Interview
GEFÄHRLICHER MIX
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Was genau versteht man unter „Multimorbidität“?
Multimorbidität bedeutet das Vorliegen von zwei oder mehr Erkrankungen bei einer Person. Obwohl es auch zahlreiche jüngere Patienten mit Mehrfacherkrankungen gibt, nimmt die Zahl der chronischen Erkrankungen regelhaft mit dem Alter zu. Der weit überwiegende Teil zum Beispiel der Patienten über 65 Jahren leidet an Multimorbidität. Die meisten chronischen Erkrankungen werden mit Medikamenten behandelt, daher nimmt auch die Zahl der individuell gleichzeitig einzunehmenden Arzneimittel zu. Von Multimedikation spricht man, wenn mindestens fünf Wirkstoffe gleichzeitig eingenommen werden müssen. Das ist bei 40 Prozent der über 65-Jährigen der Fall.
Warum stellt dies ein Problem dar?
Zum wird die Therapie und die Gefahr von Wechselwirkungen damit rasch größer, zum anderen ist auch zu bedenken, dass mit Zahl und Schwere der Erkrankungen auch die Empfindlichkeit der Patienten für unerwünschte Wirkungen zunimmt. Bei einer ausgeprägten Multimedikation reicht es nicht, die Therapie der einzelnen Erkrankungen individuell abzustimmen, sondern es darf der Gesamtblick auf den Patienten und die „Last” der Therapie nicht verlorengehen.
Was erforscht Ihr Institut in diesem Zusammenhang?
Wir beschäftigen uns schon lange mit Projekten zur Multimedikation und Arzneimitteltherapiesicherheit. So haben uns besonders Risiken der Multimedikation in der hausärztlichen Praxis interessiert. Bei 168 typischen Patienten stellten wir fest, dass bei 95 Prozent mehr oder weniger große Unterschiede zwischen dem, was der Hausarzt annahm und dem, was die Patienten tatsächlich einnahmen, auftraten.
Also ist schon die Übersicht, angesichts von Verordnungen anderer Fachärzte, dem, was die Patienten sich rezeptfrei dazukaufen (OTC), und auch dem Präparateaustausch in der Apotheke aufgrund der Rabattverträge, ein großes Problem. Es kam hinzu, dass wir bei 25 Prozent der Patienten Risiken einer Arzneimittelwechselwirkung, bei 23 Prozent möglicherweise unangepasste Dosierungen (z. B. an die Nierenfunktion) und bei 15 Prozent mögliche Gegenanzeigen fanden.
In dem darauf aufbauenden Projekt PRIMUM (SL01) haben wir nun in einer kontrollierten Studie untersucht, ob sich durch eine gezielte Intervention in der Hausarztpraxis die Multimedikation unter den Gesichtspunkten von Wirksamkeit und Sicherheit optimieren und priorisieren lässt. Bei dieser Maßnahme nehmen die Medizinischen Fachangestellten im Gespräch mit dem Patienten alle Medikamente auf und geben sie in ein Computerprogramm ein. Gleichzeitig fragen sie auch nach Beschwerden, die möglicherweise mit der Einnahme zusammenhängen.
Das Softwaresystem (AiD) kann automatisch Checks zum Beispiel auf Dosierung und Interaktionsrisken vornehmen. Der Arzt hat anschließend also eine Übersicht über die aktuelle Medikation und kann im Gespräch mit dem Patienten diese anpassen und sie in den Bereichen, die dem Patienten besonders wichtig sind (z. B. Schmerzkontrolle), optimieren.
Was ist die PRISCUS-Liste?
„Alt, altehrwürdig“ – das ist die lateinische Bedeutung von priscus. Die Liste behandelt ein besonderes Problem: Es gibt eine große Zahl von Arzneimitteln, bei denen im Alter die Nutzen-Risiko-Bilanz immer ungünstiger wird (z. B. das Sturzrisiko ansteigt, die eigentliche Wirkung, vielleicht Blutdrucksenkung, aber an Bedeutung abnimmt). Das sind so genannte „PIM” (potenziell inadäquate Medikamente).
International gab es schon lange solche Listen, mit PRISCUS ist eine entsprechende Liste erstmals für die Verhältnisse in Deutschland erarbeitet worden und diese gibt auch Hinweise auf nebenwirkungsärmere Alternativen. Die 83 Arzneimittel der PRISCUS-Liste sind in 15 Gruppen eingeteilt. PRISCUS ist keine Aufforderung zur Listenmedizin – schematisch alle Verordnungen umzusetzen –, sondern eine Empfehlung, die Verordnung riskanter Arzneimittel im Einzelfall genau abzuwägen (SL02).
