Der Apothekenkrimi
DAS FÜNFTE GEBOT – TEIL 3
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Annette probierte geistesabwesend den Securpharm-Scanner aus. Wenn gleich die Apothekentür aufging, musste jeder Handgriff sitzen. Die Software, die der Fälschungssicherheit von Medikamenten diente, war vor zwei Wochen installiert worden. Jede deutsche Apotheke war nun verpflichtet, vor der Abgabe eines Medikamentes dessen aufgedruckten Sicherheitscode zu prüfen. Der Computer vermeldete dann mit einem grünen Männchen, dass alles in Ordnung war. Rote Männchen bedeuteten, dass irgendwas nicht stimmte. Da aber einige Packungen noch gar keinen aufgedruckten Code vorweisen konnten, war das Chaos vorprogrammiert. Die PTA seufzte.
Eigentlich sollte dieses Thema doch ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie kannte keine Apotheke, unter deren Besetzung sich heute nicht eine gewisse Aufregung breitgemacht hatte – keine außer der ihren. Nur in der Bärenbach-Offizin fristete der nagelneue Sicherheitsscanner sozusagen ein Schattendasein. Rieke sortierte nervös eine Hunderter-Lieferung Nasenspray und Britta, die Apothekerin, schlich in der Nähe des Telefons auf und ab. Sie hatte wieder diesen unsteten Blick. „Komisch, dass Em nicht anruft“, brummte sie jetzt, als spräche sie zu sich selbst. Annette starrte aus dem Schaufenster, ohne etwas zu sehen. Sie dachte an die junge Journalistin aus Frankfurt, die so ausgezeichnete Verbindungen zur Polizei und zur Gerichtsmedizin besaß.
Em hatte schon einmal zusammen mit Britta ein Rätsel gelöst: In „Die spanische Fliege“ war sie durch den Hinweis eines Pathologen auf das Mordmotiv gekommen. „Es ist doch noch nicht einmal halb neun“, antwortete Annette ihrer Chefin, die auch ihre Freundin war. „Du meinst, die deutsche Beamtenschaft ist noch nicht aufgestanden?“ versuchte Britta zu witzeln. „Ich meine…-„ begann Annette. „Ach – vielleicht ist es ja gar kein Fall für die Polizei..“ Sie dachte an den schmerzverkrümmten Körper von Hajo, dem Gemeinderatsmitglied. Nach dem „Gottesdienst für Atheisten“ auf dem Gelände der Grimmburg, der schon genug Medieninteresse hervorgerufen hatte, nun auch noch das: Ambulanzwagen mit blitzenden Blaulichtern fuhren vor, Sanitäter mit schwerem Gerät stürmten in das Pfarrhaus, während eine vor Schreck erstarrte Festgemeinde mit dem Sektglas in der Hand zuschaute.
Das Allerschlimmste war aber, dass Hajo plötzlich aufhörte, vor Schmerzen zu schreien. Er verstummte vollständig. In dieser gespenstischen Stille packte die Sanitäter eine kontrollierte Hektik. Fünf Minuten später wurde der intubierte Mann auf einer Trage unter goldener Thermodecke in das Rettungsfahrzeug geschoben, das schließlich mit Licht und Sirene den Burghof verließ. Alles war so schnell gegangen, dass keiner so recht begriff, was eigentlich geschehen war. Das Telefon meldete sich und orgelte seine unpassend fröhliche Melodie in auf- und abschwellenden Klingelbögen. Britta riss es von der Ladestation, blickte kurz aufs Display und fragte dann abgehackt in den Hörer: „Hast du was rausgekriegt? Warte, ich stell mal auf Lautsprecher, wir haben noch nicht auf.“
Em klang atemlos, als sei sie ein Stück gerannt. „Ich hab ‘ne gute und ‘ne schlechte Nachricht. Erstens: Er lebt. Noch. Das weiß ich deshalb, weil zweitens die Gerichtsmedizin nicht zuständig ist. Im Krankenhaus versuchen sie rauszukriegen, was er intus hat. Mein Kontakt in der Uniklinik ist leider in Urlaub. Kannst du da was machen, Britta? Du hast auch das ganze Wochenende Zeit. Also, bis Sonntagmittag, da muss ich für die Print-Ausgabe abgeben. Was hat er genommen?“ Britta suchte Augenkontakt mit Annette. „Ich kümmer‘ mich drum. Versprochen.“ Nachdem sie das Gespräch weggedrückt hatte, wählte sie erneut. „Hallo, Schatz“, sprach Britta in den Hörer. „Würdest du mir bitte einen Gefallen tun?“ Da der Lautsprecher noch an war, hörten die anderen die verschlafene Stimme des Robert von der Leyden, Kardiologe und Ehemann von Britta, der Apothekerin.
