Krebserkrankungen
IMMER MEHR, IMMER BESSER
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Schon der griechische Arzt Hippokrates kannte Tumorerkrankungen. Er bezeichnete sie bereits um 400 v. Chr. als Krebs („Karkinos“). Nun hatte man zwar einen Namen, aber noch keine Therapie. Die begann erst Ende des 19. Jahrhunderts, als der Amerikaner William Halsted eine vom Krebs befallene Brust mitsamt umliegender Lymphknoten und Muskeln entfernte. Auch heute noch ist die möglichst schonende Entfernung des Tumors meist die erste Wahl in der Krebstherapie. Im 20. Jahrhundert wurde die Operation dann durch Strahlen- und Chemotherapien ergänzt, die jedoch oft auch gesunde Gewebe und nicht nur die Tumorzellen schädigten.
Paradigmenwechsel Ab 1960 etablierte sich in der Krebsforschung ein neuer Weg: Man ging mehr auf die Tumorbiologie ein, was in der Folge zu individuelleren, zielgerichteten Therapien führte. Grundlage dafür war die Entdeckung des „Philadelphia- Chromosoms“ bei Leukämie-Patienten durch Peter Nowell und David Hungerford, die damit erstmals eine ursächliche genetische Veränderung in Tumorzellen nachweisen konnten. 1980 entdeckte Lee Nadler das Oberflächenmolekül CD20, das sich bei einigen Formen des Non-Hodgkin-Lymphoms nachweisen lässt. Daraus entwickelte sich die Idee, Krebszellen mit Arzneistoffen zu bekämpfen, die gezielt an tumorspezifischen Strukturen wie eben CD20 andocken.
Dies ist zum Beispiel mit speziell im Labor dafür hergestellten monoklonalen Antikörpern möglich, für deren Entwicklung César Milstein und Georges Köhler 1984 den Medizinnobelpreis erhielten. Drei Jahre später wiesen Axel Ullrich und Dennis Slamon dann nach, dass Antikörper Tumorzellen nicht nur aufspüren, sondern sogar in ihre biochemischen Prozesse eingreifen können, indem sie Signalwege unterbrechen, die für ihr Wachstum und Überleben wichtig sind. Daraufhin entwickelten sie den Antikörper Trastuzumab für Frauen, deren Mammakarzinom den Wachstumsfaktor HER2 exprimiert, was die Tumore besonders aggressiv macht. Der im Jahr 2000 zugelassene Antikörper kann die Wirkung von HER2 blockieren und so die Prognose der Patientinnen verbessern. Erster Antikörper in der Krebstherapie war jedoch zuvor der CD20-Antikörper Rituximab, der bereits 1998 für die Therapie von Lymphomen zugelassen wurde.
Antikörper und „small molecules“ Mit der Jahrtausendwende wurden immer mehr und immer bessere zielgerichtete Therapien entwickelt, was durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2005 weiter unterstützt wurde. Jetzt konnten immer mehr Genmutationen erkannt werden, die dazu führen, dass bestimmte Signalwege in den Zellen dauerhaft angeschaltet bleiben, was zum Entstehen von Tumoren führt. Große Moleküle wie die monoklonalen Antikörper Rituximab und Trastuzumab verhindern das, indem sie bestimmte Rezeptoren auf der Oberfläche von Tumorzellen blockieren, wodurch keine wachstumsfördernden Signale nach innen gelangen.
Die sehr viel kleineren, auch als „small molecules“ bezeichneten Kinasehemmer unterbrechen hingegen die Signalübertragung, indem sie gezielt an innerhalb der Tumorzelle liegende Strukturen der Rezeptoren binden. Während monoklonale Antikörper nur per Injektion oder Infusion verabreicht werden können, können Kinasehemmer in Tablettenform genommen werden. Es gibt mittlerweile Dutzende dieser effektiven Wirkstoffe, die gegen verschiedene Mutationen bei einer Reihe von Tumoren eingesetzt werden.
