Taschenuhr © Andrey Armyagov  /123rf.com
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Repetitorium

CHRONOPHARMAZIE – TEIL 3

Viele Arzneimittel wirken je nach Tageszeit unterschiedlich. Was ist bei allergischen Reaktionen, Schmerztherapie, Blutverdünnern, Medikamenten gegen Hypertonie, Cholesterinsenkern oder Benzodiazepinen zu beachten?

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Da das physiologisch wichtigste Glukokortikoid, Kortisol, einer 24-Stunden-Ryhthmik unterliegt, ist es nicht erstaunlich, dass auch allergische Reaktionen beim Menschen, vor allem auf Haut und Schleimhaut eine Tagesrhythmik aufweisen. So ist das Ausmaß der zellulär vermittelten Tuberkulinreaktion am Morgen stärker als in der Nacht und damit phasengleich zum dem Rhythmus der Kortisolkonzentration.

H1-Antagonisten zur Allergiebehandlung und Prophylaxe einer allergischen Rhinitis zeigen tatsächlich die beste Wirkung, wenn sie abends eingenommen werden. Hingegen ist die allergische Reaktion auf eine Injektion von Histamin in die Haut phaseninvers. Festgestellt werden konnte, dass H1-Antihistaminika wie Clemastin, Terfenadin oder Cyproheptadin die Hautreaktion auf Histamin in Abhängigkeit von der Tageszeit in unterschiedlichem Maße hemmen. Eine optimale antihistaminische Wirkung über einen 24-Stunden-Zeitraum würde erreicht, wenn eine größere Dosis des Anthistaminikums morgens und eine kleinere Dosis abends eingenommen würde.

Da aber selbst bei der zweiten und dritten Generation der Anthistaminika so mancher Anwender noch über zentral-sedierende Effekte der Wirkstoffe klagt, wird generell die abendliche Applikation empfohlen.

Schmerzmittel und Lokalanästhetika Der Mensch empfindet den gleichen Schmerzreiz in der Nacht wesentlich stärker als am Tag. Am geringsten ist das Schmerzempfinden in den frühen Nachmittagsstunden, etwa um 15 Uhr. Ursache auch hier: Die Konzentration und Ausschüttung von endogenen schmerzhemmenden Stoffen, also Endorphinen und Enkephalinen, unterliegt zirkadianen Rhythmen. Somit lässt sich nachvollziehen, warum beispielsweise Zahnschmerzen häufig ausgerechnet in den späten Abend- beziehungsweise frühen Morgenstunden auftreten.

Es ist daher empfehlenswert, Zahnarzttermine am besten für den frühen Nachmittag zu vereinbaren. Nicht nur das Schmerzempfinden ist niedriger. Untersuchungen konnten sogar zeigen, dass die lokalanästhetische Wirkung von Lidocain am frühen Morgen verabreicht nur zwölf Minuten anhält, die gleiche Dosis am Nachmittag gegeben aber dreifach länger wirkt.

Auch bei Opioiden zeigt sich am späten Nachmittag ein Maximum der analgetischen Wirkung, während diese in den frühen Morgenstunden am geringsten ist. Insgesamt sind die Anwendungsgebiete von Analgetika natürlich sehr vielfältig. Der Einnahmezeitpunkt ist zum einen abhängig von der Substanz, zum anderen aber auch davon, wann der Schmerz auftritt. Rheumakranke (rheumatoide Arthritis) klagen vor allem morgens über Schmerzen, Gelenksteifigkeit und Schwellungen. Im Laufe des Tages bessern sich diese Beschwerden spontan.

»Es scheint – gerade bei Zytostatika – oftmals entscheidend zu sein, welcher Wirkstoff wann eingesetzt wird.«

Aufgrund der bisherigen Datenlage sollten nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID, non-steroidal anti-inflammatory drugs) bei dieser Krankheit deshalb abends eingenommen werden, um die frühmorgendlichen Krankheitssymptome rechtzeitig zu verbessern und die unterwünschten Wirkungen zu vermindern.

Arthrosepatienten (Osteoarthritis) leiden hingegen oft erst nach Belastungen unter Gelenkschmerzen, also eher nachmittags oder abends. Bei ihnen empfiehlt sich die Medikamenteneinnahme mehrere Stunden vor dem üblichen Schmerzbeginn. Berücksichtigen Betroffene diese Einnahmehinweise, kann die Wirkstoffdosis häufig verringert und die Dauer der schmerzfreien Intervalle verlängert werden. Unter dem Gesichtspunkt, dass es zu möglichst wenig unerwünschten Nebenwirkungen kommen soll, ist die abendliche Einnahme von NSAID (etwa von Ibuprofen, Acetylsalicylsäure) allerdings am sinnvollsten.