„Ja, ich weiß, dass du letzte Nacht Bereitschaftsdienst hattest“, antwortete sie mit einem ganz kleinen ungeduldigen Vibrieren im Tonfall. „Tut mir auch leid, aber – du hast doch da diesen Studienkollegen in der Frankfurter Uniklinik. Meinst du, du könntest ihn mal was fragen?“ Und dann ging die verschnörkelte Holztür der Apotheke auf und es war gut zu tun. So viel Kundschaft reihte sich vor den Kassen, dass Britta und Annette kaum zum Atemholen kamen und selbst Rieke, die PKA, nach vorn musste, obwohl sie das gar nicht durfte. Sie reichte die Kunden mit Rezept weiter an die anderen und verkaufte OTC-Präparate, darauf hatten sich die drei geeinigt. (Jedesmal, wenn Britta in solchen Fällen hinterher die Umsatzzahlen überprüfte, hatte die Apotheke ein deutliches Plus an Hustenbonbons, Lakritzen und Vitamin C-Brausetabletten. Aber das nur am Rande).
Als um Schlag eins die Eingangstür wieder schloss, bewies das Team sein Eingespieltsein: Rieke jagte die Bestellungen für die nächste Woche raus, Annette machte fix die Kasse und Britta rannte zum Imbiss, um für die ganze Mannschaft Chicken Nuggets mit süßsaurer Soße zu holen. Das war so üblich, wenn man Samstagsdienst hatte. Und während die Damen im Nachtdienstzimmer ins Hühnerfleisch bissen, hörten die drei auch schon die Seitentür. Das konnte nur Robert sein. Der hatte nämlich einen Schlüssel zur Apotheke. Der Arzt sah in der Tat ein wenig übernächtigt aus, brachte es aber wie immer fertig, wie aus dem Ei gepellt dazustehen: mit gebügelten Chinos, blank geputzten Schuhen und farblich abgestimmtem Jackett. Nur das Hemd stand am Kragen zwei Knöpfe weit offen; das war für Robert von der Leyden fast schon verwegen. „Guten Appetit“, sagte er. „Krieg ich auch eins?“
Britta klaubte eine vierte Packung von ihrem Schreibtisch. „Ich hab dir natürlich welche mitgebracht. Hast du was rausbekommen?“ „Jawohl“, sagte Robert, öffnete die Pappschachtel und biss einmal herzhaft in die Hühnerpanade. „Also: Euer Hajo ist leider noch in kritischem Zustand. Er hat nämlich ungefähr eine halbe Flasche Colchicin geschluckt.“ Britta und Annette hörten auf zu kauen, schauten sich an und riefen etwas undeutlich: „Eine große?“ Robert nickte bekräftigend. „So ganz genau wissen die Kollegen noch nicht, wieviel er genommen hat, aber auf jeden Fall eine unbekömmliche Menge. Ihr wisst, was das heißt: Zuerst versucht der Körper, das Zeug loszuwerden – Erbrechen, Durchfall undsoweiter. Dann schießt der Blutdruck in die Höhe, es gibt eine Azidose – und so nach und nach beginnen die Organe zu versagen.“ „Colchicin?“ fragte Rieke.
„Ist das nicht das Gift der Herbstzeitlosen?“ „Ja“, sagte Robert. „Man setzt es zur Behandlung von akuten Gichtanfällen ein. Da es aber nur eine geringe therapeutische Breite besitzt, ist das Mittel eher zweite Wahl. Colchicin ist sehr wirksam, aber man kann sich auch leicht mal mit der Dosis vertun. Wie man sieht.“ „Hajo hatte vielleicht ein bisschen viel Cholesterin im Blut, aber auf keinen Fall Gicht“, sagte Annette. „Ist dir jemand bekannt, der…“ Annette unterbrach Britta: „Aber Willi, der Gemeinderatsvorsitzende, der leidet unter Gicht. Und wie! Und er hat alles gehasst, was mit dem Reverend aus Amerika sympathisierte.“ „Das ist ja wohl ein bisschen zu einfach“, bemerkte Britta, aber ihre Stimme zitterte. „Sowas Bestialisches…“ „Gibt es denn kein Gegengift oder wie das heißt?“ fragte Rieke. „Es gibt kein Antidot“, bekräftige Robert mit einem Nicken.
