Schmöker des Monats
ASTRID LINDGREN
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Ein Wort kurz vorweg: Haben Sie Kinder? Neffen, Nichten oder kleine Cousins? Dann haben Sie sicherlich auch einmal abends an deren Bett gesessen und Geschichten vorgelesen, die von Pippi Langstrumpf, dem stärksten Mädchen der Welt, von den Kindern aus Büllerbü, dem strohblonden Michel aus Lönneberga oder von Lotte aus der Krachmacherstraße handelten. Von Karlsson, der mittels eines eingebauten Propellers vom Dach fliegen konnte oder von Ronja, die sich als Räubertochter einen Namen machte. Alles, was Astrid Lindgren schrieb, wurde zum Bestseller. Dabei hatte sie es nie gelernt, nie eine Anleitung erhalten. Streng genommen besaß sie „nur“ einen Realschulabschluss, kam aus einer Bauernfamilie. Doch bereits ihre Schulaufsätze waren so gut, dass sie teilweise in der örtlichen Lokalzeitung veröffentlicht wurden.
Kindheit in BullerbüAstrid Ericsson wuchs in Vimmerby auf, einem kleinen Dorf in Schweden, in einem Bauernhaus, das haarsträubende Ähnlichkeit mit dem Nordhof, dem Mittelhof oder dem Südhof aufweist. Sie begann wegen ihrer guten Schulleistungen nach ihrem Abschluss ein Volontariat bei der oben erwähnten Lokalzeitung, sechzehn war sie da. Sie war die einzige Angestellte, ihr Chefredakteur gleichzeitig Inhaber und Verleger in Personalunion. Und ja, es geschah, was geschehen musste mit einem sexuell frustrierten Mann, der gerade in Scheidung lebte: Astrid wurde schwanger, vom Chef.
Nun könnte man meinen, dass ihr Leben von jetzt an vorgezeichnet war: Reinhard Blomberg wollte sie unbedingt heiraten, verlobte sich sogar mit ihr. Doch Astrid bekam ihr Kind Lars in einer speziellen Klinik für unverheiratete Mütter, gab es in eine dänische Pflegefamilie, verweigerte sich der Ehe mit Blomberg. Sie hatte wohl auch keine Lust, bereits mit 18 sieben Stiefkinder zu versorgen. Sie wollte arbeiten und über ihr Leben selbst bestimmten, was für diese Zeit – man schrieb das Jahr 1926 – sehr ungewöhnlich war. Es brach ihr das Herz, wenn sie von ihren Besuchen bei „Lasse“ zurückfahren musste, doch sie hielt eisern an ihrem Plan fest.
Selbstironie zeigt sich früh Die junge Frau Ericsson bekam eine Arbeit beim Schwedischen Automobilclub, ihr neuer Chef war ein gutaussehender blonder Mann namens Sture Lindgren und… ach, was soll ich sagen: „Der Büroleiter, verheiratet, 30 Jahre, hat entdeckt, was für ein unglaublich hinreißender Mensch ich in Wirklichkeit bin, und das zeigt sich in den schwachsinnigsten Äußerungen, die – wenn man sie nicht rechtzeitig bremst – ernsthafte Komplikationen mit sich bringen können“ schrieb sie in ihrer typischen selbstironischen Art. Als Lindgren geschieden ist, heiratete sie ihn, holte Lasse zu sich und bekam noch ein Kind, Tochter Karin. Als diese krank im Bett lag und sich von einer Maserninfektion erholte, erzählte sie ihr selbsterfundene Geschichten. Sie handelten von einem rothaarigen Mädchen, das lebt, wie es ihm gefällt und so unglaublich stark ist, dass es ein Pferd heben kann. Das ohne Eltern in einem schwedischen Bauernhaus lebt, dafür aber mit einem kleinen Affen auf der Schulter. Karin nannte das Mädchen „Pippi Langstrumpf“, die Mutter schenkte ihr zum Geburtstag etliche Schreibmaschinenseiten, auf denen sie die Geschichten notiert hatte. Dieses Manuskript, diese „Ur-Pippi“, liegt heute im staatseigenen Archiv und bedeutete den Startschuss für eine unglaubliche Karriere. Denn Astrid Lindgren schickte es an einen Buchverlag. Der lehnte zwar ab, aber ein anderer griff zu.
