Wesen. Es werden spezielle Anforderungen an die Herstellung von Arzneimitteln gestellt: Die Ausgangsstoffe sind in der Regel der Natur entnommen und besitzen eine besondere Qualität (z. B. biologisch-dynamischer Anbau). Die Herstellung verläuft nach in der Pharmazie gebräuchlichen Verfahren wie der Mazeration, Digestion oder Destillation oder nach Prozeduren der Anthroposophischen Pharmazie (Veraschung, Röstung, Verkohlung).

Ob der Arzt ein Mittel als Gesamtextrakt oder ein Homöopathikum wählt, richtet sich nach dem Krankheitsverlauf, der Dauer, der Symptomatik, dem Alter, dem Zustand und der Aktivität des Patienten. Da der Mensch ganzheitlich betrachtet und nicht nur auf seine Krankheit reduziert wird, gehören auch Bereiche wie die Ernährung zum anthroposophischen Gedanken.

Schwerpunkt in der anthroposophischen Medizin Künstlerische Therapien fördern das Gesundungspotenzial des Körpers. Sie führen zu Selbsterkenntnis, sodass krankmachende Verhaltensmuster korrigiert werden. Für Betroffene ergeben sich daraus neue Wege zur Bewältigung von Krankheiten. Zeichnen, Malen, Musizieren, Sprachgestaltung und die Heileurythmie sind Gebiete der Kunsttherapie.

Heileurythmie Diese besondere Therapieform rhythmischer Bewegungskunst in der entstand aus den Abläufen der Eurythmie (der Kunst, geistige Inhalte durch Körperbewegung und Gesten darzustellen). Sie wird bei akuten, chronischen und degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, des Herz-Kreislauf-Systems, des Bewegungsapparates und des Stoffwechselsystems angewendet. Nützlich ist sie ebenfalls bei Behinderungen, kindlichen Entwicklungsstörungen, psychosomatischen Beschwerden sowie in der Psychiatrie. Gezielte Bewegungen sollen das gestörte Gleichgewicht der seelischen, leiblichen und geistig-individuellen Ebene ausgleichen.

Grundelemente sind die in Bewegung umgewandelte Laute unserer Sprache, wobei heileurythmische Bewegungen die Wahrnehmung von außen nach innen beeinflussen und somit entgegengesetzt zu den menschlichen Gemütsäußerungen, die sich durch Mimik und Gestik von innen nach außen richten, laufen. Jede Lautbewegung steht in einem bestimmten Verhältnis zu inneren organischen Prozessen und kann daher heilend, regulierend oder stärkend wirken. Da bisher keine kontrollierten und qualitätsgesicherten Studien zur Heileurythmie vorliegen, gehört sie nicht zu den wissenschaftlich anerkannten Methoden.

Medizinische Anwendungen Auch physikalische und therapeutische Maßnahmen wie Bäder oder Wickel sind Bestandteile der anthroposophischen Medizin. Sie haben den Zweck, Verdauung, Durchblutung und Stoffwechselprozesse zu aktivieren. Auf diese Weise lässt sich das Wohlbefinden der Patienten verbessern. In der Krankenpflege stehen der Mensch und seine Bedürfnisse ebenfalls im Vordergrund. Hier treffen die Erkenntnisse der modernen Pflegeforschung auf die geisteswissenschaftlichen Grundsätze der Anthroposophie.

Hilfe bei Tumoren Die Misteltherapie wurde 1920 von Rudolf Steiner und Ita Wegman zur Bekämpfung von Krebserkrankungen vorgeschlagen und eingeführt. In Deutschland ist sie die am häufigsten eingesetzte komplementär-medizinische Therapie, gilt jedoch aufgrund der teilweise widersprüchlichen Studienlage als umstritten.

Der Grundgedanke war die philosophische Idee Steiners, Parallelen zwischen schmarotzerischen Misteln und den Krebsgeschwüren zu ziehen und aufgrund dieser Ähnlichkeit Gleiches mit Gleichem zu behandeln. Seitdem gibt es zahlreiche Untersuchungen zum Einfluss von Mistel auf das Tumorwachstum. Insbesondere seit den 1980er-Jahren gewann diese Forschung erheblich an Dynamik: Studien zeigten, dass bestimmte Inhaltsstoffe der Mistel (so genannte Lektine) die körpereigene Immunabwehr anregen würden. In Tierversuchen konnte eine tödliche Wirkung der Misteleiweiße auf die Tumorzellen festgestellt werden, außerdem soll die Anwendung der Mistelpräparate das Wohlbefinden der Patienten positiv beeinflussen.

Um die Substanz zu gewinnen, presst man Zweige und Blätter der weißhaarigen Mistel aus und verdünnt den Saft mit Wasser. Anthroposophische Mistelpräparate unterscheiden zwischen den verschiedenen Sorten, zwischen weiblichen oder männlichen Pflanzen sowie zwischen der Sommer- und Winterernte. Der Mistelextrakt wird von den Patienten selbst unter die Haut gespritzt, wobei unter Umständen entzündliche Hautreaktionen an der Einstichstelle sowie grippeähnliche Symptome auftreten können.

Ärzte injizieren die Substanz in der Regel direkt in das erkrankte Gewebe. Zu Beginn der Therapie verwendet man eine sehr geringe Dosis, die dann langsam gesteigert wird. Oft resultiert eine Verbesserung der Lebensqualität, die Patienten sind angstfreier und verkraften den Schock der Diagnose besser. Anthroposophische Mistelpräparate in der adjuvanten Krebstherapie dürfen nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 11/13 ab Seite 58.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin (FJS)

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