„Man kann nur die Symptome behandeln.“ „Dann wollen wir hoffen, dass Hajo es schafft“, sagte Annette leise. Eine Woche später saßen Annette und Frido am Frühstückstisch der Breckles im Pfarrhaus. Die Stimmung war ziemlich verhagelt und selbst Steve Willow, der fröhliche Reverend, schaute düster auf die Karamell-Muffins vor sich. Bestens Indiz seiner Befindlichkeit war vielleicht das Glas Cola vor ihm. Cola light. Ohne alles. „Nun nimm doch wenigstens eins“, sagte Lisa Breckle. „Du magst die doch so gern.“ Steve guckte trübselig. „Ich hab jetzt, for god’s sake, ein Problem mit sugar.“ „Kann ich verstehen“, sagte die Pfarrersfrau. „Wenn isch das richtig verstanden habe, hat der viele Zucker den bitteren Geschmack vom Colchicin überdeckt?“ fragte er. „Ja, richtig“, sagte Annette. „Und ist es auch richtig, dass der… Cocktail eigentlich für mich gedacht war?“ Keiner sagte was.
Schließlich räusperte sich Tibor Breckle. „Das stimmt wohl.“ „Was musst du von uns denken“, sagte Lisa matt. „Jeder würde Verständis dafür haben, wenn du heute den Gottesdienst ausfallen lässt. Also, falls es dir psychisch nicht so gut geht“, fügte Tibor hinzu. Steve schüttelte den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Ich muss ein paar Worte dazu sprechen. Sonst denken die alle, ich fürchte mich.“ Die Getrudiskapelle war, wie nicht anders zu erwarten, gesteckt voll. Gemeindemitglieder standen an den Eingängen und regelten den Besucherstrom. Diesmal waren keine Bildschirme auf dem Burghof aufgebaut und auch Fernsehkameras sowie Tonaufnahmen hatte man sich verbeten. Stattdessen sah man eine Anzahl von Journalisten mit dem guten alten Notizblock auf den Knien in den Bänken sitzen.
Nachdem Tibor die Gemeinde begrüßt hatte, trat Steve vor, auch heute in einen schlichten schwarzen Rollkragenpullover mit schwarzer Hose gekleidet. Er ließ die Arme hängen und er schwieg eine Weile – so lange, bis die Stille fast schmerzhaft wurde. „Sehen Sie –„ begann er schließlich – „ich bin gekommen, um Ihnen eine neue Form des Glaubens zu bringen. Eine freiwillige Form des Glaubens. Ich wollte Ihnen nahebringen, was Gott auch ist. Ich wollte Ihnen sagen, dass es keine alttestamentarischen Strafen gibt, dass viele der alten Legenden in Ihrem Wahrheitsgehalt sehr fragwürdig sind – doch dass der Kern dieser Botschaft es wert ist, einmal angeschaut zu werden.“ In der Kapelle war es so still, dass man das Geraschel der Mäuse im Gebälk hörte.
„Und, wissen Sie, ich wollte Ihnen zeigen, dass Sie alle glauben, ohne es zu wissen. Ihr braucht euch nicht zu bemühen, ihr habt es bereits verinnerlicht. Ihr alle handelt nach den Geboten, unsere Kultur ist darauf aufgebaut. Und ich habe immer geglaubt, ein paar dieser Gebote sind so stark, dass sie einem Tabu gleichen.“ Steve faltete die Hände. Er tat es unbewusst. Er sieht aus wie ein verwirrtes, verletztes Kind, dachte Annette. Er wird doch nicht…. „Du. Darfst. Nicht. Töten.“ Der amerikanische Geistliche sah aus, als ob er gleich weinen würde. „Und nun musste ich erkennen, dass ich gar nichts weiß. Vielleicht… I’m on the wood way…“ Hilfe, dachte Annette. Und wenn sich Tibor Breckle nicht neben seinen Freund gestellt hätte, wäre sie aufgestanden und hätte ihm geholfen.
Tibor legte den Arm um des Reverends Schultern und sagte mit fester Stimme: „Nein, du bist nicht auf dem Holzweg. Deine Geschichte, die Geschichte, die dir hier widerfahren ist, hat etwas von den biblischen Dimensionen des Jona. Du erinnerst dich? Das war der mit dem Walfisch. Nur weil ein Gebot gebrochen wird, heißt das nicht, dass es nicht gerechtfertigt ist – und dass es nicht wirkt.“ Tibor schwieg ein wenig und ließ den Mann neben sich seine Fassung wiedergewinnen. „Hier hat jemand zur Selbstjustiz gegriffen. Wie Sie alle aus der Presse entnommen haben, wurde die Ehefrau unseres Gemeinderatsvorsitzenden überführt, einen tödlichen Cocktail angemischt zu haben – weil sie ihren Mann nicht mehr zornig sehen wollte, so hat sie es ausgedrückt.
