Interview mit Dr. Michael Binger
50 JAHRE ARZNEIMITTELGESETZ
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Was genau regelt das heutige Arzneimittelgesetz?
Zweckbestimmung des Arzneimittelgesetzes ist es, eine optimale Arzneimittelsicherheit zu verwirklichen und insbesondere für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel zu sorgen.
Vorschriften, die diesem zentralen Ziel dienen, regeln u. a. die Herstellung, die klinische Prüfung, die Abgabe, die Sicherung und Kontrolle der Qualität, die Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken sowie die Überwachung des Verkehrs mit Arzneimitteln. Zudem finden sich im AMG Straf- und Bußgeldvorschriften, um den Regelungen Nachdruck zu verleihen.
VITA
Dr. Michael Binger ist Apotheker und leitet im Hessischen Sozialministerium seit 1999 den Bereich Arzneimittel-, Apotheken-, Transfusions- und Betäubungsmittelwesen. Neben der Arzneimittelsicherheit gehören arzneimittelrelevante Regelungen im SGB V zu seinen Schwerpunkten. Einer mehrjährigen Tätigkeit in der Pharmaindustrie gingen Forschungsaufenthalte in Boston und Cambridge voraus. Als Dozent im Pharmarecht ist er in der Ausbildung von Apothekern tätig. Seit 2010 ist er zudem Mitglied der HAB-Kommission.
Damit das Gesetz trotz des großen Umfangs übersichtlich bleibt, ist es in 18 Abschnitte und 144 Paragrafen untergliedert. Die Definition des wichtigen Arzneimittelbegriffs beispielsweise findet sich weit vorne im Gesetz. Die Definition ist bedeutend, weil damit die Anwendbarkeit des Gesetzes einhergeht. Nach § 2 AMG sind Arzneimittel in Anlehnung an Richtlinien der EG Stoffe oder Stoffzubereitungen, die entweder zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind. Oder sie sind dazu gedacht, physiologische Funktionen durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu stellen. Das klassische Schmerzmittel fällt damit genauso unter den Arzneimittelbegriff wie Blutkonserven, Stammzellpräparate und Gewebetransplantate.
Das Gesetz enthält auch Verbotsregelungen, etwa in §§ 5 und 8 AMG. Ausdrücklich untersagt ist es, bedenkliche Arzneimittel in Verkehr zu bringen. Bedenklich sind Arzneimittel mit negativem Nutzen-Risiko- Verhältnis. Ein Nutzen-Risiko-Verhältnis kann sich zum Beispiel im Verlauf eines Stufenplanverfahrens ändern. Verboten ist unter anderem zudem, Arzneimittel herzustellen und abzugeben, die durch Abweichung von den anerkannten pharmazeutischen Regeln in ihrer Qualität nicht unerheblich gemindert sind. Das ist schneller passiert als gedacht! Etwa, wenn eine Inkompatibilität in einer Rezeptur in der Apotheke nicht erkannt wird – wie beim „Klassiker“ Erythromycin kombiniert mit Salicylsäure.
Das Gesetz schreibt zudem in § 13 AMG eine Erlaubnis für solche Arzneimittel vor, die gewerbs- oder berufsmäßig hergestellt werden. Voraussetzung für die Erteilung sind insbesondere geeignete Räume und Einrichtungen. Zuständig für die Erteilung ist das örtlich zuständige Regierungspräsidium bzw. die Bezirks regierung, in Stadtstaaten auch die Ministerien. Die Erteilung der Herstellungserlaubnis ist unter anderem an das Vorhandensein einer sachkundigen Person geknüpft. Neben einem Hochschulstudium, zum Beispiel der Pharmazie, muss hierzu auch eine mindestens zweijährige praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Analytik in einem Betrieb mit Herstellungserlaubnis nachgewiesen werden.