Blutzufuhr drosseln Ohne ausreichende Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen über das Blut können Tumore ab einer bestimmten Größe nicht weiterwachsen. Um das Wachstum von Blutgefäßen in den Tumoren anzuregen, schütten seine Zellen daher den vaskulären Endothelwachstumsfaktor (VEGF) aus. An diesem Punkt greifen Angiogenesehemmer an den neuen Blutgefäßen an. Sie können als Antikörper auf der Oberfläche oder als Kinasehemmer in den Zellen andocken und die VEGF-Signale blockieren, was das Wachstum der Blutgefäße und damit auch des Tumors hemmt.
Dem Körper helfen, sich selbst zu helfen Immuntherapien sind eine weitere neue Behandlungsoption. Sie sollen das körpereigene Immunsystem in die Lage versetzen, die Tumorzellen zu zerstören. Viele Tumorzellen entziehen sich der Immunantwort nämlich, indem sie die Funktion der Abwehrzellen blockieren. Möglich macht das ein Oberflächenmolekül der Tumorzellen namens PD-L1, durch das T-Zellen die Krebszellen nicht mehr erkennen und zerstören können. Immuncheckpoint-Inhibitoren sind jedoch in der Lage, diese Tarnung zu entschleiern, sodass die T-Zellen wieder gegen den Tumor aktiv werden. Auch Immuncheckpoint-Inhibitoren werden mittlerweile standardmäßig in der Therapie einer Reihe von Tumoren wie etwa Lungenkrebs eingesetzt, bei anderen werden sie erprobt.
Gentechnisch veränderte Immunzellen Vor einiger Zeit erfuhr eine spezielle Art der Immuntherapie große Aufmerksamkeit, weil sie auch bei Patienten mit weit fortgeschrittener Leukämie gute Erfolge erzielte: die Therapie mit CAR-T-Zellen. Hierbei werden dem Patienten T-Zellen entnommen und gentechnisch mit einem chimären Antigen-Rezeptor(CAR) ausgestattet, der eine bestimmte Struktur auf der Oberfläche von Tumorzellen erkennt. Dann werden dem Patienten die T-Zellen wieder zugeführt und können nun gezielt Tumorzellen angreifen, die das Zielantigen aufweisen. CAR-T-Zellen müssen für jeden Patienten individuell hergestellt werden und können bei einem Wiederaufflammen der Krebserkrankung erneut verabreicht werden.
Der bisherige Nachteil bei dieser Therapie ist jedoch, dass man die durch sie im Körper ausgelösten unerwünschten Reaktionen oftmals kaum beeinflussen kann. So werden neben spektakulären Erfolgen auch schwerwiegende Nebenwirkungen bis hin zum Tod verzeichnet, wie etwa durch einen Zytokinsturm, also eine extreme systemische Entzündungsreaktion. Trotzdem sehen Wissenschaftler in dieser Form der Therapie neue Hoffnung für die Behandlung vor allem von aggressiven oder weit fortgeschrittenen Krebserkrankungen.
Mehr Therapien, mehr Zukunft Neben den beschriebenen gibt es noch Reihe weiterer wichtiger Ansätze in der Krebstherapie, von denen Patienten heute profitieren. So treiben CDK4/6-Inhibitoren Brustkrebszellen in den programmierten Zelltod, PARP-Hemmer verhindern, dass Tumorzellen ihre zerstörte DNA reparieren können und mTOR-Inhibitoren lassen sie an ihrem Proteinmüll ersticken. Je mehr wir über die Biochemie der Tumorzellen erfahren, je mehr Genmutationen wir entdecken, umso genauer und besser können wir künftig Krebserkrankungen behandeln.
Dabei ist die Dynamik schon heute beeindruckend: So wurden von 1995 bis 2018 von der Europäischen Zulassungsbehörde EMA bereits 118 Medikamente in 164 Indikationen zugelassen. Die „Perspektive 2023“ des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) listet in ihrer Untersuchung 206 weitere Entwicklungsprojekte für Krebstherapien auf. Dass man den Krebs in absehbarer Zeit nicht ganz besiegen kann – darin sind sich Forscher einig. Ziel ist es aber, ihn irgendwann zu einer chronischen Krankheit zu machen, mit der man gut und lange leben kann.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/2021 ab Seite 26.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist