Psychologie in der Apotheke
WENN DIE LUST ZUR LAST WIRD
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Im Normalfall gilt Sex als eine der schönsten Nebensachen der Welt: Er macht glücklich, stärkt das Wohlbefinden, das Immunsystem sowie das Herz-Kreislauf-System und verbrennt zusätzlich auch noch Kalorien. Außerdem wird bei der sexuellen Handlung im Idealfall Nähe zwischen zwei Menschen hergestellt und deren Beziehung gestärkt. Man sollte meinen, dass es ein Zuviel an Sex gar nicht gibt – anders ist es jedoch bei Betroffenen mit Sexsucht, auch Hypersexualität genannt.
Sexualität außer Kontrolle Eine Hypersexualität entwickelt sich schleichend – mit Lust oder gar Liebe hat sie nichts zu tun. Während die Frequenz der Triebbefriedigung und somit die Abhängigkeit zunehmen, reduziert sich gleichzeitig die persönliche Freiheit. Meist verändert die Sexsucht auch die Persönlichkeit einer Person. Auf die intensiven Hochgefühle während der sexuellen Befriedigung folgen eine innere Leere, Selbstzweifel oder Langeweile, sodass Betroffene erneut eine sexuelle Aktivität wünschen. Die Hypersexualität stellt für Patienten eine enorme Belastung dar, denn ihr Leben wird von den Gedanken rund um das Thema Sex bestimmt. Die Sexualität hat den Stellenwert eines Zwangs übernommen: Betroffene suchen permanent nach dem nächsten sexuellen Kick, werden dadurch allerdings nicht befriedigt, sodass das Verlangen gleich wieder besteht. Typisch bei Sexsüchtigen sind eine erhöhte Promiskuität, Bindungsschwierigkeiten an einen Partner, exzessives Masturbieren sowie das Konsumieren von Pornografie bei jeder Gelegenheit (teilweise über mehrere Stunden täglich).
Häufig nehmen sexsüchtige Menschen die Dienstleistungen von Prostituierten wahr oder bieten ihren Körper selbst an. Sie verschulden sich, weil sie ohne Sex-Hotlines oder Bordellbesuche nicht mehr auskommen. Die Hypersexualität stellt ein Zwangsverhalten und/oder eine Impulskontrollstörung dar, zudem weist sie einige Parallelen zu einem klassischen Suchtverhalten auf. Menschen mit Hypersexualität sind nicht mehr in der Lage, ihr Sexualverhalten zu steuern. Sie vernachlässigen aufgrund der Störung ihre übrigen Interessen sowie ihr soziales Leben, um ihr sexuelles Verlangen zu befriedigen. Beziehungen und der Alltag leiden somit unter dem Zwangsverhalten, es kommt zu Problemen in der Partnerschaft bis hin zur sozialen Isolation. Meistens sind Männer von der Hypersexualität betroffen, was damit zusammenhängen kann, dass ihre Sexualität oft verlässlicher funktioniert als die der Frauen.
Ein ausschweifendes Liebesleben ist noch keine Sexsucht. Sexsüchtige können ihr Verhalten nicht mehr steuern.
Hypersexualität in der Geschichte Durch das Internet haben sexuelle Störungen vermutlich zugenommen, jedoch hat es die Sexsucht auch schon in früheren Zeiten gegeben. Messalina, die Gattin des römischen Kaisers Claudius, war für ihren unsittlichen Lebensstil bekannt und soll heimlich der Prostitution nachgegangen sein. Sie galt als kaiserliche Hure und war habgierig, sexbesessen und grausam. Bei Frauen bezeichnet man die Sexsucht daher bis heute auch als Messalina-Komplex. Ein krankhaft gesteigerter männlicher Geschlechtstrieb wurde früher in der Medizin und Psychologie auch Donjuanismus (nach Don Juan) genannt. Don Juan gilt in der europäischen Dichtung als Frauenheld und als der berühmteste Verführer der Theatergeschichte.
