Coronavirus | Demokratie
GRUNDRECHTE ZU CORONA-ZEITEN
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Partys, Urlaubsreisen, Konzerte, Kundgebungen und Parteitage - alles abgesagt, verboten. Angesichts der schrecklichen Bilder, die in den vergangenen Wochen aus Krankenhäusern in Bergamo und New York zu sehen waren, sind die meisten Menschen in Deutschland immer noch bereit, diese extremen Beschränkungen ihrer Freiheiten weitgehend klaglos hinzunehmen. Doch wie lange noch? Und wie kann man eine öffentliche Debatte über die Wahrung der Grundrechte führen, wenn Versammlungen nicht erlaubt sind und der Bundestag nur im Notmodus arbeiten kann?
Aus der Opposition kommt nach der großen Einigkeit, die im März noch herrschte, jetzt zunehmend Kritik. Die Gerichte werden mit Eilanträgen von Bürgern überhäuft, die demonstrieren oder ihre Kundschaft wieder empfangen wollen.
Die vergangenen Tage haben gezeigt: Vor allem da, wo die Bundesländer stark voneinander abweichende Regeln aufstellen und wo Gewerbetreibende unterschiedlich behandelt werden, kommt Unmut auf.
Warum für Autohäuser andere Vorgaben gelten sollen als etwa für große Spielzeuggeschäfte, leuchtet vielen Menschen genauso wenig ein wie die unterschiedliche Behandlung von Möbelhäusern in verschiedenen Regionen Deutschlands. Warum dürfen fünf Menschen gleichzeitig in einen Getränkemarkt, jedoch nicht zum Gottesdienst in der Kirche?
Da große Kundgebungen aus Infektionsschutz-Gründen im Moment nicht stattfinden können, artikuliert sich die Kritik zur Zeit vor allem über die Medien und in sozialen Netzwerken. Strittigere Debatten als in der zurückliegenden verkürzten Sitzungswoche im März, als die Infektionszahlen-Kurve noch steil nach oben zeigte, sind kommende Woche auch im Bundestag zu erwarten.
"Pauschale Verbote von Versammlungen sind - auch in einer Krise - falsch", sagt der Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz. Das sahen diese Woche auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts so, die im Eilverfahren das Verbot zweier Demonstrationen in Gießen kippten. Die Stadt erlaubte die für Donnerstag und Freitag angemeldeten Kundgebungen daraufhin unter Auflagen.
Für Eva Högl, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, ist die Situation zwar schwierig, aber eindeutig: "Natürlich sind einige Grundrechte, wie etwa die Freizügigkeit oder die Versammlungsfreiheit, im Moment bis zur Unkenntlichkeit beschnitten. Das ist leider notwendig. Denn auch wenn es keine Hierarchie der Grundrechte gibt, so hat der Schutz von Leben und Gesundheit in dieser Krise doch Vorrang."
Doch auch sie findet nicht alle Entscheidungen richtig, die aus Angst vor einer Überlastung der Krankenhäuser in den vergangenen Wochen getroffen wurden. Die Juristin sagt: «Wenn man nicht mehr von Brandenburg nach Mecklenburg-Vorpommern fahren kann, dann haben wir ein Problem. Solche Formen der Abriegelung sind aus meiner Sicht kein geeignetes Mittel, um eine schnelle Ausbreitung des Virus in Deutschland zu verhindern.» Die Landesregierung in Schwerin hatte die Regelung unter anderem mit den begrenzten Kapazitäten der Krankenhäuser in Mecklenburg-Vorpommern begründet.
Högl zeigt dennoch Verständnis. Sie sagt, alle Verantwortlichen seien zu Beginn der Krise wohl auch ein bisschen suchend gewesen, um die richtigen Maßnahmen zu finden. Auch Josef Lindner, Verfassungsrechtler an der Universität Augsburg, hat den Eindruck, "dass Politiker in Verantwortung jetzt sehr unter Druck stehen und deshalb manche Verordnung auch mit heißer Nadel gestrickt wird". Er hält ein Einreiseverbot für ein Bundesland ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass von den Einreisenden eine besondere Infektionsgefahr ausgeht, für zu pauschal. Lindner sieht aber teilweise auch «Auswüchse» im Vollzug der Maßnahmen, "beispielsweise wenn Polizisten in Bayern Menschen verwehren, sich während eines Spaziergangs länger auf einer Parkbank auszuruhen".
Ob Verbote, die eigene Zweitwohnung nutzen zu dürfen, eine geeignete Maßnahme sind, bezweifelt die FDP. Generalsekretärin Linda Teuteberg hält es für wahrscheinlich, dass dies verfassungswidrig ist.
Doch sowohl für die Bürger als auch für die Opposition gilt: eine eigene Meinung bilden kann sich nur, wer alle Fakten kennt. Zum Beispiel: Wie lange kommen die Krankenhäuser noch mit der gelieferten Schutzausrüstung aus? Und wie hoch schätzen Experten die Dunkelziffer der Infizierten?
"Ein massives Defizit sehe ich bei der Transparenz der Maßnahmen", sagt Verfassungsrechtler Lindner. "Ist es die Verdoppelungsrate, die sogenannte Reproduktionszahl, wie viele Intensivbetten müssen frei sein?" Bei so massiven Einschränkungen von Grundrechten, wie sie derzeit gelten, müssten die Verantwortlichen in Bund und Länder seiner Ansicht nach die Maßstäbe für ihr Handeln konkreter benennen.
Quelle: dpa