Krebserkrankungen
GUT HEILBAR, ABER KEINE BAGATELLE
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Knapp 6000 Menschen erkranken in Deutschland pro Jahr neu an einem bösartigen Schilddrüsentumor, Frauen doppelt so häufig wie Männer. Meist sind die Betroffenen um die 50 Jahre alt. Etwa 90 Prozent der Patienten überleben mehr als zehn Jahre.
Winziges Organ mit großer Aufgabe Die Schilddrüse liegt unterhalb des Kehlkopfs dicht unter der Haut. Sie hat die Form eines Schmetterlings und umschließt mit ihren Flügeln die Luftröhre. Das etwa 15 bis 25 Gramm schwere Organ ist lebenswichtig, denn mit Thyroxin, Trijodthyronin und Calcitonin produziert sie gleich drei Hormone, die wesentliche Stoffwechselvorgänge im Körper regeln. Unter anderem aktivieren sie Herz und Kreislauf und steuern über den Eiweiß-, Zucker- und Fettstoffwechsel das Körpergewicht. An der Rückseite des Organs sitzen Nerven, die die Stimmbänder versorgen. Somit ist die Schilddrüse auch an unserer Sprachfähigkeit beteiligt.
Funktioniert sie nicht mehr richtig, gerät unser Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht, wie etwa beim Morbus Basedow, einer Überfunktion der Schilddrüse, die zu Unruhe, Nervosität und ungewollter Gewichtsabnahme führt. Darüber hinaus kann sich aus Zellen der Schilddrüse ein bösartiger Tumor entwickeln. Warum das geschieht, ist bis jetzt nicht restlos geklärt. Man weiß jedoch, dass eine familiäre Vorbelastung für die Erkrankung, Jodmangel und radioaktive Strahlung das Risiko für Schilddrüsenkrebs erhöhen. Jodmangel spielt in den westlichen Industrieländern allerdings seit der Einführung von jodiertem Speisesalz kaum noch eine Rolle.
Radioaktive Strahlung und ihre Folgen Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl, Fukushima – nach all diesen Katastrophen stieg die Zahl der Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs in den betroffenen Gebieten sprunghaft an. Bei den nuklearen Explosionen entsteht als Zerfallsprodukt radioaktives Jod, das durch Wind und Niederschläge in Boden und Grundwasser gelangt und von den Menschen aufgenommen wird. Hier reichert es sich in der Schilddrüse an, die es zur Produktion der Hormone benötigen, aber nicht zwischen der normalen und der radioaktiven Variante unterscheiden können.
Vier verschiedene Formen In rund 90 Prozent der Fälle handelt es sich um differenzierte Tumoren, die als papilläre beziehungsweise follikuläre Karzinome bezeichnet werden. Sehr viel seltener sind medulläre und undifferenzierte (anaplastische) Karzinome, die jeweils etwa fünf Prozent der Patienten betreffen. Ein plötzlich entstehender Kropf oder ein tastbarer Knoten sind Symptome, die auf einen Schilddrüsenkrebs hinweisen können. Allerdings sind nur etwa ein Prozent aller Schilddrüsenknoten bösartig. Dennoch sollte man auch plötzlich auftretende, weniger spezifische Symptome wie eine heisere Stimme, Kratzen im Hals, Husten, Schluck- oder Druckbeschwerden abklären lassen.
Die Diagnose lässt sich meist schon per Ultraschall und Feinnadelbiopsie stellen. Um die Ausbreitung des Tumors festzustellen, führt man eine Szintigrafie, ein Röntgen des Brustkorbs sowie eine Spiegelung des Kehlkopfes und der Luft- und Speiseröhre durch. Beim medullären Karzinom lassen zudem erhöhte Calcitoninwerte auf das Ausmaß des Tumorwachstums schließen. Differenzierte Karzinome haben sehr gute Heilungschancen. Schlechter sieht die Prognose bei den medullären Karzinomen aus. Bei den besonders aggressiven undifferenzierten Karzinomen sind zudem die Therapiemöglichkeiten eingeschränkt.