Geregelt ist im AMG auch, dass Apotheken dann keine Erlaubnis brauchen, wenn die Herstellung im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs erfolgt und es sich nicht um sehr spezielle Arzneimittel wie beispielsweise Blutzubereitungen und Impfstoffe handelt. Wichtige Regelungen finden sich zudem im vierten Abschnitt des Gesetzes. Dort sind die Vorschriften für die Zulassung von Arzneimitteln gebündelt. Fertigarzneimittel dürfen nämlich nur dann in Verkehr gebracht werden, wenn das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte oder das Paul-Ehrlich-Institut Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels bestätigt haben.
Für bestimmte Arzneimittel ist ein zentrales Verfahren bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA, der European Medicines Agency, verpflichtend, etwa bei Zytostatika, Virustatika und Antidiabetika. Eine deutsche Besonderheit ist, dass Standardzulassungen des Bundesministeriums für Gesundheit bestimmte Arzneimittel, deren Unbedenklichkeit erwiesen ist, wie bestimmte arzneiliche Tees in Apotheken, von der Zulassung freigestellt sind. Explizit im Gesetz ausgenommen von der Zulassungspflicht sind Arzneimittel, die aufgrund häufiger Verordnung in einer Apotheke in einer Menge bis zu hundert abgabefertige Packungen an einem Tag für die eigenen Kunden hergestellt werden. Für Homöopathika genügt eine Registrierung. Das ist im fünften Abschnitt des AMG geregelt.
Ein weiterer Abschnitt im Gesetz ist dem Schutz des Menschen bei der klinischen Prüfung gewidmet. Dort ist auch geregelt, dass vor Beginn einer Studie die Zustimmung der zuständigen Bundesoberbehörde und der Ethikkommission eingeholt werden muss. Die Kommission wägt ab, ob die klinische Prüfung aus ethischer, medizinischer und juristischer Sicht vertretbar ist. Eine umfassende Aufklärung der Teilnehmer über die Studie und die möglichen Risiken ist zwingend vorgeschrieben. Für Minderjährige gelten zudem spezielle Regelungen.
Auch die Vorschriften im Arzneimittelgesetz zur Verschreibungspflicht und die entsprechende Ausführungsvorschrift, die so genannte Arzneimittelverschreibungsverordnung, dienen dem Schutz des Verbrauchers. In der Verordnung finden sich nebst detaillierten Regelungen zur Form erfordernis der Verschreibung eine Liste, welche Stoffe und Zubereitungen der ärztlichen Kontrolle vorbehalten sind, um Gefahren durch eine Selbstmedikation auszuschließen.
Die Liste kann auch im Apothekenalltag hilfreich sein. Zink zur oralen Anwendung in Tagesdosen über 25 Milligramm ist beispielsweise verschreibungspflichtig und darf nicht auf Kundenwunsch oder Verordnung eines Heilpraktikers abgegeben werden. Auch das korrekte Vorgehen in einer Notsituation in der Apotheke ist in der Verordnung geregelt, etwa wenn ein Kunde ein verschreibungspflichtiges Mittel akut benötigt.
Der zehnte Abschnitt des AMG ist der Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken gewidmet. Apotheken sind ein wichtiger Teil dieses Risikoerfassungssystems. Die Apothekenbetriebsordnung legt zudem differenziert fest, welche Maßnahmen bei Arzneimittel risiken von Apotheken zu treffen sind. Zudem sehen die Berufsordnungen der Kammern eine Mitteilungspflicht an die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker vor. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Deshalb ist auch die vorbeugende Überwachung im Arzneimittelgesetz normiert.
Die Arzneimittelüberwachung dient der Risikovermeidung bzw. -minimierung. Sie umfasst insbesondere die regelmäßige Besichtigung von Betrieben, die berufsmäßig oder gewerblich mit Arzneimitteln umgehen – also auch Apotheken – die Untersuchung von Plan- und Verdachtsproben sowie die Überwachung von klinischen Prüfungen.
