Berühmte Apotheker
DER ANAESTHESINENTDECKER
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Am 11. November 1859 als jüngstes von sieben Kindern des Fabrikanten Carl Ritsert (1810 bis 1859) und dessen Ehefrau Johanna Ritsert (1823 bis 1899), geborene Silbereisen, wurde Eduard Ritsert in Darmstadt geboren. Als Fabrikantensohn hatte er sicherlich finanziell nicht die schlechteste Kindheit, andererseits hatte er nie Gelegenheit seinen Vater – aufgrund dessen Tod in seinem Geburtsjahr – kennenzulernen.
Konservative Apotheker-Ausbildung Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die allesamt direkt den Kaufmanns-Beruf ergriffen, wandte Eduard sich den Naturwissenschaften zu. Er besuchte zunächst das humanistische Gymnasium in Darmstadt bis zur Obersekunda und begann anschließend mit 17 Jahren seine pharmazeutische Ausbildung in der Mohren-Apotheke in Eberbach am Neckar bei Dr. Theodor Neumayer. Nach erfolgreicher solider konservativer Ausbildung ging Eduard Ritsert zunächst drei Jahre, von 1879 bis 1882, auf Wanderschaft als Apothekerassistent.
Stationen in der Schweiz (Basel, Zürich), später in Deutschland (Balingen, Hamburg) sind bekannt. Anschließend entschloss er sich zum Pharmazie-Studium in Gießen, das er zwei Jahre später erfolgreich mit dem Staatsexamen abschloss. Es folgte eine einjährige Militärzeit, die ihn wieder in seine Heimatstadt Darmstadt führte, wo er nebenher noch beim Chemiker Alfred Einhorn (1867 bis 1917) am chemischen Institut des Polytechnikums studierte, das präparativ-synthetische Arbeiten kennenlernte und Kenntnisse zu Struktur-Wirkungsbeziehungen erwarb.
Großer Wissensdurst 1885 wurde Ritsert für ein Jahr Mitarbeiter von Apotheker Conrad in Aachen, anschließend ging er für sieben Monate nach London, wo er in der deutschen Apotheke ein dem Lanolin ähnliches Wollfett entwickelte. Überhaupt experimentierte Ritsert als Folge seiner intensiven Arbeits- und „Lehrzeit“ viel im Labor, synthetisierte, entdeckte dabei neue Verfahrensweisen, die er sich patentieren ließ und auch zeitnah publizierte. 1887 kehrte er nach Eberbach zurück, wirkte ein Vierteljahr in Heidelberg als Apothekerassistent in der Apotheke des Akademischen Krankenhauses, wo er eine neue Einbettungsmasse für anatomische Präparate nach Auftrag durch die dortige Pathologie entwickelte (1888 im „Archiv der Pharmazie“ veröffentlicht).
1888 folgte als nächste Station die Rosen-Apotheke in Offenbach am Main, wo ihm der größte Synthese-Erfolg seiner Laufbahn gelang: die Anaesthesin (=Benzocain)-Entwicklung – zunächst jedoch noch eher gedanklich. Denn Ritsert war immer auf der Suche nach Lösungen. Ein Problem damals: Das seit 1884 als Lokalanästhetikum eingesetzte Kokain besaß starke Nebenwirkungen. Man suchte nach einem einfach herzustellenden synthetischen Ersatzmittel mit weniger Nebenwirkungen.
Ritsert berichtete selbst im Rückblick 1925 über seine letztlich bedeutendste wissenschaftliche Leistung: „Im Jahre 1888 befasste ich mich als Gehilfe der Rosenapotheke in Offenbach a. M. in den sehr knapp bemessenen freien Minuten neben Rezeptur und Handverkauf mit Arbeiten über die damals neuen Arzneimittel: das Acetanilid und das Phenacetin. Es wurden Methoden zur Bestimmung ihrer Identität und Reinheit ausgearbeitet, welche heute noch maßgebend im Deutschen Arzneibuch sind. Im besonderen wurde auch nachgewiesen, daß das damalige arzneilich verwendete Acetanilid (Antifebrin) in einem Schmelzpunkte von 112° ein unreines Produkt war, und daß sich durch Oxidation mit Permanganat der Schmelzpunkt auf 114° erhöhen ließ. Diese Reinigungsmethode wurde alsbald von der Großindustrie aufgenommen und das reine Acetanilid als ‚nach E. Ritsert hergestellt‘ in den Handel gebracht.“
Doch die Reinigungsmethoden beseitigten die auch vom Acetanilid ausgehenden unangenehmen Nebenwirkungen nicht. Ritsert gelangte zu dem Schluss, „dass bei Acetanilid die größere Giftigkeit der Muttersubstanz des Phenacetins – des para-Aminophenols – die Ursache der unangenehmen Nebenwirkungen war.“ Er überlegte, dass acetylierte para-Aminobenzoesäure ungiftiger sein müsse. Die praktische Umsetzung dieser Hypothese und der Beweis der Richtigkeit seiner theoretischen Überlegungen erfolgte jedoch erst zwei Jahre später in Berlin.
Mit Anaesthesin zum Erfolg Dorthin verschlug es ihn als wissenschaftlichen Schriftleiter der „Pharmazeutischen Zeitung“, nachdem er zuvor erneut an der Universität Gießen Studien, insbesondere in Bakteriologie und Hygiene, absolviert hatte. Mit einer Arbeit über „Untersuchungen über das Ranzigwerden von Fetten“ promovierte Ritsert 1890 in Berlin bei Alexander Tschirch (1856 bis 1939). Am Moabiter Krankenhaus hatte er Gelegenheit in den Nachmittagsstunden zusätzlich im Laboratorium zu arbeiten, para-Aminobenzoesäure-ethylester (Benzocain) zu synthetisieren, die schönen Kristalle an sich und an Kaninchen auszuprobieren – und letztlich als weitgehend untoxisches Lokalanästhetikum zu identifizieren. Ritsert nannte die neue Substanz „Anaesthesin“.
Er stellte seine Entdeckung dem Rostocker Pharmakologen Robert Kobert (1854 bis 1918) vor, der ihn hierzu beglückwünschte. Paul Ehrlich (1854 bis 1915) konnte ihm in seinem Labor an der Charité die nicht vorhandene Toxizität bestätigen. Doch die Höchster Farbwerke, denen Ritsert seine Entdeckung anbot, waren der Meinung, die neue Substanz könne Kokain, da nicht wasserlöslich, nicht vom Markt verdrängen, und lehnten Ritserts Angebot ab. Zehn Jahre dümpelte Anaesthesin in den Archiven der Farbwerke Hoechst. Unterdessen heiratete Ritsert 1891 Elisabeth Schleußner (1865 bis 1904), Tochter des Frankfurter Apothekers und Fabrikanten Dr. Carl Schleußner (1830 bis 1891) und übernahm nach dessen Erkrankung zusammen mit seinen Schwägern Friedrich und Carl Schleußner die Firma des Schwiegervaters.
Er gab jedoch die Hoffnung, Anaesthesin sei ein herausragender Fortschritt, nicht auf, ließ die Substanz pharmakologisch prüfen, klinisch erproben – und die Ergebnisse, die in der Klinischen Wochenschrift 1902 publiziert wurden, waren tatsächlich der Beginn des Siegeszuges des Anaesthesins. Ritsert selbst gründete noch 1901 ein chemisches Laboratorium in Frankfurt am Main, und aus diesem ging 1903 eine Fabrik für chemisch-pharmazeutische Präparate hervor. Denn er entschloss sich 1902 selbst zur Produktion des Anäesthesins, vor allem als Oberflächenanästhetikum, entwickelte parallel hierzu 1903 aber noch das wasserlösliche Kokainsubstitut „Subcutin“.
Doch während sich Anästhesin erfolgreich in der Therapie etablierte und schon im 1910 erschienenen DAB 5 zu finden ist, konnte sich „Subcutin“ gegenüber Kokain nicht durchsetzen. Fakt ist aber: Ritserts Entdeckung legte den Grundstein für die Entwicklung weiterer Lokalanästhetika, die das mit hohem Suchtpotential ausgestattete Kokain ersetzten. Ebenso legte sie letztlich den Grundstein für die bis heute nach ihm benannte Fabrik Dr. Ritsert Pharma.
Im Laufe seiner weiteren Forscher-Karriere meldete Ritsert noch zahlreiche weitere Patente an, nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland (zum Beispiel Vereinigte Staaten, Europa). 1944 wurde die Fabrik in Frankfurt zerstört, der 84-jährige Ritsert verschüttet. Er überlebte aber. Am 6. Januar 1946 verstarb Eduard Ritsert jedoch im Alter von 86 Jahren in Eichberg vor Erbach (Rheingau). Seine Nachfahren, die schon 1928 in das Unternehmen mit einstiegen, führen bis heute erfolgreich die Fabrik, die 1964 nach Eberbach (Neckar) verlegt wurde, als Familienunternehmen weiter.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 07/18 ab Seite 82.
Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin und Fachjournalistin