Heuschnupfen
IMMER FRÜHER, IMMER STÄRKER
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Der junge Mann vor Ihnen niest. Und noch einmal – und ein drittes Mal. Die Plexiglas-Scheiben, die Sie seit einem Jahr von Ihren Kunden trennen, haben ihr Gutes, denken Sie sich. Ihr Kunde blickt Sie aus verquollenen Augen an und klagt: „Ich hatte noch nie eine Allergie, aber jetzt hat es mich voll erwischt.“
Damit ist er kein Einzelfall. Knapp 15 Prozent der Erwachsenen leiden laut einer Studie des Robert Koch-Instituts an Heuschnupfen, Tendenz steigend. Eine Ursache ist die steigende Hygiene, die unser Immunsystem unterfordert. Statt gegen Keime richtet es sich gegen harmlose Substanzen – wie Pollen. Eine andere Ursache ist der Klimawandel. Die Winter verkürzen sich, damit verlängert sich die vegetative Periode des Jahres. Professor Dr. Karl-Christian Bergmann, Leiter der pneumologisch-allergologischen Ambulanz an der Berliner Charité und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst, erklärt:
Die Pollenflugzeit beginnt früher und endet später. Wir glauben, dass die Temperatur der wichtigste Faktor dafür ist.
Früher, länger, stärker
So blüht die Hasel, auf die viele Allergiker reagieren, teilweise schon im Dezember. Auch nichtheimische Arten tragen zum Allergiegeschehen bei: Die Purpurerle, ein Hybrid aus der Kaukasischen und der Japanischen Erle, blüht im Dezember, heimische Erlenarten erst ab Februar. Ambrosia hingegen weitet die Pollenflug-Zeit in den Herbst hinein aus. Es handelt sich um eine eingeschleppte Art, deren Pollen zu 80 Prozent mit denen von Beifuß übereinstimmen. „Wer auf Beifuß reagiert, reagiert in der Regel auch auf Ambrosia“, verrät Bergmann. Dieses sogenannte Traubenkraut zählt zu den stärksten allergenen Pollen.
Auch das Kohlendioxid (CO2) in der Luft beeinflusst das Allergiegeschehen. Denn Pflanzen, die viel CO2 ausgesetzt sind, stoßen mehr Pollen aus. Feinstaub umhüllt Pollen von Pflanzen in Straßennähe, sie sind somit schädlicher. Ebenso macht Ozon Pollen aggressiver. Das Helmholtz Zentrum, eine Forschungseinrichtung für Gesundheit und Umwelt bei München, bestätigt den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Atemwegsbeschwerden:
Ein weiterer Anstieg sowie ein zunehmender Schweregrad der Erkrankungen ist zu erwarten.
Endlich ab in die Natur, aber…
Das heißt für die Betroffenen: Gerade, wenn nach dem dunklen Winter wieder sonniges Wetter und angenehme Temperaturen locken, wird das Draußensein zur Qual. Manche Heuschnupfen-Allergiker entwickeln Fließschnupfen und ihre Augen tränen, bei anderen kommt es zu asthmatischen Beschwerden. Wichtig ist in jedem Fall der Arztbesuch: Bei einem Allergietest stellt der Allergologe fest, welche Pflanzenarten den Heuschnupfen auslösen. Er kann dann eine Desensibilisierung durchführen oder antiallergische Arzneimittel verordnen.
Viele Allergiker setzen jedoch auf die Selbstmedikation. In diesen Fällen zählt Ihr Rat. Auch, wenn Kunden mit einem Rezept über ein Antihistaminikum vom Arzt kommen, können Sie ihnen Tipps für den Alltag geben. Und sinnvolle Zusatzempfehlungen aussprechen! Wir haben neun Tipps für Sie gesammelt.
Neun Tipps für Ihre Heuschnupfen-Beratung
1. Orale Antihistaminika
Sie sind die Klassiker unter den Antiallergika: H1-Antihistaminika zum Einnehmen. Dimetindenmaleat, Cetirizin, Loratadin, Levocetirizin und Desloratadin sind nicht verschreibungspflichtig, diese Wirkstoffe können Sie Ihren Kunden gut empfehlen. Dimetindenmaleat als Antihistaminikum der ersten Generation hat sedierende Eigenschaften, was bei Hautreaktionen mit Juckreiz beruhigen kann.
Cetirizin und Loratadin entstammen der zweiten Generation, sie ermüden Ihre Kunden weniger. Dennoch nimmt man sie abends ein.
Levocetirizin und Desloratadin als Vertreter der dritten Generation haben den Vorteil, dass sie ebenso gut wirken wie Cetirizin und Loratadin. Levocetirizin ist das wirksame der beiden Enantiomere des Cetirizins. Das inaktive, spiegelbildliche Molekül fehlt im Arzneimittel – deshalb erreicht Levocetirizin bei halber Dosierung (und weniger Nebenwirkungen) denselben Effekt. Desloratadin ist der aktive Metabolit des Prodrugs Loratadin. Es kommt ebenfalls mit der halben Wirkstoffmenge aus, weil hier keine Verluste beim First-Pass-Effekt entstehen.
2. Lokale Antihistaminika
Vielen Kunden reicht es aus, die allergischen Beschwerden lokal zu bekämpfen, also an Augen und Nase. Empfehlen Sie in diesem Fall Augentropfen und Nasensprays, wenn benötigt in Kombination.
Levocabastin und Azelastin kommen hier häufig zum Einsatz.