Last but not least möchte ich das Verbringungsverbot in § 73 AMG ansprechen. Grundsätzlich dürfen nämlich nur zugelassene Fertigarzneimittel in den Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes verbracht werden. Für Apotheken existiert im AMG gleichwohl eine Ausnahmeregelung. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, Ärzten und Verbrauchern den Zugang von in Deutschland nicht verkehrsfähigen Arzneimitteln in geringer Menge und auf besondere Bestellung über eine Apotheke aus dem Ausland in Ausnahmefällen zu ermöglichen. Voraussetzung ist jedoch, dass in Deutschland kein vergleichbares Arzneimittel zur Verfügung steht.
Wann ist das AMG erstmalig in Kraft getreten – und wie viele Neufassungen sowie Änderungen gibt es bislang?
Bis 1961 gab es in Deutschland keine umfassende gesetzliche Regelung des Verkehrs mit Arzneimitteln, obwohl bereits damals die meisten Arzneimittel industriell hergestellt wurden. Vielmehr waren die einschlägigen Vorschriften auf eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen verteilt. Lediglich im Apothekenbereich war die Herstellung von Arzneimitteln durch die noch nicht harmonisierten Apothekenbetriebsordnungen der Länder geregelt. Es fehlten jedoch Bestimmungen für die fabrikmäßige Herstellung und deren Überwachung. Niemand im Land hatte einen Überblick, welche Arzneimittel sich im Verkehr befanden. Selbst Mindestanforderungen an die Kennzeichnung von Fertigarzneimitteln waren nicht definiert. In Anbetracht der heutigen Regelungsdichte ist das kaum noch vorstellbar.
Diese Mängel wurden durch den Bund mit dem ersten Arzneimittelgesetz 1961 abgestellt. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus dem Grundgesetz Artikel 74 und umfasst neben dem Arzneimittelbereich auch das Recht des Apothekenwesens, der Medi zinprodukte, der Heilmittel, der Betäubungsmittel und der Gifte. Die Länder wirken über den Bundesrat an der Gesetz gebung mit. Mit dem vor fünfzig Jahren neu geschaffenen Arzneimittelgesetz wurde unter anderem eine Registrierungspflicht für Arzneispezialitäten eingeführt, um eine Marktübersicht zu erhalten. Von einer materiellen Prüfung wurde zunächst abgesehen, da man befürchtete, die Entwicklung neuer Präparate könnte behindert werden. Nachher ist man immer schlauer. Rückblickend betrachtet war das sicherlich eine gravierende Fehleinschätzung.
Gesetzlich festgeschrieben wurden auch die Notwendigkeit einer Herstellungserlaubnis und die Beschäftigung eines -leiters. Überraschend modern und losgelöst von den Begriffen wie Leiden und Krankheit fiel schon damals die Definition des Arzneimittelbegriffs aus, die bis zur Anpassung des deutschen Rechts an EU-Recht für Jahrzehnte weitestgehend unverändert blieb.
Noch im Jahr des Inkrafttretens des ersten AMG überschlugen sich jedoch die Ereignisse. Schwerwiegende Contergan®-Nebenwirkungen wurden bekannt und Forderungen nach einer Verbesserung der Arzneimittelsicherheit laut. Bereits 1964 wurden mit dem AMG-Änderungsgesetz deshalb für die Anmeldung neuer Stoffe umfassende Unterlagen über pharmakologisch-toxikologische und klinische Prüfungen gefordert. Mängel des geltenden Rechts, die dynamische Entwicklung des Arzneimittelwesens insgesamt, der pharmakologisch-medizinische Fortschritt und ein sich wandelndes Verbraucherverhalten sowie die Angleichung an internationale Rechtsvorschriften machten gut eine Dekade später eine grundlegende Neuordnung des Arzneimittelrechts zwingend erforderlich.