Die nichtsteroidalen Antirheumatika greifen in die Prostaglandinsynthese ein und haben dadurch einen antientzündlichen und schmerzstillenden Effekt. Leider reduzieren sie hierdurch aber auch die Magenschleimproduktion und erhöhen die Säureproduktion, wodurch sie vielen Betroffenen „auf den Magen schlagen“. Nachts sind die Magenschleimhäute weniger empfindlich, was die Beschwerdehäufigkeit mindert. Gerade bei tagtäglicher NSAID-Einnahme empfiehlt es sich zudem mit der Einnahme bis nach dem Essen zu warten, da aufgenommene Nahrung die Schleimhaut zusätzlich vor den sauren Wirkstoffen schützt.

Blutverdünner Für den Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern, wie etwa niedrig dosierter Acetylsalicylsäure zur Herzinfarktprophylaxe, gilt eine eigene Chronopharmakologie. Es gibt Hinweise, dass die Blutplättchen morgens vermehrt zur Aggregation neigen. Ursache scheint die geringere Aktivität der gerinnungshemmenden Faktoren zu sein, wodurch thrombotische Reaktionen verstärkt morgens ausgelöst werden. Empfehlenswert scheint deshalb hier die spätabendliche oder wirklich frühmorgendliche Einnahme von niedrig dosiertem ASS.

Niedrig-molekulares Heparin zeigte in seiner gerinnungshemmenden Wirkung eine deutliche Tageszeitabhängigkeit und war nach einmal morgendlicher Gabe geringer wirksam als nach einmal abendlicher subkutaner Injektion. Neuere Thrombozytenaggregationshemmer sind bisher leider nur unzureichend bis gar nicht unter chronopharmakologischen Gesichtspunkten untersucht worden.

Blutdruck und KHK Praktisch alle Funktionen des Herz-Kreislauf-Systems, seien es Blutdruck, Herzfrequenz, Schlagvolumen, Durchblutung, peripherer Widerstand, Barorezeptorreflex, Herzfrequenzvariabilität sowie EKGParameter, unterliegen einem 24-Stunden-Rhythmus. Beteiligt sind daran humorale sowie nervale Mechanismen. Bei der Regulation des Blutdrucksystems spielt das sympathische Nervensystem die Hauptrolle. Der Sympathikus weist deutliche tagesrhythmische Veränderungen auf. Die höchsten Werte erreichen Blutdruck und Herzfrequenz im Regelfall während des Tages.

Bei Gesunden und bei Patienten mit primärem Bluthochdruck kommt es zwischen 9 und 10 Uhr morgens zu einem Blutdruckgipfel. Mittags fällt der Blutdruck ab, vom Nachmittag bis zum Abend steigt er wieder an. In der Nacht fällt der Blutdruck bei Gesunden allerdings wieder um bis zu 15 Prozent ab (Dipper). Fehlt dieser nächtliche Blutdruckabfall, handelt es sich um einen „Non-Dipper“.

Diese Einteilung ist wichtig, weil Non-Dipper ein deutlich gesteigertes Risiko für Herz-Kreislauf- Folgeschäden aufweisen und entsprechend überwacht und behandelt werden müssen. Häufig leiden Non-Dipper unter einer sekundären Hypertonie, beispielsweise als Folge einer Nierenerkrankung. Ansonsten gilt: Das Tagesprofil des Gros der Bluthochdruckpatienten ist im Vergleich zu Gesunden sehr ähnlich, jedoch zu insgesamt höheren Blutdruckmittelwerten verschoben.

ACE-Hemmer, Beta-Blocker & Co. Die Behandlung des Bluthochdrucks sollte sich an den entsprechenden Tagesrhythmen orientieren, um eine optimale Wirkung zu erzielen. Untersuchungen konnten zeigen: Zwar ist die absolute blutdrucksenkende Wirkung nach morgendlicher oder abendlicher Gabe eines ACE-Hemmers (etwa Ramipril, Enalapril) identisch. Die abendliche Einnahme führte Druckabsenkung, teils bis in den hypotensiven Bereich, mit der Gefahr für einen Apoplex (Hirninfarkt).