Seinen Hass auf dich hat sie zu ihrem eigenen gemacht. Natürlich ist das völlig übersteigert. Steve: Es ist nicht normal. Niemand bringt in unserer Gemeinde Menschen um, nur weil ihre Geisteshaltung zur Diskussion auffordert, weil sie Kritikpunkte bieten und vielleicht ein neues, anderes Weltbild. Das darfst du nicht denken. Es ist die entgleiste Tat eines entgleisten Menschen. Dieses Geschehnis sollte dir eher Ansporn sein: Jetzt erst recht! Vielleicht bist du derjenige, der den kirchenfernen Menschen unter uns neue Impulse gegeben hat. Ich lade dich hiermit ein, im Sommer bei uns einen Workshop zu veranstalten. Wir wollen in Ruhe miteinander reden, ohne die ganze Aufregung…“
Annette, der die Augen feucht geworden waren wegen dieses leidenschaftlichen Appells, hörte ein leises Rauschen, das langsam lauter wurde, das aus Knistern und Flüstern entstand: Die Kirchengemeinde klatschte. Ziemlich laut sogar. „Siehst du.“ Tibor klopfte dem Reverend auf die Schulter. „Now it’s your turn.“ Steve schaute sich um, sah in die freundlichen und interessierten Gesichter rings um ihn herum und langsam stahl sich sein altes Lächeln wieder in seine Züge und das Leuchten in seine Augen. Als das Klatschen abebbte, sagte er einfach: „Thank you.“ Und nachdem das aufbrandende Gemurmel sich wieder legte, fügte er hinzu: „Ich komme gern.“ „Wisst ihr, was das Schärfste ist?“ fragte Annette. Sie saß mit Britta, Robert, Frido und dem Pfarrersehepaar auf der Terrasse; alle genossen die ersten Frühlingssonnenstrahlen.
„Es hat sich ein Restaurator aus Stuttgart gemeldet, der unsere Kapelle kostenlos wiederherstellen möchte. Wir, beziehungsweise das Landesamt, soll nur die Materialien bereitstellen. Wir hätten diese ganze Spendenaktion gar nicht gebraucht.“ „Na, da bin ich doch anderer Ansicht“, bemerkte Robert. „Aber vielleicht nicht in dieser Dramatik.“ „Ist euer Hajo eigentlich wieder ganz auf dem Damm?“ fragte Britta. „Fast. Er wird wohl Einschränkungen der Nierenfunktion zurückbehalten und man muss das im Auge behalten – vielleicht droht auch die Dialyse – aber er hat es immerhin überlebt. Es war allerdings haarscharf.“, sagte der Pfarrer. „Allerdings“, sagte Annette. „Ich hab auch Neuigkeiten“, meldete sich Britta.
„Gestern bekam ich die offizielle Nachricht, dass die 100-Milliliter-Flasche Colchicin-Lösung aus dem Handel genommen wird. In Zukunft ist weniger als die Hälfte drin. Damit kann man sich nicht mehr umbringen.“ „Gottseidank“, bemerkte Lisa Breckle. „Ich werde nie verstehen, dass man Arzneimittel so zurechtmixt, dass man davon sterben kann.“ „Och…“ sagte Britta. „Dafür sind wir ja da.“, ergänzte Annette. „Wir passen auf und sagen es unseren Kunden.“ „Ein Hoch auf die Apotheken und ihre Mitarbeiter!“ blinzelte Tibor Breckle in die Märzsonne und hob die Kaffeetasse. „Die Dosis macht halt das Gift“, bemerkte Britta gemütlich und schaute den Pfarrer forschend an. „Wie wahr!“ sagte der. „Chapeau!“
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 03/19 ab Seite 100.
Was bisher geschah
Die Getrudiskapelle auf der Grimmburg muss dringend saniert werden. Annette, PTA in der Bärenbach-Apotheke, und ihr Mann Frido wissen auch nicht, woher sie das Geld nehmen sollen. Da hat der pfiffige Pfarrer der Gemeinde eine prima Idee: Er fragt den jungen charismatischen Steve Willow, Reverend aus Amerika und Freund der Familie, ob er einen „Gottesdienst für Atheisten“ halten will. Der Plan geht auf. Doch er gefällt nicht jedem, vor allem nicht dem Gemeinderatsvorsitzenden. Nachdem sich hunderte von Menschen versammelt haben, um dem Geistlichen aus Übersee zu lauschen, geht es einem von ihnen hinterher so schlecht, dass der Rettungsdienst gerufen werden muss. Eine Vergiftung, tippt Annette, und zwar eine schwere …