Cromoglicinsäure ist kein Antihistaminikum, sondern es stabilisiert Mastzellen, indem es die Freisetzung von Entzündungsmediatoren blockiert. Vorbeugend und für einen Langzeiteffekt ist es daher gut geeignet. Zur schnellen Abhilfe empfehlen Sie jedoch besser Azelastin oder Levocabastin.
3. Jeden Abend Haare waschen: Cross-Selling Tipp
„Die Dosis macht das Gift“ gilt bei Pollen ebenso wie bei anderen Reizstoffen. Dabei zählt nicht nur, wie viele Pollen auf den Körper treffen, sondern auch, wie lange man dem Allergen ausgesetzt ist. Raten Sie Ihren Kunden dazu, jeden Abend die Haare zu waschen. Denn gerade in den Haaren verfangen sich viele Pollen, und im Schlaf schmiegt man sich mit dem Gesicht hinein. Eine sinnvolle Zusatzempfehlung in der Heuschnupfen-Beratung ist daher ein geeignetes Shampoo. Es sollte besonders mild, speziell für irritierte, gereizte Kopfhaut gedacht und Allergiker-geeignet sein. Schließlich darf die tägliche Wäsche die Kopfhaut nicht aus der Balance bringen. Lecithin ist ein passender Inhaltsstoff. Glycerin bindet Feuchtigkeit auf der Kopfhaut. Triglyceride oder Squalan stärken den Lipidanteil des schützenden Hautfilms. Enthält das Shampoo zusätzlich Vitamin E, schützt es vor dem Austrocknen.
4. Hautbarriere stärken: Cross-Selling Tipp
Pollen gelangen nicht nur über die Nasen- und Mundschleimhaut in den Körper, sondern auch durch die Haut: entlang der Haarfollikel und zwischen den Hautzellen hindurch. Die Langerhans-Zellen der Epidermis nehmen sie auf und präsentieren sie dem Immunsystem. Deshalb bietet eine intakte Hautbarriere Schutz vor Heuschnupfen. Feuchtigkeits- und lipidspendende Cremes, die die lamellare Struktur der Haut nachahmen, eignen sich gut.
5. Calcium?
Calciumpräparate kamen schon lange zum Einsatz, bevor die modernen Antihistaminika entdeckt wurden. Im Alltag zeigten sie sich als gut wirksam. Ab einer Dosis von 1000 Milligramm (mg) bei Erwachsenen dichtet Calcium die Gefäßwände ab. Das ist sinnvoll, da der Allergie-Botenstoff Histamin diese durchlässiger macht. Allerdings stammen Studien aus den 1930er Jahren; das liegt auch daran, dass Antihistaminika Calcium abgelöst haben. Allergologe Bergmann geht jedoch davon aus, dass neue Studien die Effektivität von Calcium unterstreichen würden.
6. Nur nachts lüften
Frische Luft tut gut, und die Corona-Regeln AHA+L wie „lüften“ kennen wir mittlerweile in- und auswendig. Wer allergisch auf Pollen reagiert, sollte aber möglichst nur nachts lüften, denn Pflanzen stoßen ihren Blütenstaub vor allem tagsüber aus. Der Pollenflug ist entsprechend nachts geringer.
7. Keine Kleidung im Schlafzimmer
Aus dem gleichen Grund, aus dem Betroffene jeden Abend die Haare waschen sollten, gilt auch: Die Kleidung des Tages gehört nicht ins Schlafzimmer. Pollen sitzen in den Textilien fest. Wer also vor dem Schlafengehen duscht und seine Wäsche nicht mit ins Schlafzimmer nimmt, schafft dem Körper eine allergenfreie Erholungsphase über Nacht.
8. Luftfilter
Luftreinigungs-Geräte entfernen kleinste Partikel aus der Luft – auch Pollen. Wichtig ist, dass man sie im geschlossenen Raum einsetzt, beispielsweise im Schlafzimmer bei geschlossener Tür vor dem Schlafengehen. Natürlich sind solche Geräte keine apothekentypischen Produkte, über den Tipp freuen sich Ihre Kunden bestimmt trotzdem.
9. Pollengitter
Pollengitter an den Fenstern fangen Pollen ab, bevor sie in die Wohnung gelangen. In Versuchen trugen sie insbesondere zusammen mit Luftfiltern dazu bei, die Partikelbelastung gering zu halten.
Ab Tipp Nummer Drei können Sie diese Empfehlungen auch Kunden mit einem Fexofenadin- oder Rupatadin-Rezept aussprechen. Sollten all diese Maßnahmen nicht helfen, empfiehlt sich meist jedoch eine Desensibilisierung.
Gesa Van Hecke,
PTA und Redaktionsvolontärin
Quellen:
https://www.ndr.de/ratgeber/klimawandel/Allergien-und-Klimawandel-Die-Pollen-fliegen-laenger,pollenflug118.html
https://www.gesundheitsstadt-berlin.de/pollen-werden-zunehmend-aggressiver-11327/
https://www.pollenstiftung.de/pollenvorhersage/pollenflugkalender.html
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-092012/bedeutung-von-calcium/
https://www.allergieinformationsdienst.de/therapie/medikamente/antihistaminika.html Produktsteckbrief PHYSIOGEL Scalp Care Extra mildes Shampoo
https://www.allergiker-shop-alfda.de/info/pollenschutzgitter-luftreiniger-test.html
https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2010/daz-8-2010/pollen-gelangen-auch-ueber-die-haut-in-den-koerper