BEISPIELE TAGESZEITABHÄNGIGER ARZNEIMITTELEINNAHME
Asthma bronchiale:
+ Lang wirksame Beta-2-Sympathomimetika/ Theophyllin abends bevorzugt geben (bei nächtlichem Asthma)
Magen-Darm-Ulkus:
+ H2-Blocker: wirksamer bei abendlicher Einnahme + Protonenpumpenhemmer (PPI): wirksamer bei morgendlicher Gabe
Schmerzen:
 
+ Lokalanästhesie Haut/Zahn am wirksamsten am frühen Nachmittag
+ Rheumatoide Arthritis: NSAID abends geben
+ Osteoarthritis: NSAID morgens geben
Bluthochdruck:
+ Blutdrucksenker im Regelfall morgens einnehmen (Dipper/Non-Dipper unterscheiden)
+ ACE-Hemmer/Kalziumkanalblocker abends zusätzlich bei Non-Dippern häufig sinnvoll. Lipidstoffwechsel:
+ CSE-Hemmer: wirksamer bei abendlicher Gabe

Bei Non-Dippern kann die abendliche Gabe eines ACE-Hemmers hingegen den nächtlichen Bluthochdruck durchaus sinnvoll normalisieren. Auch Kalziumkanalblocker vom Dihydropyridintyp (etwa Amlodipin, Isradipin) können den gestörten Blutdruckrhythmus von Non-Dippern normalisieren. Hier ist dann ebenfalls die abendliche Gabe effektiver. Betablocker senken vor allem den Tagesbluthochdruck, da sie den am Tag erhöhten Sympathikustonus beeinflussen, so dass die morgendliche Gabe im Regelfall sinnvoller ist.

Nachts lässt sich mit Betablockern bei Non-Dippern kaum eine Blutdrucksenkung erreichen. Die abendliche Gabe eines langwirkenden Beta-Blockers könnte allerdings wiederum für Patienten von Bedeutung sein, bei denen ein schneller morgendlicher Anstieg in der Herzfrequenz zu tachykarden Rhythmusstörungen führt. AT1-Antagonisten (Sartane, etwa Valsartan, Losartan) hingegen erhalten unabhängig von der Einnahmezeit das normale 24-Stunden-Profil des Blutdrucks. Weniger gut untersucht ist die Wirkung der Diuretika. Sie scheinen aber tags und nachts in gleichem Maße wirksam zu sein.

In der Therapie der Angina pectoris hat sich Propranolol als Beta-Adrenozeptor-Antagonist am effektivsten erwiesen, wenn es als morgendliche Einmaldosis gegen 8 Uhr gegeben wird. Bei der koronarspastischen Angina pectoris (Prinzmetal Angina pectoris) hat es sich als ebenso günstig erwiesen, Diltiazem am Morgen zu verabreichen.

Seelische Erkrankungen Auch zentralnervöse und psychische Funktionen unterliegen ausgeprägten tagesrhythmischen Schwankungen. Interessanterweise scheinen bei depressiven Patienten zirkadiane Rhythmen wie Körpertemperatur, der REM-Schlaf oder die Kortisolausschüttung phasenverschoben zu sein. Bis zu 80 Prozent aller unter Depressionen Leidenden haben Schlafstörungen. Viele Betroffene schlafen zwar in den frühen Morgenstunden gut oder verschlafen sogar den ganzen Vormittag, aber sie können keinen erholsamen Schlaf in der Nacht finden, weil das Einschlafen gestört ist und die Architektur des Schlafes nicht die Qualität aufweist, die ein erfrischtes und aktives Aufwachen garantiert.

Kurzfristig kann die Depressionen meist eine Phasenvorverschiebung des Schlaf-Wach-Zyklus und partieller Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte bessern. Es konnte gezeigt werden, dass Pharmaka, die zur Therapie depressiver Erkrankungen angewandt werden, wie Lithium, Monoaminooxidasehemmer und trizyklische Antidepressiva, Veränderungen im zirkadianen Rhythmus an Rezeptoren im Gehirn bewirken. Chronopharmakologische Befunde belegen zudem, dass die Einnahme von fünf Milligramm Diazepam um 9.30 morgens signifikant höhere Plasmakonzentrationen bewirkt als die Einnahme der gleichen Dosis abends um 21.30 Uhr. Der sedierende Effekt war am Morgen dementsprechend wesentlich ausgeprägter als am Abend!