Als Krankheit anerkannt Im vergangenen Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Diagnose „zwanghaftes Sexualverhalten“ in den Katalog der Krankheiten für das ICD-11 aufgenommen. Die Diagnose ist dann angebracht, wenn Betroffene ihre intensiven, wiederkehrenden Sexualimpulse über längere Zeiträume nicht kontrollieren können und ihr Familien- und Arbeitsleben davon beeinflusst werden. Patienten können ihr Verhalten nicht mehr selbstständig und ohne Hilfe einstellen, beschäftigen sich permanent mit ihrer Sucht und haben die Kontrolle über ihr Verhalten verloren. Durch die offizielle Anerkennung können Ärzte und Psychologen die Behandlung in Zukunft leichter mit den Krankenkassen abrechnen und müssen keine Ersatzdiagnosen anwenden. (Das Klassifikationssystem ICD wurde erstmals nach 30 Jahren überarbeitet und soll ab 2022 als ICD-11 in Kraft treten)
Hinweise auf die Sucht Wissenschaftler der University of Cambridge verglichen die Hirnaktivität von Sexsüchtigen mit gesunden Probanden, wenn sie sich kurze Sport- und Pornovideos ansahen. Sie stellten fest, dass bei den Versuchsteilnehmern mit Hypersexualität die Regionen (Amygdala, das ventrale Striatum, der anteriore cinguläre Kortex) aktiv waren, die auch bei Drogensüchtigen relevant sind, wenn sie Bilder der Droge betrachteten. Die Autoren der Studie betonten allerdings auch, dass weitere Untersuchungen zwischen den Ähnlichkeiten von Drogen- und Sexsüchtigen erforderlich sind und weitgehende Schlüsse auf die Diagnostik auf der Basis dieser Studie nicht möglich sind.
Verschiedene Auslöser Die Ursachen einer Hypersexualität sind nicht abschließend geklärt. Erfahrungen aus der Kindheit oder Jugend, wie etwa eine übersexualisierte Atmosphäre im Elternhaus oder eine Tabuisierung von sexuellem Verhalten, spielen bei der Entstehung einer Sexsucht vermutlich eine Rolle. Auch neurobiologische Vorgänge im Belohnungszentrum des Gehirns fördern unter Umständen die Hypersexualität, sodass bei einigen Betroffenen Antidepressiva eingesetzt werden, welche die Libido senken. Manchmal dient die gesteigerte Sexualität auch dazu, Angst, Langeweile oder Gefühle der Niedergeschlagenheit zu mildern.
Insbesondere bei jüngeren Menschen kann die Hypersexualität als Nebenwirkung von Dopaminagonisten, die zur Behandlung der Parkinsonkrankheit eingesetzt werden, auftreten. Bei Personen mit einem Klüver-Bucy-Syndrom, einer beidseitigen Schädigung der Temporallappen (einschließlich der Amygdala), zeigt sich oft ein übersteigerter Sexualtrieb. Auch beim Kleine-Levin-Syndrom, einer seltenen Erkrankung, die sich durch teilweise wochenlang andauernde Schlafphasen kennzeichnet, kommt es in den Wachphasen mitunter zu einem hypersexuellen Verhalten.
Wege aus der Sucht Eine Psychotherapie ist bei Personen mit Sexsucht vielversprechend, denn Patienten erlernen Wege, das Verhalten besser zu kontrollieren. Es ist zusätzlich möglich, den Computer mit einer Filtersoftware auszustatten, um sexuellen Reizen zu entgehen. Betroffene erlernen außerdem, mit negativen Emotionen anders umzugehen und sie nicht durch sexuelle Befriedigung zu kompensieren. Sport oder Entspannungsübungen stellen beispielsweise hilfreiche Alternativen dar. Im Rahmen der Aufarbeitung verstehen Patienten die Gründe für die Entwicklung ihrer Symptomatik im Zusammenhang mit ihrer Biografie. Sie bauen Selbstvertrauen auf, erlangen Wissen über die Sucht und erlernen Methoden, die Verhaltensmuster zu durchbrechen und die Reize zu kanalisieren. Unterstützend können Betroffene sich einer Selbsthilfegruppe anschließen – als alleinige Maßnahme reicht dies jedoch nicht aus.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/2020 ab Seite 82.
Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie und Fachjournalistin