Zweck des neuen Arzneimittelgesetzes sollte sein und ist es bis heute geblieben, im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln zu sorgen. Die Neuordnung des Arzneimittelgesetzes trat nach intensiven Beratungen vor rund 35 Jahren in Kraft. Fünfzehn Novellierungen und ein Änderungsgesetz folgten bis heute. Alle dienten vornehmlich der Umsetzung von europäischem Recht, der weiteren Verbesserung der Arzneimittelsicherheit, der Eindämmung des -missbrauchs und der Beschleunigung der Nachzulassung lediglich registrierter Altpräparate. Entstanden ist so ein hoch komplexes Regelwerk, das für Human- und Tierarzneimittel gilt.
Welche Änderungen in 50 Jahren AMG zählen zu den wichtigsten?
Ich denke, ein Meilenstein war sicherlich das erste Arzneimittelgesetz mit der bereits erwähnten Einführung der Registrierungspflicht und der Einführung einer Herstellungserlaubnis. Weil damit der Grundstein für qualitativ hochwertige Arzneimittel gelegt und die Überwachung des Arzneimittelverkehrs erst ermöglicht wurde. Gleichwohl zeigte die Contergan ®-Katastrophe schonungslos Regelungsdefizite auf.
Deshalb halte ich die Einführung eines materiellen Zulassungsverfahrens mit der Neuordnung des AMG und die Notwendigkeit, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in klinischen Prüfungen sowie die Qualität zu belegen, für einen Quantensprung. Auch die kontinuierliche Erfassung von Arzneimittelrisiken durch den Stufenplan zur systematischen Beobachtung, Sammlung und Auswertung des Arzneimarkts würde ich den wichtigen Änderungen zuordnen. Denn diese Maßnahme trägt wesentlich zur fortlaufenden Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei.
Die Liste wichtiger Änderungen ist lang. Der Schutz des Menschen bei klinischen Prüfungen wurde ebenso verbessert wie die Informationen über Arzneimittelwirkungen. Die Liste der wichtigen Änderungen ist sicherlich nicht abschließend. Erwähnen möchte ich noch, dass Opfer eines Arzneimittelschadens seit der Neuordnung des Arzneimittelrechts auch dann einen Rechtsanspruch auf Entschädigung haben, wenn ein schuldhaftes Verhalten weder im Verantwortungsbereich des Herstellers noch der Zulassungsbehörde liegt. Denn trotz aller Vorkehrungen sind Arzneimittelschäden nicht völlig auszuschließen.
Welche Institutionen sind mit dem AMG verknüpft?
Wenn man das AMG liest, stolpert man unweigerlich über die Formulierung „zuständige Behörde“. Und hier haben wir eine klare Trennung zwischen Bund und Ländern. Aufgaben der Bundesoberbehörden, also Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte und Paul-Ehrlich-Institut, sind vor allem die Erteilung von Zulassungen, die Genehmigung von klinischen Prüfungen sowie die Erfassung und Auswertung von Nebenwirkungsmeldungen einschließlich der Veranlassung von Maßnahmen zur Gefahrenabwehr.
Den obersten und höheren Landesgesundheitsbehörden, also Ministerien und Regierungspräsidien oder Bezirksregierungen, obliegen insbesondere die Durchführung der Überwachung der Hersteller, die Erlaubniserteilung und die Überwachung von klinischen Prüfungen. Sie sind auch in der Pflicht zu handeln, wenn es darum geht, qualitätsgeminderte Arzneimittel vom Markt zu nehmen. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die Arzneimitteluntersuchungsstellen der Länder, die regelmäßig Arzneimittelproben begutachten.
Dann gibt es noch die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten , eine Einrichtung in Bonn, die im Arzneimittelbereich eine koordinierende Rolle hat. Last but not least kann man auch die Ethik-Kommissionen, die klinische Prüfungen genehmigen müssen, als unabhängige Gremien zu den Institutionen hinzuzählen, die dazu beitragen, dass Arzneimittel heute ein Sicherheitsniveau haben, das in den vergangenen 50 Jahren nie höher war.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 08/11 ab Seite 84.
Das Interview führte Dr. Petra Kreuter, Redaktion