Statine Sie sind stärker wirksam, wenn sie abends eingenommen werden, da die körpereigene Cholesterolsynthese um Mitternacht einen Höhepunkt erreicht und durch sie die LDL-Synthese in der Leber dann optimal gehemmt wird. Diese Empfehlung abendlicher Einnahme sprechen mittlerweile auch alle Arzneimittelhersteller von Statinen aus.

Zytostatika: Bessere Heilungsquote möglich Die therapeutische Anwendung von Zytostatika, die bekanntlich die Aufgabe haben die Mitoserate, die Zellteilung, herabzusetzen beziehungsweise zu verhindern, ist durch die hohe Toxizität der Wirkstoffe begrenzt.

ZUSATZINFORMATIONEN
In zahlreichen tierexperimentellen Untersuchungen und mittlerweile auch einigen Studien beim Menschen konnte aufgezeigt werden, dass die Gabe von Zytostatika nach chronopharmakologischen Gesichtspunkten nicht nur deren unerwünschte Wirkungen vermindert, und damit die Lebensqualität der Betroffenen verbessert. Zum Teil wurde sogar die Heilungsquote erhöht, eine Verlängerung der Überlebensrate bei Tumoren erreicht. Dabei wurden die entsprechenden Zytostatika nur zu bestimmten Tageszeiten gegeben oder eine unterschiedliche Dosierung zu verschiedenen Tageszeiten verabreicht.

Es scheint – gerade bei Zytostatika – oftmals entscheidend zu sein, welcher Wirkstoff wann eingesetzt wird! Die Infusion des zur Krebsbehandlung eingesetzten Zytostatikums Doxorubicin brachte beispielsweise günstigere Ergebnisse und wurde auch besser vertragen, wenn die maximale Infusionsrate in den frühen Morgenstunden (6.00 Uhr) lag. Die durch Doxorubicin häufig als schwere Nebenwirkung ausgelöste Neutropenie war bei der morgendlichen Gabe um etwa 43 Prozent geringer als bei Gabe um 17 Uhr.

Spiegelbildlich verhielt es sich beim gerne auch mit Doxorubicin in Kombination gegebenen Zytostatikum Cisplatin. Hier war die Nephrotoxizität (Giftigkeit an den Nieren) um etwa 25 Prozent niedriger bei Applikation um 17.00 Uhr gegenüber der morgendlichen Gabe. Auch das Cisplatin-bedingte Erbrechen war um 18 Uhr drastisch geringer. Mit den vorhandenen Möglichkeiten kann gerade die Nebenwirkung Emesis (Erbrechen) durch die Beigabe von Antiemetika heute aber gut eingedämmt werden. Denn bezüglich der Überlebenszeit konnte bei Cisplatin wiederum ein leichter Vorteil bei der morgendlichen Gabe beobachtet werden.

Und beim Zytostatikum 5-Fluoro-Uracil sollte nach bisherigen Erkenntnissen die maximale Infusionsrate gegen 4.00 Uhr nachts verlaufen, um biorhythmische Effekte therapeutisch auszunutzen.

Insgesamt weisen die bisher publizierten Studien darauf hin, dass die Chronotherapie mit Zytostatika – basierend auf der zugrundeliegenden Rhythmik in Genexpression, Desoxyribunuklein (DNA)-Synthese und Mitoserate des gesunden beziehungsweise Tumorgewebes – einen vielversprechenden Therapieansatz darstellt, um die Nebenwirkungen der Chemotherapie zu reduzieren, die Lebensqualität zu erhöhen und möglicherweise sogar die Überlebensrate der Betroffenen zu verbessern.

Zurzeit werden deshalb zahlreiche multizentrische Studien, europäische Studien, unter Leitung der EORTC (European Organisation for Research and Treatment of Cancer) durchgeführt, mit denen eine Chronotherapie mit Zytostatika bei verschiedenen Tumorerkrankungen mit einer konventionellen Therapie verglichen werden.

Resümee: Die Applikationszeit eines Arzneimittels in nicht retardierter Form spielt infolge der zirkadianen Beeinflussung der Pharmakokinetik nicht selten eine relevante Rolle für das Ausmaß seiner Wirkung und Nebenwirkungen. Im Interesse einer optimalen Arzneimitteltherapie sollte es ein Anliegen sein, die Zeit, die „inneren Uhren“ mit ihrer Bedeutung für die biomedizinische Forschung und die angewandte Chronopharmakologie in Zukunft noch stärkeren Eingang in eine „natürlichere“ Pharmakotherapie finden zu lassen.

Teil 1 finden Sie hier, zu Teil 2 kommen Sie hier.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 12/14 ab Seite 100.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin

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