Alles in Eigenregie Astrid verfasste ihre Kinderbücher am liebsten morgens im Bett, mit dem Stenoblock auf den Knien, denn sie hatte in ihrer zweiten Ausbildung als Sekretärin Kurzschrift gelernt. Das ermöglichte ihr ein atemberaubendes Tempo. Sie war so gut, dass ihr Verlag sie kurzerhand als Lektorin einstellte, sodass es zu der wohl einmaligen Situation kam, dass die Welterfolge, die sie produzierte, niemals ein offizielles Lektorat von innen gesehen hatten (auch die Korrekturen übernahm sie ganz allein). Lindgren revolutionierte die Kinderbuchliteratur und drückte ihr für alle Zeiten einen Stempel auf.
Denn Kindergeschichten, die waren bislang eher erbaulich gehalten und belehrender Natur, sparten nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Sie aber erzählt aus der Sicht des Kindes, Eltern und andere Erwachsene spielen in ihren Geschichten eine Nebenrolle. Es entstanden Kinderbuchklassiker am laufenden Band. In ihrem Spätwerk wagte sie sich auch an schwierige Themen, so zum Beispiel an die kindliche Auseinandersetzung mit dem Tod („Die Brüder Löwenherz“). Privat war Astrid Lindgren wohl ein glücklicher, in sich ruhender Mensch. Denn sie liebte die Einsamkeit, und als ihr Mann starb, schrieb sie „Ich mochte ihn richtig, richtig gern. Er hatte einen wunderbaren Humor und war nett, aber ich war nie in ihn verliebt…“ Sie suchte keinen neuen Gefährten. „Ich bin unendlich gern allein“, sagte sie.
„Noch nie fand ich einen Gesellschafter, der so gesellig war wie die Einsamkeit.“ Sie startete noch einmal durch, diesmal als politisch aktive Stimme. Das führte zum Amtsverlust eines Ministers, der sie nicht ernst genommen hatte. „Politik“, formulierte sie daraufhin mit beißendem Spott, „ist viel zu wichtig, um den Politikern überlassen zu werden.“ Der nächste Ministerpräsident machte diesen Fehler nicht, suchte sie in ihrer Wohnung in der Stockholmer Innenstadt auf, wo sie ihm die Leviten las. Seine Bodyguards berichteten später, dass sie ihm hinterher die Wange „wie einem kleinen Jungen tätschelte“.
Nation in SchockstarreNach ihrem Tod, der sie 2002 94-jährig ereilte, verfiel Schweden in eine nationale Trauer. Ihre Beisetzung erfolgte am Weltfrauentag, die gesamte schwedische Regierung war anwesend und auch die königliche Familie. Einhunderttausend ganz normale Schweden säumten die Straßen, als der Sarg in den Stockholmer Dom gebracht wurde. Sie erhielt ein eigenes Archiv in der zum Weltkulturerbe gehörenden Königlichen Bibliothek von Stockholm (in der Jens Andersen für die Biografie fleißig recherchiert hat). Ihr selbst wäre der ganze Aufwand wohl ein wenig merkwürdig vorgekommen. In ihrem letzten großen Interview gab sie auf die Frage, ob sie sich mit Übersetzungen in 50 Sprachen wie eine Heilige fühle, zur Antwort: „Nein, warum sollte ich? Alles ist doch Eitelkeit und ein Jagen nach dem Wind. Und wir sind doch alle gleich, wir alle waren süße kleine Kinder, die groß geworden sind und sterben müssen. Was bedeutet es also, dass man in 50 Sprachen übersetzt ist…“
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/2021 ab Seite 124.
Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin
Jens Andersen Astrid Lindgren. Ihr Leben Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg Pantheon, 448 Seiten, 18 Euro ISBN: 978-3-570-55352-7