Woher weiß das Gehirn, dass zwei Aktivitäten zusammengehören?
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Kennen Sie das auch? Sie schauen sich im Kino den neuesten Sensationshit einer amerikanischen Hollywoodproduktion an. Da der Film in englischer Sprache gedreht wurde, ist er für unsere Kinos natürlich deutsch synchronisiert worden. In aller Regel bemerken Sie das beim Betrachten des Films aber gar nicht, die Schauspieler scheinen deutsch zu sprechen.
Nur ganz selten fällt auf, dass die Mundbewegungen gar nicht zu den gehörten Worten passen, etwa wenn die Sprache zeitlich stark versetzt zu den Lippenbewegungen eingesprochen wurde. Haben Sie sich dann auch gefragt, wie unser Gehirn es hinbekommt, die gesehenen englischen Lippenbewegungen als ursächlich für die gehörten deutschen Worte zu interpretieren? Diese Frage der audio-visuellen Integration, um die es hier geht, ist dabei noch deutlich komplizierter, als es sich in dem genannten Beispiel andeutet.
Denn selbst in dem Fall, wenn Sie einem leibhaftigen Sprecher gegenüberstehen, bei dem Lippenbewegungen und gesprochene Sprache zueinander passen, steht das Gehirn vor einer schwierigen Aufgabe: Es ist für das Gehirn nämlich alles andere als trivial, gesehene und gehörte Informationen, die von ein und demselben Ereignis ausgehen, auch eindeutig diesem Ereignis zuzuordnen. Das liegt daran, dass die entsprechenden Reize, Bild und Ton, zwar physikalisch gleichzeitig entstehen, ihre Verarbeitung in den verschiedenen sensorischen Systemen aber unterschiedlich schnell abläuft.
Drücken Sie einen Klingelknopf, dann löst der Ton, der Ihr Ohr erreicht, rund 30 Millisekunden später neuronale Aktivität in Ihrer Hörrinde im Gehirn aus. Die Bewegung des Schalters aber, die Sie mit Ihren Augen sehen, löst erst nach 60 bis 90 ms neuronale Antworten in Ihrer Sehrinde aus, benötigt also etwa zwei bis drei Mal so lange vom Sinnesorgan bis ins Gehirn. Offenbar hat das Gehirn gelernt, welche Zeitunterschiede in den Verarbeitungsgeschwindigkeiten der verschiedenen sensorischen Systeme existieren und kann die entsprechenden Nervenzellaktivitäten daher demselben Ereignis in der realen Welt zuordnen.
Dabei gibt es Toleranzen, sodass Töne und Bilder auch dann noch als gleichzeitig wahrgenommen werden, wenn sie das tatsächlich gar nicht mehr sind: 50 bis 100 ms dürfen die Reize auseinanderliegen, um vom Gehirn noch immer als „gleichzeitig“ empfunden werden zu können. Interessanterweise steigt diese zeitliche Toleranz, wenn dem Gehirn weitere Anhaltspunkte gegeben werden, dass die Reize doch zusammengehören müssten, obwohl sie zeitlich versetzt auftreten:
Stimuliert man mit Sequenzen von Reizen, die in den beiden Sinnessystemen dasselbe zeitliche Muster besitzen, so können die beiden Datenströme sogar bis zu 200 ms versetzt zueinander abgespielt werden, ehe das Gehirn die Ungleichzeitigkeit erkennt. Und so erklärt sich vermutlich auch unsere große Toleranz gegenüber mittelmäßigen Synchronisationen beim Film – aber das kennen Sie ja auch …
ZUR PERSON
Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de
Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg.
Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 07/14 auf Seite 12.
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