© Konstantin Bögel / Bodenwerder-Polle

Artifizielle Störung

KRANKSEIN ZUM SCHEIN

Wenn Patienten regelmäßig Symptome vortäuschen, leiden sie möglicherweise an einer psychischen Erkrankung, dem Münchhausen-Syndrom. Ärzte und Psychotherapeuten geraten dabei oft an ihre Grenzen.

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Anders als die Geschichten des Lügenbarons Freiherr von Münchhausen löst das Krankheitsbild, welches dessen Namen trägt, Erstaunen und Entsetzen bei uns aus. Bei der psychischen Erkrankung versuchen Betroffene, eine Krankheit zu erzwingen, indem sie ihre Gesundheit manipulieren, um möglichst einen Krankenhausaufenthalt zu provozieren. Sie täuschen Beschwerden vor, verstärken Krankheitsanzeichen oder rufen sie künstlich hervor.

Das ICD-10 ordnet das Syndrom den artifiziellen Störungen zu , die sich durch das absichtliche Erzeugen oder Vorspielen von körperlichen oder psychischen Symptomen kennzeichnen. Die Personen fügen sich etwa Schnittverletzungen zu oder injizieren sich toxische Substanzen. Sie beharren überzeugend und hartnäckig auf ihren Schmerzen, sodass trotz mehrfach negativer Befunde manchmal sogar Operationen veranlasst werden.

Das absichtliche Herstellen von physischen oder psychischen Beeinträchtigungen kann auch an anderen Menschen durchgeführt werden. Dabei handelt es sich um das so genannte Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Die selbst- und fremdverletzenden Aktionen geschehen heimlich in einem vermutlich dissoziativen Bewusstseinszustand, woraufhin Betroffene medizinische Hilfe beanspruchen. Im Gegensatz zu Simulanten, die seelisch gesund sind, liegt dem Verhalten der Menschen ein krankhaft-zwanghafter Charakter zugrunde.

Rätselhafte Motivlage Patienten ziehen aus ihrem Verhalten keine offensichtlichen Vorteile, wie beispielsweise körperliches Wohlbefinden oder einen finanziellen Nutzen. Warum Betroffene so handeln, ist daher undurchschaubar. Es existieren verschiedene Annahmen, für die jedoch keine empirische Evidenz besteht: Man vermutet Ursachen wie Spannungsregulierung, Reinszenierungen von Traumata oder das Erreichen von Aufmerksamkeit und Fürsorge.

Komorbiditäten Meist sind es Frauen, die von der Störung betroffen sind. Sie leben häufig alleine oder getrennt, sind mindestens durchschnittlich gebildet und oft an weiteren psychischen oder Persönlichkeitsstörungen, insbesondere an dissozialen Formen, erkrankt. Das fremdverletzende Syndrom geht oft mit Depressionen, Essstörungen, Borderlineerkrankungen oder mit narzisstischen oder histrionischen Persönlichkeitsstörungen einher.

Perfekter Trug Artifizielle Störungen sind schwer zu erkennen, denn Patienten sind wahre Experten in Sachen Täuschung und führen selbst erfahrene Spezialisten jahrelang hinters Licht. Meist sind sie im Gebiet der Medizin sehr versiert, wählen Erkrankungen, die objektiv nicht messbar sind (z. B. Kopfschmerzen), und simulieren ihre Beschwerden glaubhaft. Außerdem kommt ihnen die Angst vieler Ärzte zugute, Krankheiten zu übersehen. Liegt der geringste Verdacht auf falsche Behauptungen vor, werden Mediziner und Kliniken einfach gewechselt.

Auffällig sind meist Aspekte wie das Fehlen organischer Ursachen, häufiger Austausch von Behandlern sowie unplausible Unfälle. Fliegt der Betrug schließlich auf, sind Ärzte und Pfleger ziemlich verärgert und zweifeln nicht selten an ihrer eigenen Kompetenz. Auch für das Gesundheitssystem stellen diese Menschen eine große Belastung dar, zudem enthalten sie anderen Therapieplätze vor.

Brutale Mutterliebe Beim Münchhausen-by-proxy-Syndrom manipulieren die Betroffenen andere Menschen, um sie als krank darzustellen. Oft sind es Mütter, die ihren Kindern (meist Säuglingen oder Kleinkindern) Schaden zufügen, um medizinische Eingriffe und Klinikaufenthalte zu erzwingen. Die scheinbar fürsorglichen Mütter bringen ihre Sprösslinge immer wieder mit unklaren Beschwerden in Krankenhäuser.

»Beim Münchhausen-by-proxy-Syndrom manipulieren die Betroffene andere Menschen, um sie als krank darzustellen.«

Die Ärzte sind ratlos und finden keine Ursache für die Leiden. Meist ahnen sie nicht, dass die besorgten Frauen ihren eigenen Nachwuchs quälen, um Aufmerksamkeit des medizinischen Personals und ihrer Mitmenschen zu erlangen. Sie manipulieren Messdaten (z. B. Fieberkurven) oder mischen selbst abgenommenes Blut in den Urin oder in die Körperöffnungen der Kinder. Die Patientinnen weisen vielfach eine Affinität zu medizinischen Berufen auf, geben sich aufopferungsvoll, stellen sich mit den Therapeuten gut und fühlen sich in der Klinik sichtlich wohl.

Bedeutsam ist, dass sie sich bei bevorstehenden, schweren Eingriffen nicht sorgen und die Behandlungen geradezu fordern. Gelingt es den Ärzten, Beweise für die Fremdeinwirkung zu sammeln, ist unverzüglich das Jugendamt zu informieren, da der Schutz der Kinder höchste Priorität hat. In der Regel werden sie dann von der Mutter getrennt und in einer Pflegefamilie untergebracht.

Vom Opfer zur Täterin Viele Frauen haben in ihrer Kindheit selbst Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung erfahren. Ihre Beziehungen zu anderen Menschen sind oft von Misstrauen geprägt und sie sind nicht in der Lage, gesunde Bindungen aufzubauen. Vermutlich wurde ihnen gegenüber nie Mitgefühl gezeigt, sodass es den Täterinnen komplett an Empathie fehlt – auch ihren Kindern gegenüber. Nicht selten mussten Betroffene selbst zahlreiche medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen und haben im Laufe der Zeit ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper entwickelt.

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gilt als spezielle Form der Kindesmisshandlung. Statistisch gesehen ist die Störung relativ selten, dennoch zählt sie zu den häufigsten nicht erkannten Leiden. Es kommt aber auch vor, dass anstelle von Kindern andere Erwachsene Opfer sind.  Meist sind Betroffene nicht einsichtig und weigern sich daher, eine Psychotherapie anzutreten.

Gelingt es dennoch, muss zunächst ein stabiles Arzt-Patienten-Verhältnis aufgebaut werden. Konfrontationen mit Betrugsbeweisen sind unbedingt zu vermeiden, da Patienten in diesem Fall voraussichtlich die Behandlung abbrechen würden. Menschen mit artifiziellen Störungen sollten, wenn möglich, in Intervallen stationär aufgenommen werden. Zwischendurch sind ambulante Phasen ratsam. Gegebenenfalls wird die Therapie durch Psychopharmaka unterstützt, einheitliche Angaben zur Medikation gibt es jedoch nicht.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 11/13 ab Seite 82.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin (FJS)

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