Welche Anwendungsfehler bei der Medikamenteneinnahme treten am häufigsten auf?
Ein komplizierter Arzneimittelplan stellt sicher den Patienten und seine Angehörigen vor erhebliche Herausforderungen. Das wissen wir auch aus dem Fehlerberichtssystem unseres Instituts, www.jeder-fehler-zaehlt.de, das übrigens frei und auch für Apotheker und PTA zugänglich ist. Ein klarer, einheitlicher Medikationsplan, wie er gerade neulich vom Aktionsplan Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) empfohlen wurde (SL03), kann hier ein erster Schritt sein. Aber natürlich gibt es noch zahlreiche andere Fehlerquellen bei komplexer Medikation: mangelnde Kommunikation zwischen allen Beteiligten, Wirkstoffsubstitution usw.
Arztpraxis und Apotheke – was geht hier „schief“?
Wir haben sicher noch nicht überall eine ausreichende Kommunikationskultur zwischen den Partnern bei der Arzneimittelversorgung. Apotheker wissen bei ihren „Stammkunden” oft genauer, was diese einnehmen, sehen auch bestimmte Anwendungsrisiken, andererseits fehlen ihnen wichtige medizinische Informationen über Patient und Therapie. Bei Hausärzten ist das umgekehrt.
Kommunikation auf allen Ebenen wäre notwendig, über Mängel von Rezepten oder Vorschläge des Apothekers an den Arzt, umgekehrt aber auch ein regelmäßiges Gespräch zwischen beiden (z. B. in gemeinsamen Qualitätszirkeln) über abgestimmte Therapiekonzepte, gerade bei Multimedikation. Es wird aber wahrscheinlich nicht ein Patentrezept geben; wichtig ist, was sich in der regionalen Nähe entwickelt.
Wie könnte die Zusammenarbeit zwischen beiden verbessert werden beziehungsweise ist die Bereitschaft dazu vorhanden?
Der Wille oder die Einsicht in die Notwendigkeit, ein so komplexes Verordnungsgeschehen gemeinsam zu meistern, nimmt sicher zu. Kooperation findet schon in zahlreichen Gremien zum Beispiel des Aktionsbündnisses Patientensicherheit oder des Aktionsplans AMTS statt. Es muss auch mehr über Fehlermöglichkeiten und deren Prävention, gesprochen werden, damit eine gewisse Transparenz, was jeder der Partner leisten kann, erzeugt wird. Auch relativ einfache Hilfsmittel, wie der gemeinsam zu bearbeitende Medikationsplan, wären ein Ansatz.
Wo sehen Sie die PTA in diesem Prozess?
Die PTA hat in der Apotheke einen engen Kundenkontakt und kann mit den Patienten in spezifischer Weise kommunizieren. Sie sollte sich in Fortbildung und täglicher Praxis über Risiken und Fehlerquellen bei der Arzneimittelanwendung informieren, denn oftmals sieht sie am besten, wenn im Team in der täglichen Routine etwas schief läuft.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht im Gesundheitssystem/politisch noch verändern, um die Arzneimitteltherapiesicherheit bei Älteren zu gewährleisten?
Auch im gesamten Gesundheitssystem müssen die Rahmenbedingungen stimmen und die sichere und wirksame Arzneimittelversorgung gerade bei Multimedikation muss als Leistung anerkannt werden, die auch etwas kostet. Die Landesgesundheitskonferenz Nordrhein-Westfalen hat hier gerade einen ersten Schritt getan (SL04).
VITA
Dipl.Soz. Martin Beyer, geboren 1957, Medizinsoziologe, ist nach Tätigkeiten an der Medizinischen Hochschule Hannover und der Christian Albrechts-Universität Kiel seit 2004 Arbeitsbereichsleiter „Qualitätsförderung und Konzeptentwicklung” sowie „Patientensicherheit” am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Darüber hinaus ist er stellvertretender Sprecher der Ständigen Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin und Mitglied der Arbeitsgruppe Arzneimitteltherapiesicherheit im Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 06/13 ab Seite 102.
Das Interview führte Dr. Petra Kreuter, Redaktion