Entfernung der Schilddrüse meist unumgänglich Zu Beginn der Behandlung steht beim differenzierten Karzinom in der Regel eine Operation, bei der die gesamte Schilddrüse und gegebenenfalls auch außerhalb des Organs auftretendes Tumorgewebe entfernt wird. Nur bei kleinen, lokalen Tumoren unter einem Zentimeter Durchmesser kann es ausreichen, den betroffenen Schilddrüsenlappen zu entfernen – hier kann die Therapie damit auch abgeschlossen sein. Besteht der Verdacht, dass auch die benachbarten Lymphknoten befallen sind, werden sie ebenfalls entnommen. Ist der Tumor in umliegende Strukturen wie Speise- oder Luftröhre gewachsen, müssen auch diese teilweise entfernt werden.
Um eventuell noch im Körper vorhandene Krebszellen abzutöten, führt man nach der Entfernung des Organs eine Radiojodtherapie durch, bei der sich das Isotop gezielt in Krebszellen anreichert und sie durch seine Strahlung zerstört. Erfinder dieser Behandlungsmethode war der US-amerikanische Physiker Joseph Hamilton (1908–1957), der seine Erkenntnisse über die therapeutische Wirkung von Radiojod ironischerweise beim Manhattan-Projekt gewann, das zum Bau der ersten Atombomben führte. Gemeinsam mit Ärzten behandelte Hamilton bereits 1942 erstmals Patienten mit dem radioaktiven Jodisotop I-131.
Unwirksam bei den selteneren Krebsformen Da medulläre und undifferenzierte Karzinome kein Jod speichern, ist die Radiojodtherapie bei diesen Karzinomformen nicht effektiv. Daher wird im Anschluss an die Operation häufig eine Strahlentherapie eingesetzt, gegebenenfalls auch in Kombination mit einer Chemotherapie. Bei etwa 15 Prozent aller medullären Karzinome liegt eine vererbte Form vor. Daher wird heute häufig auch eine genetische Untersuchung durchgeführt und Verwandten mit einem hohen erblichen Risiko die Entfernung der noch gesunden Schilddrüse empfohlen.
Gezielte Therapien im fortgeschrittenen Stadium Hat der Krebs bereits Fernmetastasen gebildet, ist er nicht mehr heilbar. Seit einigen Jahren kann das Überleben dieser Patienten jedoch durch zielgerichtet wirkende Medikamente verlängert werden. Zugelassen sind hierfür derzeit die Multikinase-Inhibitoren Sorafenib, Lenvatinib, Cabozantinib und Vandetanib. Sie wirken, indem sie die Tumoren von der Blutversorgung abschneiden und spezifische Signale blockieren, die Krebszellen zur ungehemmten Teilung veranlassen. Ihre Effektivität wird mit teilweise gravierenden Nebenwirkungen erkauft, die zumeist jedoch gut beherrschbar sind.
Lebenslang Hormone Da der Körper ohne Schilddrüsenhormone nicht lebensfähig ist, müssen diese nach der Entfernung des Organs lebenslang in Tablettenform supplementiert werden. Um eine Rückkehr des Krebses auszuschließen, sind regelmäßige Kontrollen notwendig. Diese lassen sich jedoch nur durchführen, wenn das Hormon Thyreotropin (TSH) in ausreichender Menge im Blut vorhanden ist. Dieses schilddrüsenstimulierende Hormon wird aber durch die Einnahme von Schilddrüsenhormonen gedrosselt, damit es nicht zu einer erneuten Krebsbildung kommt.
Daher mussten Patienten, die nach der Entfernung ihrer Schilddrüse auf Hormonpräparate angewiesen waren, diese früher vor der Kontrolluntersuchung wochenlang absetzen – mit einschneidenden Folgen für die Lebensqualität und einem erhöhten Risiko für koronare Erkrankungen. Mittlerweile kann man kurz vor den Kontrolluntersuchungen ein künstlich hergestelltes TSH einnehmen. Dadurch müssen Patienten heute nicht mehr vorübergehend auf ihre Hormonersatztherapie verzichten.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 09/2020 ab Seite 106.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist