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Kolumne | Holger Schulze

DAS GROSSE GANZE

Wir nehmen die Welt nicht wahr, wie sie ist, sondern wie unser Gehirn sie auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden sensorischen Informationen interpretiert.

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Kennen Sie das auch? Dxx xrstxxnlxche Fxhxgkxxt xnsxrxs Gxhxrns, Dxngx zx xrgxnzen, dxx xxgxntlxch gxr nxcht dx sxnd? Vermutlich haben Sie beim Lesen des vorangegangenen Satzes zunächst gestutzt, doch schnell dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass hier schlicht alle Vokale durch „x“ als Platzhalter ersetzt wurden und Sie konnten den Satz verstehen. Offensichtlich reichte Ihrem Gehirn die Abfolge der Konsonanten, um die ansonsten eigentlich sinnlose Zeichenfolge richtig dekodieren zu können. Tatsächlich funktioniert das Ganze sogar auch dann, wnn d Pltzhltr wgglssn wrdn nd d Vkl kmpltt fhln!

Während es sich hier bereits um eine höhere kognitive Fähigkeit handelt, bei der das Gehirn die Worte auf der Grundlage seiner Erfahrung um deren bildliche Erscheinung und inhaltlichen Kontext im Rahmen unserer Sprache erkennen kann, auch wenn sie nur unvollständig wiedergegeben sind, funktionieren solche Ergänzungen auch schon auf rein sensorischer Ebene.

Ein Beispiel hierfür zeigt der „blinde Fleck“ unserer Retina: Dieser bezeichnet die Stelle, an der der Sehnerv aus dem Auge austritt und an der sich daher keine Sehzellen befinden. Folglich werden aus dem entsprechenden Bereich des Gesichtsfeldes keine Informationen ins Gehirn übertragen. Dennoch nehmen wir an dieser Stelle nicht etwa Nichts wahr, sondern haben den Eindruck eines durchgehenden Bildes, einfach deshalb, weil unser Gehirn auch hier die fehlenden Bildanteile rekonstruiert. Dass dabei durchaus auch mal Detailinformationen verloren gehen können, können Sie anhand der kleinen Grafik oben links auf dieser Seite selbst ausprobieren: Halten Sie sich das linke Auge zu und betrachten Sie das Kreuz vor dem gelben Kästchenhintergrund.

Die Sinne müssen Sinn machen!


Sie können rechts das PTA-Logo erkennen, aber wenn Sie nun langsam das Bild näher ans Gesicht führen, so verschwindet das Logo in dem Moment, in dem es in den Bereich des blinden Flecks fällt. Was Sie dann wahrnehmen, ist aber nicht etwa ein „schwarzes Loch“, sondern das nun durchgehende Kästchenmuster, welches das Gehirn auf der Grundlage des allgemeinen Hintergrundes rekonstruiert, sodass die Illusion einer durchgehenden, einheitlichen Wahrnehmung erhalten bleibt. Wahrnehmung hat also immer etwas mit Vorerfahrung und Erwartung zu tun: Auf der einen Seite filtert das Gehirn aus der Fülle an ständig auf es einprasselnden Informationen diejenigen heraus, die es in diesem Moment als relevant betrachtet, auf der anderen Seite fügt es aber auch Details hinzu, um eine sinnvolle Wahrnehmung sicherzustellen.

Während das im Falle des blinden Flecks auf der Anatomie des Sehsystems beruht und daher bei jedem Menschen gleich ist, kann das individuelle Erlebnis beim Lesen der obigen Textbeispiele sehr unterschiedlich ausfallen, in Abhängigkeit der jeweiligen Erfahrung des Lesers mit der betreffenden Sprache oder seinen Lesegewohnheiten. Drum nimmt jeder die Welt auch ein bisschen anders wahr, aber niemand so vollständig, wie sie tatsächlich ist – aber das ist Ihnen sicher auch schon aufgefallen …

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/18 auf Seite 12.

Zur Person
Prof. Dr. Schulze, Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg, sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de 

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